Mitglied
- Beitritt
- 22.09.2019
- Beiträge
- 9
Paul und der Kommerz
Paul lebte mit Michael seit 4 Jahren in einer Partnerschaft. Michael war schon sein ganzes Leben lang sparsam, konnte in der Firma, in der er arbeitete Karriere machen und hatte zwischenzeitlich schon ziemlich viel Geld auf dem Konto.
Paul war mehr ein Lebemensch, kleidete sich gerne gut und wusste jeden Monat, was er sich neues an Dingen anschaffen konnte. Inspiriert durch die Werbung auf Social Media Kanälen wie Instagram, sah er beispielsweise schöne Hosen, schöne Schuhe, schöne Geldbörsen, schöne Uhren und was auch immer ihn dazu ermutigte, online einzukaufen. Paul verdiente grundsätzlich auch nicht schlecht, aber viel von seinem Salär blieb ihm Ende des Monats nie übrig. Dabei war es sein grosser Wunsch, Michael und seinen Eltern auch finanziell mehr bieten zu können und ein Vermögen auf der Seite zu haben. Einfach so viel, dass er finanziell frei und unabhängig ist. Doch dieses Ziel rückte einfach nicht näher. Paul begann Videos auf YouTube anzusehen, die von Minimalismus handelten. Frei nach dem Motto „less is more“. Leider inspirierte ihn das aber weiterhin, Einkäufe zu tätigen. Er sah nämlich alle diese nett und schlicht eingerichteten Wohnungen dieser Minimalisten und kaufte mal eine neue Lampe, dann ein Sofa. Es war zum verzweifeln und Michael nervte sich. Auch wenn er von Paul’s gutem Geschmack ganz angetan war. Ganz böse konnte Michael Paul ja nie sein. Die zwei verstanden sich zwischenmenschlich einfach zu gut. Sie liebten sich und Michael hatte schon lange aufgehört, sich über die latente Kaufsucht von Paul aufzuregen. Inzwischen hatte Michael Paul schon dazu gebracht, dass er mit ihm sprach, bevor er sich was teures kaufte. So machte Paul zumindest nie Dummheiten und begann nicht, Dinge zu verstecken.
Eines Tages googelte Paul im Internet zum Thema „Kaufsucht“. Nachdem er in diesem Jahr zum fünften Mal sein finanzielles Sparziel im Budget anpassen musste, wollte er mehr über das Thema wissen. Bei seiner Internetrecherche fand er den Link zu einer Selbsthilfegruppe mit dem Titel: „Anonyme Kaufsüchtige“. Nicht gerade ein spektakulärer Titel, aber er las sich in das Thema „Kaufsucht“ ein. Grundsätzlich ging er nicht davon aus, dass er wirklich kaufsüchtig war. Kaufsüchtige können ihre Einkäufe kaum kontrollieren, machen kaum Preisvergleiche, sind in ihren Einkäufen sehr impulsiv, und so weiter, und Paul konnte sich noch kontrollieren, er liebte einfach schöne Dinge. Er kaufte auch nicht immer sofort und verglich immer die Preise, bevor er was kaufte. Grössere Anschaffungen besprach er immer mit Michael. Einkaufen war noch kein Zwang für ihn, sondern eher ein leichter Impuls, dem er nach längerem hin und her dann eventuell nachgab. „Leicht hat es mich also erwischt“; dachte er sich. Und genau das wollte er besser in den Griff bekommen. Also ging er einmal zu einem Treffen der anonymen Kaufsüchtigen in Zürich. Der Abend verlief ganz gut und Paul lernte relativ viel bei diesem Anlass. Paul sah ein, dass er ein Trophäen-Sammler ist, der immer das perfekte etwas sucht, will und dann eben auch kauft. Er will super aussehen und es einfach schön haben. Er will aber auch reich sein und viel Geld haben. Leider passte das nicht zusammen.
Paul hat 20 Kilos innerhalb von sechs Monaten abgenommen und wurde sportlich. Das war jetzt schon zwei Jahre her. Das heisst, er wurde viel attraktiver als er es zuvor jemals war. So fühlte er sich auch. Zudem kaufte ihm seine Mutter früher, als er noch zu Hause lebte, alle seine Kleider ein. Es war schwierig für Paul so seine eigene Stil-Identität zu finden und Autonomie zu wahren. Seit er mit Michael zusammen ist, änderte sich das schlagartig und er gibt grundsätzlich mehr Geld aus, weil er seine früheren Entbehrungen begann zu kompensieren, um sich endlich attraktiv zu fühlen und autonom in seinen Entscheidungen zu sein. Paul erzählte das alles Michael abends nach dem Treffen mit den anonymen Kaufsüchtigen. Und Michael sagte einfach nur eines: „Schatz, ich finde super, dass du das jetzt alles weisst, ich liebe dich, so wie du bist, du bist der schönste Mensch für mich und du siehst wirklich gut aus. Aber da du das jetzt alles erkannt hast, hoffe ich wirklich sehr, dass du die ganze Kauferei nicht mehr nötig hast.“ Paul lächelte, nickte, bedankte sich und sagte: „Ich liebe dich auch. Und weisst du was, ich werde jetzt endlich die Kohle sparen, die ich schon so lange sparen möchte. Ich weiss, ich schaffe das!“