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- 04.11.2011
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Paula
Diese Geschichte beginnt in der Hölle, vor ungefähr 1000 Jahren. Schon damals war alles so, wie man es sich vorstellt. Schreiende Seelen, gigantische Flammensäulen, die Hölle eben. Eine Sache jedoch war tatsächlich ein bisschen anders. Es war nämlich viel mehr los in der Hölle. Das lag daran, dass schon in die Hölle kam, wer nur die falsche Musik mochte oder seine Nachbarin dabei beobachtete, wie sie ihre Unterhosen zum Trocknen aufhängt. Diese old-school Hölle war also randvoll mit Fieslingen und Scharlatanen, die man in dieser Art heute noch quicklebendig im Supermarkt an der Kasse treffen kann. So leicht kommt man nämlich heute nicht mehr in die Hölle. (Vielleicht wären sie vergleichbar mit diesen unguten Gestalten, die nach ihrem Krempel kein Meindein auf das Supermarktkassenband legen.)
Eines Tages wurde es so voll, dass der Teufel entschied, dass sich was ändern musste:
»Okay, Leute, so geht das nicht.« quengelte der Teufel, während er sich durch eine Masse nackter Menschenleiber presste, aus der immer wieder Arme nach ihm schnappten, bis er endlich bei seiner Sekretärin angekommen war. »Ich kann diese Enge nicht mehr ertragen. Es kann doch nicht sein, dass hier unten so viel los ist. Und dabei ist erst Dienstag!«
Generell war er an diesem Tag nicht besonders gut drauf. Schon am Vormittag gab es Ärger mit den Feuerspendern und wie immer war Jörg, der sich eigentlich um solcherlei Lappalien kümmern sollte, nicht erreichbar, so dass sich der Teufel selbst mit den Untoten vom Feuer- und Brandstiftungskommando Südhölle, Abteilung für Zündelzeug und Feuerspender verständigen musste. Er hasste es, seine kostbare Zeit als Fürst der Unterwelt mit administrativem Kleinkram zu verbringen. Wofür hatte er denn jahrelang gefoltert und brandgeschatzt wie ein Berserker? Stattdessen wollte er jetzt viel lieber dem Chor der brennenden Jungfrauen lauschen oder auf seiner E-Gitarre üben. Heavy Metal direkt aus der Hölle war ein Exportschlager. (Noch nicht auf der Erde, aber weiter oben.)
»Jörg!« brüllte der Teufel mit seiner Höllenstimme, die - besser als jede Kaufhaussprechanlage – jeden Winkel der Hölle erreichte, „Jörg an die Vier Bitte, Jörg bitte!«
Jörg wollte sich gerade ein Stück vom trockenen Marmorkuchen abschneiden (ohne Schokoguss natürlich, der machte in der Hölle immer eine riesen Sauerei) als er ausgerufen wurde.
»Oh Mann, was will der Alte denn schon wieder?« sagte er, »Nie hat man hier mal seine Ruhe.«
»Och Jörgi, musst du schon wieder zum Teufel gehen?« fragte Inge, die nackte Höllendämonin mit den Schlangen auf dem Haupt und den brennenden Brustwarzen, die auf der anderen Seite des Tisches saß. Sie entzündete eine Zigarette an ihre linke Brust und rauchte mit finsterer Miene (Rauchen war hier überall erlaubt).
»Ich weiß, es ist die Hölle!« sagte Jörg, obwohl über solche Sprüche hier unten eigentlich keiner mehr lachen musste »aber wenn der Alte seinen schlechten Tag hat, dann hilft das alles nichts. Da muss ich dann einfach hin.«
Jörg ging durch die Hölle. Zu Fuß. Inge wohnte in Richtung der östlichen Vorhölle und in den Süden – natürlich wohnte der Teufel ganz unten – war es nicht weit. Zur Mittagszeit die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen wäre keine gute Idee gewesen. Dafür war Jörg schon zu lange hier unten. Außerdem stank es in der U-Bahn in letzter Zeit fürchterlich. Es gab wohl ein Problem mit der Feuerzufuhr. Stand wahrscheinlich auch irgendwo auf seiner Liste.
»Hi Boss«, sagte Jörg, nachdem er direkt an Renate, der sexy Sekretärin mit den feurigen Augen vorbei, in sein Büro gegangen war. »Was gibt’s?«
Der Teufel wollte sich gerade etwas Hochprozentiges (und leicht brennbares) einschenken, als er Jörg erblickte:
»Jörg, wo treibst du dich wieder rum? Du weißt, wir haben hier alle Hände voll zu tun.«
»Ja, ich war über’n Mittag bei Inge.«
»Das hier ist Zentralhölle Main-Kinzig. Wir sind nicht die spätrömische Luxushölle mit einem administrativen Apparat von viele Tausend verlorenen Seelen. Wenn’s hier brennt, dann musst du ran. Also, ich meine natürlich: wenn’s hier nicht brennt. Du weißt schon…«
»Ja, Boss«, sagte Jörg, »was gibt’s denn jetzt?«
»Okay, es sieht folgendermaßen aus«, der Teufel drehte seinen Menschenlederdrehstuhl herum und setzte sich lässig mit den Armen auf der Rückenlehne vor Jörg hin. Während er sprach tippte er mit dem linken Huf nervös auf dem Boden: »Es wird hier unten langsam zu voll. Wir können nur eine begrenzte Menge an Sündern aufnehmen. Ich habe mit den Chefs von einigen umliegenden Landkreishöllen gesprochen. Vor allem die vom fünften und vom siebten Kreis haben die gleichen Probleme: Zu viele Sünder, zu wenige Folterkammern und Brandschätze. Wir müssen was dagegen tun.«
»OK, und was?«
»Also, du hast doch bestimmt schon von meiner „höllischen Verbindung“ gehört, oder?«
Oh Schrott, dachte Jörg, jetzt fängt er wieder mit seinen bescheuerten Erfindungen an. Hatte er nichts gelernt aus der Totgeburt „Schlittschuhbahn“?
»Ja«, sagte Jörn, »von dieser Verbindung habe ich schon gehört, aber ich dachte, das wäre nur was für Rassisten oder so.«
»Quatsch, da können alle mitmachen. Ist eine super Sache.«
»Okay?«
»Sobald zwei Menschen diese Verbindung eingehen, dann teilen sie sich ihren Schmerz.«
»Äh…«
»Es ist eine Verbindung der Schmerzen.«
»Ja, aber das macht die Sache jetzt auch nicht klarer…«
»Wenn eine von zwei Personen, die eine höllische Verbindung eingegangen sind, Schmerz verspürt, dann wird dieses Schmerzereignis an die andere Person übertragen.« Der Teufel gestikulierte dabei wild mit beiden Händen und seinem fiesen Stachel. »Der Trick ist, dass der Schmerz dabei halbiert wird. Er ist nur noch halb so schlimm.«
»Wie bei Sensodyne?«
»Was?«
»Nichts.«
»Okay, also die Leute haben weniger Schmerzen, weil der Schmerz auf zwei Empfänger verteilt wird.«
»Ich verstehe nicht, was uns das bringen soll.«
»Ist doch ganz klar, das ist eine reine Buchungsangelegenheit!«
Jörg wusste, dass der Teufel, bevor er der Fürst der Finsternis (Main-Kinzig-Kreis) wurde, eine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann gemacht hatte und dass er deswegen gerne über Probleme der Verrechnung, Umbuchung und Haushaltsplanung nachdachte. Der Teufel (im seinen Gedanken nannte Jörg ihn Udo) stand auf:
»Und du weißt auch«, er war euphorisch, »dass in die Hölle kommt, wer einen hohen durchschnittlichen Schmerz verursacht hat.«
»Ähm, ja.«
»Und du weiß, dass da oben im Moment wilde Zeiten herrschen. Es wird gemordet und vergewaltigt, was das Zeug hält.«
»Ja.«
»Und dir ist klar, wie sich die Zulassungsvoraussetzungen für diesen Laden hier unten ergeben?«
»Hm.«
»Ich erklär’s dir: Wenn, sagen wir mal, der gute Heinrich einen Bauernjungen tritt, weil er ihm vor Hunger die Stiefel klauen wollte, und wenn er diesen Jungen dann später mit dem Schwert aufspießt, rein hypothetisch, dann sind das, … Moment … zweieinhalb … also das wäre dann ein Schmerz der Stärke 12,5, den Heinrich am Sack hätte. 2,5 für die Tritte und 10 für Kindsmord. Das bedeutet, bei einer Zulassungsbeschränkung von 8,3, wie wir sie diesen Monat haben, wäre Heinrich reif für die Hölle. Wenn der Bauernbursche aber in einer Verbindung wäre, dann hätten er und sein Partner je nur ein Schmerzlevel von 6,25 erreicht und der gute Heinrich würde vorerst oben bleiben. Spitze! Keine ewigen Wartezeiten mehr an den Höllenpforten, kein Gedrängel in der U-Bahn. Jörg? Das ist die Lösung! Alles eine Frage der Verbuchung.«
»Vollkommen klar, Chef. Aber es kommen doch nicht nur welche hier runter, die körperlichen Schmerz verursacht haben?«
»Statistisch gesehen haben zwei Drittel aller unserer „Kunden“ hier unten Schmerz verursacht, ob körperlichen oder nicht, spielt keine Rolle. Das letzte Drittel sind Diebe und Typen, die die falsche Musik hören. Trotzdem können wir durch meinen Verbindungstrick unseren Kundenkreis einschränken und diesen Teil der Hölle etwas elitärer gestalten. Nur die Besten landen bei uns, und so. Man muss ja mit der Zeit gehen.«
Jörg hatte schon nicht mehr richtig zugehört, sondern war im Geiste mit Inge, der feurigen (und in seiner Vorstellung nackten) Sekretärin beschäftigt.
»Jörg?
»Ja?«
»Ich mache dich zu meinem persönlichen Verbindungs-Beauftragten.«
»Oh…«
»Du bist dafür zuständig, so viele Menschen wie möglich hier runterzubringen, damit ich sie verbinden kann. Wir haben nur ein Problem.«
»Was denn?«
»Es funktioniert nur, wenn die Leute acht Jahre alt sind.«
»Warum?«
»Keine Ahnung. Elektrolyte?«
Sie einigten sich darauf, dass Jörg anhand von Listen und Tabellen (Udo mochte Listen und Tabellen) herausfinden sollte, wann mal wieder ein Kind gezeugt würde. Dann sollte er ganz dramatisch auftauchen und die Eltern durch Einschüchterung dazu bringen, das Kind im Alter von acht Jahren zu ihm zu bringen. (Udo war da total pingelig, obwohl Jörg merkte, dass es auch klappte, wenn er die Sache nicht ganz so ernst nahm.) Jörg hatte sich im Laufe der Zeit ein paar tolle Ticks angeeignet. Telekinese, Psychokinese und ausgefallene Kostüme gehörten zu seinem Repertoire. So ergab sich eine Praxis des Verbindens, die in den folgenden Tausend Jahren dafür sorgte, dass die Hölle (Main-Kinzig-Kreis) nie mehr überfüllt war und die Brandschutzbestimmungen immer eingehalten werden konnten. Hier ist ein Beispiel, aus einem Trainingshandbuch, welches Jörg für die Nachbardämonen aus dem siebten Höllenkreis verfasst hat:
*
Cathrin und Peter verließen die Hütte. Von innen war Partymusik zu hören. Es wurde langsam dunkel.
»Komm, wir gehen ein bisschen.«
»Okay!«
Sie waren beide angetrunken. Peter fragte nach ein paar Minuten:
»Seit wann gehst du eigentlich wieder auf Partys? Ich habe dich ewig nicht mehr gesehen.«
»Stimmt, war schon länger nicht mehr dabei. Brauchte erst mal ein bisschen Ruhe, nachdem ich nicht mehr mit Eric zusammen war.«
»Okay und jetzt ist alles wieder in Ordnung?«
»Ja, ist ja jetzt auch schon ein halbes Jahr her. Ich war viel unterwegs in letzter Zeit.«
Die beiden blieben stehen und sahen sich in die Augen. Cathrins Körper erzitterte beim Atmen. Sie war aufgeregt, weil sie mit Peter alleine war.
»Cool hier, oder?« sagte Peter, »Ich meine so in der Natur und so.«
»Ja, voll gut … mit dir?«
Zuerst reagierte Peter nicht, aber dann dachte er: Scheiss drauf, jetzt oder nie. Er ging einen Schritt auf sie zu und küsste sie.
Minuten später wanderten schon Hände unter Hemden, Knöpfe wurden geöffnet.
»Komm‘, wir gehen da drüben ein Stückchen in den Wald, da ist der Boden weich und wir können uns hinsetzen.«
»Okay, aber komm nicht auf dumme Gedanken, Junge.« sagte sie und lächelte.
»Ich doch nicht…«
Nach dem Sex zogen sie Ihre verschobenen Kleidungsstücke wieder zurecht und setzten sich nebeneinander hin.
»So was habe ich noch nie erlebt«, sagte sie, »du?«
»Du meinst im Freien?«
»Ja. Und ohne, dass es sich falsch anfühlt.«
»Stimmt.«
»Früher hätten wir ewig rumgelabert und so.«
»Da hatten wir auch noch keine Ahnung. Wenn alles stimmt, dann merkt man‘s. Warum dann noch lange rumlabern?«
»Tja.«
Sie sahen durch die letzte Reihe der Bäume zurück auf die in der Ferne liegende Hütte, deren gelbe Fenster schön aussahen vor dem dunkelblauen Abendhimmel. Peter mochte das Gefühl, nichts mehr sagen zu müssen sondern einfach mit ihr den Moment zu genießen. Die Stille war nicht unangenehm, sondern perfekt.
Als er Cathrin nach einer Weile fragen wollte, ob sie langsam zurückgehen sollten, streckte sie den Kopf etwas nach vorne und kniff die Augen zusammen.
»Was ist da los?«
Sie zeigte mit der Hand nach vorne. Sein Blick folgte der Geste und er sah, wie sich hinter einem Baum etwas bewegte. Da stand eindeutig jemand hinter dem Baum.
»Hau ab, du Spanner!« rief Cathrin und stand auf.
Der Schatten bewegte sich auf die beiden zu.
»Was…?«
Cathrin hielt ihre Hände vor Mund und Nase. Das war kein menschlicher Schatten. Cathrin stieß einen hohen Schrei aus und klammerte sich an Peters Arm.
»Was ist hier los?« rief Peter.
Die Gestalt blieb einige Meter vor den beiden stehen und starrte sie an. Das konnte kein Scherz ihrer blöden Freunde sein. Die Gestalt hatte zwar annähernd menschliche Form, doch keine Maske der Welt konnte ein menschliches Gesicht so aussehen lassen und kein Kostüm machte solche Beine und Arme aus menschlichen Gliedmaßen.
»Hau ab!« schrie Peter, doch noch immer reagierte die Gestalt nicht. Sie stand einfach nur da und sah die beiden an. Cathrin und Peter starrten zurück. Cathrin weinte vor Angst, obwohl die Kreatur sich nicht bedrohlich verhielt. Erst als Peter mutig einen Schritt nach vorne machen wollte, hob die Gestalt langsam den rechten Arm. Peter blieb erschrocken stehen. Das Ende des Arms zeigte auf Cathrins Bauch und die Gestalt sagte mit verstörender Stimme:
»Bringt das Kind wieder zu mir, wenn es acht Jahre alt ist.«
Die beiden spürten, dass die Gestalt eine Macht über sie hatte, der sie sich nicht wiedersetzen konnten. Sie waren gelähmt vor Angst und hörten die Worte wie ihre eigenen Gedanken. Dann senkte die Gestalt den Arm und verwarf ihr Gesicht zur schlimmsten Fratze, die die beiden jemals gesehen hatten. In Ihren Köpfen schrillte die Stimme der Gestalt wie eine Explosion und hinterließ tiefe Wunden. Die beiden brachen zusammen und konnten nicht mehr sehen, wie die Kreatur langsam zurück in den Schatten der Bäume lief.
*
Zuerst hatten Peter und Cathrin sich vorgespielt, ein normales Leben weiterführen zu können. Sie wollten die Sache vergessen, weil sie sie nicht erklären konnten. Sie hatten zu viel von dieser neuen Angst in sich, die immer dann aufkam, wenn sie über die Nacht sprachen oder nachdachten. Deswegen halfen sie sich gegenseitig, diesen Alptraum zu vergessen. Sie fanden wieder zurück in den Alltag, sprachen mit ihren Freunden, ärgerten sich über die Arbeit. Als Cathrin nach drei Wochen eines Abends nicht aus dem Badezimmer zurück ins Bett kam, stand Peter auf und ging ins Bad um nach ihr zu sehen. Er klopfte, doch sie reagierte nicht. Er öffnete die Tür, sah in Richtung der Toilette und der Anblick ihrer Augen riss in seinem Kopf die Wunde wieder auf. Der Schwangerschaftstest auf dem Fliesenboden zeigte ein positives Ergebnis.
Das einzige, was Peter in den folgenden neun Monaten von der Angst ablenkte, war der Wille, Cathrin zu helfen. Indem er ihr immer wieder die Ergebnisse der medizinischen Tests vorlas, die besagten, dass mit dem Kind alles in Ordnung sei, dass es gesund und normal zur Welt kommen würde. Indem er ihr jeden Tag erklärte, dass er immer bei ihr sein werde. Als es während der Geburt Komplikationen gab und Cathrin vor seinen Augen starb, war das Schreien der kleinen Paula für ihn nur ein Hintergrundgeräusch. Er konnte kein Vater sein.
*
Die Drogen hatten Peters Leben schon seit einiger Zeit im Griff. Cathrins Tod vor acht Jahren und die Talfahrt, der sein Leben seitdem glich, konnte er nicht anders ertragen. Er schlief in dreckigen Straßen, seine Kleidung stank nach Urin. Er dachte nur selten an seine Tochter und die andere Familie, in der sie jetzt aufwuchs.
Er hatte sich gerade vor dem Auslass der Lüftungsanlage eines China-Restaurants zusammengekauert, als er plötzlich ein Geräusch hörte. Zuerst dachte er, dass es die Bremsen eines alten Trucks wären, die vorne an der Hauptstraße quietschten. Doch als der schrille Ton andauerte, merkte Peter, dass es kein Truck war, sondern eher eine Sirene. Der Ton wurde stetig lauter und höher und plötzlich verschoben sich die Frequenzen, so dass Peter nun mehrere minimal unterschiedliche Töne hörte, fast wie ein ununterbrochener, schriller Schrei. Er presste sich die Hände an die Ohren doch der Horrorsound wurde nicht leiser.
»Das ist in meinem Kopf!« dachte er. Dann hörte er, wie sich die schrillen Töne plötzlich verformten.
»Iiiijaaa«
Es war fast, als würde das Geschrei Worte bilden. Obwohl die Töne noch unerträglich laut waren, konnte Peter jetzt eine Stimme ausmachen, die über die grauenhaften Klänge transportiert wurde.
»DIE ZEIT IST ABGELAUFEN! BRING ES ZU MIR!«
Peter sah auf und erblickte das Wesen aus dem Wald unmittelbar vor sich. Es bewegte die Lippen nicht, was die Begegnung noch beängstigender für ihn machte. Irgendwie konnte die Kreatur ihre Stimme direkt in Peters Kopf schicken.
»Was willst du von mir?« schrie Peter.
Plötzlich war das Geräusch weg. Peter erschrak, weil die Abwesenheit von Geräuschen nach dieser minutenlangen Tortur ein enormer Kontrast war.
»Was willst du…«
»Du weißt genau, was ich von euch will!«
»Aber« Cathrin ist…«
»Bring mir das Kind.«
»Ich habe es nicht. Es lebt nicht bei mir!«
»BRING MIR DAS KIND!«
Peter zitterte vor Angst und krümmte sich über dem Gitter der Lüftung zusammen.
»Was willst du mit ihr? Warum willst du Paula?«
»Ich habe euch das Kind gegeben aber es ist mein Kind. WO IST SIE?«
Das Wesen senkte den Kopf und ein brutaler Schmerz durchschoss Peters Körper. Er schrie und riss die Arme nach hinten.
»Aaahhh…OKAY! Ich bringe sie zu dir. Gib mir einen Tag.«
Der Schmerz ließ nach und Peter blickte in die Richtung, in der das Wesen gestanden hatte, doch jetzt war es nicht mehr da.
*
Das Splittern passte noch ziemlich gut in Bens Traum doch der Schrei weckte ihn auf. War das seine kleine Schwester, die da geschrien hatte? Als er aufgesprungen und in Paulas Zimmer gerannt war, sah er nur noch, wie die Gardine vom Wind aufgewirbelt wurde. Auf dem Boden lagen Glasscherben, seine Schwester war nicht mehr in ihrem Bett.
*
Paula hatte mal wieder ein Glas kaputt gemacht. Es stand zu nah am Rand des Tisches und als sie nach dem Messer greifen wollte, spürte sie diesen Schmerz in der Wange, zuckte mit dem Arm und das Glas flog vom Tisch. Phantomschmerzen, wie immer. Früher hatten die Ärzte noch versucht, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie erklärten ihren Adoptiveltern und später dann ihr selbst, was sie alles untersucht hätten, aber dass es keine medizinischen Gründe für die von ihr beschriebenen Schmerzen geben würde. Eigentlich hatte sie sich auch daran gewöhnt, denn es passierte nur selten und bisher war es nur lästig, aber nie richtig problematisch geworden. Ab und zu mal ein komisches Druckgefühl in den Beinen, ein schmerzender Punkt am Kopf oder eben ein Stich in der Wange oder am Hals. Doch in letzter Zeit passierte es häufiger und die Schmerzen wurden intensiver. Da ihr niemand sagen konnte, was es war und auch die Sitzungen auf der Couch ihr nicht weiter geholfen hatten, musste sie sich einfach damit abfinden. Nachdem sie die Splitter vom Glas aufgehoben und das Wasser aufgewischt hatte, setzte sie sich wieder hin und aß ihr Frühstück. Es würde ein langer Tag im Büro werden und danach wollte sie noch mit Jodie zum Sport.
Als sie auf die Straße trat, überraschte sie die für diese Jahreszeit warme Luft. Sie entschied, zur Arbeit zu laufen. Auf dem Weg ging sie durch den Park und lief an einigen Sitzbänken vorbei auf denen Leute saßen. Paula hörte hinter sich das Rascheln einer Zeitung und sie war nur ein paar Schritte weiter gelaufen, als sie die Stimme ganz nah an ihrem Ohr hörte:
»Geh einfach weiter, als wäre nichts.«
Sie spürte, wie er ihr etwas an die Hüfte drückte und als sie hinunter blickte, sah sie die Klinge im Sonnenlicht blitzen. Hilflos blickte sie sich um, doch es kam ihr niemand entgegen. Sie lief verängstigt weiter.
»Was wollen Sie?«
»Halts Maul und lauf!«
Sie verließen den Park und er drängte sie in eine Seitenstraße. Dort stieß er sie auf den Boden hinter einen Müllcontainer und sie sah ihn zum ersten Mal an. Sie kannte ihn nicht, hatte das Gesicht noch die gesehen.
»Wenn Sie Geld wollen, ich habe das hier…«
»Ich will dein Geld nicht! Hast du dich noch die gefragt, was mit dir ist? Hast du noch nicht bemerkt, dass mit dir was nicht stimmt? Die seltsamen Schmerzen, kennst du doch, oder?«
»Was meinen Sie? Woher wissen Sie…?«
»Ich weiß es, weil ich es auch habe! Vor zwei Jahren war was am linken Bein, hat verdammt wehgetan, erinnerst du dich? Und die Scheisse mit der Schulter? Was machst du, Tennis?«
»Ja, aber…«
»Und hast du nicht heute Morgen wieder was an der Backe gespürt? Ungefähr hier?«
Er deutete mit dem Finger auf einen kleinen getrockneten Blutfleck an seiner Wange.
»Ja, stimmt…«
»Beim Rasieren geschnitten! Ich suche dich schon lange. Ich kann das nicht mehr ertragen. Ich will, dass du mir erklärst, was mit mir los ist!«
»Ich habe keine Ahnung, ich wusste nicht, dass es noch andere gibt, die das auch haben, bitte, lassen Sie mich aufstehen und wir reden darüber.«
»Nein! Du verdammte Irre! Du hast irgendeine Psychoscheiße mit mir abgezogen, aber jetzt ist Schluss damit!«
Er zückte das Messer, doch Paula konnte aus ihrer sitzenden Position heraus mit dem Fuß an seinen Arm treten, so dass er das Messer fallen ließ. Als er sich bückte um das Messer wieder aufzuheben, trat sie ihm an den Kopf. Er taumelte und fiel hin. Als sie ihn am Kopf getroffen hatte, spürte sie den Schmerz auch. Er hatte also Recht. Sie sprang auf und stand nun über ihm, das Messer in der Hand:
»Hören Sie, wir können das bestimmt klären, ich…«
In diesem Moment setzte er zu einem Sprung an, doch kurz bevor seine Fäuste sie trafen, krümmte er sich zusammen. Auf seinem Gesicht stellte sich ein verzerrter Ausdruck ein und er wandte den Blick auf seinen Bauch, aus dem Paula gerade das blutüberströmte Messer herauszog. Er fiel nach hinten um, saß für einen Moment an der Wand gelehnt, bis er zur Seite wegkippte. Sie stand schockiert über ihm, trat einen Schritt zurück und ließ das Messer zu Boden fallen. Dann blickte sie an sich herunter und sah, dass ihr Oberteil sich mit Blut vollsog. Sie setzte sich langsam hin und drückte eine Hand auf die Wunde an ihrem eigenen Bauch. Die gleiche Wunde, die sie ihm zugefügt hatte. Während die Welt um sie herum immer blasser wurde, sah Paula, wie sich aus dem dunklen Bereich der Gasse ein großer Schatten langsam auf sie zubewegte. Sie erkannte die Umrisse. Es war das Ding aus dem Wald, in den sie gebracht wurde, als sie acht Jahre alt war.
MR 2011
(dritte, minimale Überarbeitung mit einem neuen Vorwort)