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Paulchen
Eigentlich heiße ich Paul – oder Paulchen. Glaube ich jedenfalls. So ganz sicher bin ich mir nicht. Manche beugen sich über den Kinderwagen und sagen „Ei-du-du-du!“ Vielleicht trage ich doch einen anderen Namen?
Nun glauben viele Erwachsene, Babys wären dumm. Nur weil wir nicht soviel reden wie die Frauen? Pahhh! Ich bekomme alles mit. Und das ist nicht immer von Vorteil. So mache ich mir ernsthaft Sorgen um meine Gesundheit. Wie oft geschieht es, dass mir ein mit Make-up verspachteltes Gesicht die Sonne nimmt und sich hinter den dicken Augengläsern die Pupillen weiten: „Ach, ist DER aber süß!“ hallt der meist weibliche Alt durch meinen Kinderwagen.
Das bereitet mir Sorgen. Habe ich nun Diabetes? Oder will man mir gar das Interesse für die Weiblichkeit absprechen? Das kann eigentlich nicht sein. Mein größtes Vergnügen ist doch das Knabbern am weiblichen Busen. Ich kann mir nicht vorstellen, dieses jemals in meinem weiteren Leben gegen ein Bierglas einzutauschen. Ich verstehe deshalb auch meinen Vater nicht. Es strömt ein männlich herber Duft durch meine Krippe, wenn er sich zu mir nieder beugt. Das also ist Pilsgeruch! Trotzdem! Ich bleibe beim Busen. Weich und warm! Dazwischen lässt sich herrlich das Köpfchen betten. Das ist überhaupt eine Idee, die ich mir für den Rest meines Lebens merken muss. Am weiblichen Busen einschlafen... Warum machen das die erwachsenen Männer eigentlich nicht...?
Natürlich reizen mich nicht alle weiblichen Wesen. Aber Anna – die reizt mich oft. Genaugenommen jedes Mal, wenn wir uns begegnen. Sie ist vielleicht zwei Jahre alt und – kaum kommt sie zu Besuch – stürmt sie auf meine Krippe zu, kriecht fast hinein und kneift mir in die Nase. Dann will sie mich auf den Arm nehmen oder mich mit Blumen, Bauklötzen oder Zeitungsausschnitten füttern. Frauen! Doch auch diese Begegnung ist für mich ein wichtiges Stück Lebenserfahrung. Ich werde mich – später – nie wieder mit Frauen beschäftigen, die älter sind als ich.
Einzig ihre Sprache macht Anna sympathisch. Sie bildete keine dieser endlos langen Schachtelsätze, sondern kommt schnell zum Kern. In ihrer Sprache lässt sie überflüssige Verben oder Adjektive weg, beschränkt sich auf einzelne Worte.. Gelegentlich verzichtet sie sogar auf einzelne Buchstaben in den Begriffen, mit denen sie mich pausenlos bewirft.
Wie angenehm war die Kleine in der Entbindungsstation im Bettchen nebenan. Ruhig, zurückhaltend, selten gab sie etwas von sich. Mit ihren niedlichen blauen Augen und den kurzen schwarzen Kringeln am Hinterkopf... Da kräuselt sich noch heute mein Nackenhaar, wenn ich an sie denke. Zu dumm, dass ich versäumte, mir ihre Adresse geben zu lassen. Vielleicht kreuzt Amor einmal den Wirkungskreis meines Sternzeichens und ich begegne ihr beim Kinderarzt, auf dem Spielplatz oder in der Abteilung für Kinderkonfektion. An der Rutsche bei McDoof würde ich sie direkt vorlassen...
Im Unterschied zu dem Kumpel zur rechten Hand. Der hat unentwegt Lärm veranstaltet. Entweder brüllte er sich die Seele aus dem Leib, weil ihm schon wieder einmal ein Projekt in die Hose gegangen war, oder er versuchte , wenn die Schwestern das Säuglingszimmer verlassen hatte, von seinen wundersamen Erlebnissen während der Schwangerschaft zu erzählen. Was der alles zu berichten wusste... also ich... ich werde nie so abfällig über meinen Papi sprechen, wenn er zu Besuch kommt.
Nun, mein Papi ist sowieso der Allerbeste. Man kann es sich kaum vorstellen, dass dieser kräftige Bursche mit seinen großen Pranken so zart auf meinem Rücken herumbollert, nur damit ich mein Bäuerchen mache. Und wenn der Blopp wieder ans Tageslicht gekommen ist, freuen sich alle Umstehenden riesig. Ich fand es ungerecht Papi gegenüber, dass meine Mami ihn nicht lobte, sondern sogar böse war, als er neulicht einen kräftigen Blopp in die Freiheit entließ. Anscheinend gibt es Unterschiede zwischen den Eltern und mir, die ich noch nicht alle kenne.
Der Opa, dass ist ein fröhlicher Geselle. Den liebe ich besonders. Der ist immer lustig, erzählt mir Lachgeschichten, und das allerschönste ist: er sieht so ähnlich aus wie ich. Wir haben beide kaum Haare auf dem Kopf, ein rotes, rundes Gesicht und immer etwas an den Mundwinkeln hängen.
Anscheinend hat aber außer mir noch keiner diese Ähnlichkeit bemerkt. Tante Ilka, bei der ich so herrlich am Pferdeschwanz ziehen kann, behauptet sogar stets: „Aaaach! Der Kleine kommt aber ganz der Mutter nach!“ Nein, ist die einfältig. Nie will ich ein Mädchen werden. Dann könnte ich, einmal von den Windeln befreit, nicht im hohen Bogen Pipi machen. Das ist vielleicht lustig. Da werden alle Erwachsenen, die sich in meiner Nähe befinden, verdammt schnell. Und Tante Ilka traut sich schon gar nicht mehr in meine Reichweite, nachdem ich einmal ihr Decollete angesteuert habe.
Dabei hätte ich viel lieber Tante Barthel in den Busen gepinkelt. Die nervt echt. Eigentlich ist sie ja gar keine Tante, sondern nur die Frau vom Hausmeister. „Ach, mein Kleiner, komm doch einmal zu Tante Barthel auf den Arm.“ Und dann folgt ein chemischer Giftgasangriff, wenn sie sich mit ihrer Parfümwolke nähert. Immer wieder wehre ich mich dagegen mit Strampeln und Schreien, allerdings bisher erfolglos. Entweder heißt es „er fremdelt“ oder Frau Hausmeister versucht an meiner Windel zu riechen. Bei ihrer eigenen Duftwolke ist das ein völlig aussichtloses Unterfangen. Abgesehen davon finde ich diesen Brauch ohnehin eigenartig. Ich habe einmal gehört, dass Hunde diese Gepflogenheit auch üben und einander am Hintern schnuppern. Ob man das für das spätere Berufsleben benötigt?
Aufrichtig will ich mich über meinen Job in der Familie ja nicht beklagen. Für Essen und Trinken wird gesorgt. Ich bin der Einzige, der beim Autofahren ungestraft ein Nickerchen machen darf. Das klappt auch beim Spaziergang hervorragend. Wenn ich sanft durch die Parkanlagen geschaukelt werde, mir dabei die Sonne das Gesicht streichelt – einfach schön. Ich fürchte, nach der Kleinkindphase muss ich wohl viele Jahrzehnte warten, bis dieser Zustand wieder erreicht ist...
Wenn ich mich nachts einmal langweile, muss ich nur ein paar Laute von mir geben, schon ist jemand an meinem Bettchen und leistet mir Gesellschaft. Wenn ich etwas hartnäckiger bin, darf ich sogar in das große Bett auf den Platz zwischen Mami und Papi wechseln.
Das klappt auch, wenn ich beim Schlafengehen Widerstand zeige. Irgendwann geben meine Eltern auf und einer von beiden nimmt mich mit in das schöne weite Ehebett. Und Papi hat sich einmal verraten: „Wenn sich das zu einem Dauerzustand entwickelt, wird Paulchen nie ein kleines Geschwisterchen bekommen...“ Haaah! Ich wäre ja dumm, würde ich meine exponierte Position in dieser Familie freiwillig für eine Nachfolger aufgeben.
Ich finde es schön, so klein zu sein. Das möchte ich gerne bleiben. Auch wenn ich dafür den Brei manchmal mit meiner kleinen Zunge wieder aus dem Mund herausdrücken muss.
Nein! Ich will nie ein Paul werden. Ich möchte immer das Paulchen bleiben, oder... der kleine „Ei-du-du-du“.