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Patricia
»Anna Bloch, wann darf ich den nächsten Termin für Sie ausmachen?«, fragte SIARA fröhlich.
Anna hasste diese künstlichen Assistenten. Jedes Mal, wenn sie mit einem zu tun hatte, wünschte sie sich, sie wäre ein Jahrhundert früher geboren worden. 1960, das wäre wunderbar gewesen. Klar, damals war auch nicht alles perfekt, aber so schlimm wie hier konnte es gar nicht gewesen sein.
»Ich heiße jetzt Jicris«, murrte Anna.
»Oh«, das Hologrammgesicht lächelte. »Frisch verheiratet?«
»Frisch geschieden.«
»Oh.«
Anna seufzte, presste mit Daumen und Zeigefinger ihre Nasenwurzel, kniff die Augen zusammen.
»Nächsten Dienstag um vier«, sagte sie dann.
»Fein, Anna Jicris, Ihr nächster Termin ist am Dienstag um vier Uhr MEZ. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
Anna ging wortlos. Zu AIs unfreundlich zu sein, war nicht möglich. Sie waren alle darauf programmiert, jedes menschliche Verhalten zu tolerieren – man hatte aus den dystopischen Science-Fiction-Geschichten des 20. Jahrhunderts gelernt. Zumindest tat man so.
Nachdem Anna die Ordination ihres Therapeuten verlassen hatte, schlenderte sie gedankenverloren durch die Straßen. An allen Ecken blinkten Werbungen für neue Technologien, die das Leben noch einfacher, noch schneller oder noch aufregender gestalten sollten. Dinge, von denen man nicht wusste, dass man sie brauchte, bevor man sie gesehen hatte. Man musste alles Neue kaufen, denn jeder andere hatte es auch. Kaum war das Neue am Markt, war das Alte nutzlos und man war damit im Nachteil. Und niemanden störte das. Alle waren bereit, der Linie zu folgen, die ihnen vorgegeben wurde.
Anna wollte das alles nicht. Und sie verstand nicht, warum es anderen nicht auch so ging. Wacht auf, seht ihr nicht, dass ihr euer Leben verpfuscht?, wollte sie schreien. Seht ihr nicht, dass ihr auf die echte Welt vergesst? Selbst ihre Ehe war an der Technologie zerbrochen, respektive an ihrem Wunsch, mehr Realität in die Beziehung zu bringen. Sie wollte die echte Karibik sehen, nicht die VR-Karibik. Sie wollte echte Museen besuchen, echte Bücher lesen, echtes Fleisch essen, sich mit realen Menschen treffen. Sie wollte ganz einfach das wahre Leben spüren. Aber in dieser Welt schien das nicht mehr möglich. Jeder war faul geworden. Lustlos. Vielleicht war das das richtige Wort. Anna war sich nicht sicher – wie gesagt, sie verstand es nicht wirklich.
»Anna Jicris, willkommen zu Hause«, sagte SIARA, als Anna bei ihrer Wohnung ankam. »Ihren Fingerabdruck bitte.«
Ein Seufzer, dann legte sie ihren Daumen auf den Scanner und die Tür öffnete sich. Das war so etwas: Sie hasste SIARAs, hatte aber selbst eine, da sie sonst weder in ihre Wohnung käme, noch Einkäufe erledigen oder telefonieren könnte.
»Anna Jicris, es hat achtunddreißig Grad Außentemperatur. Ihr Health-Chip zeigt an, dass Sie heute noch nicht genügend Wasser zu sich genommen haben. Darf ich Ihnen ein Glas …«, Anna unterbrach.
»SIARA, stopp.«
»Ich habe Sie nicht verstanden. Darf ich Ihnen …«
»Stopp.«
Stille.
Endlich Stille.
Sie schenkte sich ein Glas Wasser ein, denn das konnte sie selbst. Müde und mit schweren Glieder ließ sie sich auf den Couchsessel fallen. Ohne echtes Interesse, strich sie mit ihrem Finger über die Touchskin an ihrem linken Unterarm, um ihre E-Mails zu checken. Werbung, Werbung, Werbung, eine Info von ihrem Chef, dass er am nächsten Tag bei einer Werbeveranstaltung für die Firma eine Rede halten würde. Und schon reichte es wieder.
Nun saß sie also da. Angewidert von der blassen, lustlosen Welt, in der sie leben musste. Und gelangweilt. Denn viel gab es nicht mehr, womit man sich analog die Zeit vertreiben konnte.
Sie schloss die Augen.
»Vielleicht kann ich dir ja helfen«, sagte eine Stimme aus dem Nichts.
Anna erschrak. SIARA hatte keinen Besuch gemeldet, was also war das?
»Ich war das«, und plötzlich stand ein junger blonder Mann vor ihr. Er war hübsch, aber irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Anna konnte nicht ausmachen, was an ihm eigenartig war, aber irgendetwas war da. Er lehnte lässig am Türrahmen, sah sie mit schnippischen Grinsen an.
Anna sprang auf. »Wer sind Sie? SIARA!« Keine Antwort, »SIARA!«
»SIARA kann dich nicht hören«, sagte der Blonde.
Dieses Grinsen. Es schauderte Anna.
»Das … das ist nicht möglich«, stammelte sie. »SIARA!«
Keine Antwort.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte der Blonde. »Für den Moment sind wir ganz unter uns, und das ist auch gut so.«
»Was wollen Sie?«
»Die Frage ist eher: Was willst du?«, sagte er. »Du hasst doch die Welt in der du lebst, oder?«
Kurze Stille.
Anna: »Woher…«
»Sagen wir einfach, ich kenne deine Gedanken.« Wieder dieses böse Grinsen.
Anna lachte auf. »Ach Blödsinn, jeder weiß, dass es solche Technologien nicht gibt. Davon sind wir Jahrhunderte entfernt.«
»Wer sagt, dass ich Technologie nutze?«
Anna verstand nicht, sie schüttelte den Kopf.
»Warum rede ich überhaupt mit Ihnen?«, fragte sie. »Raus hier, aber sofort!«
Der Blonde stieß sich mit dem Rücken vom Türrahmen ab, er war die Ruhe selbst. Und dieser Blick – als könnte er direkt durch sie hindurchsehen.
»Komm mit mir«, sagte er und der Raum begann zu schmelzen, legte eine neue Welt frei.
Anna stand im grellen Licht. Sie sah an sich hinunter, trug einen Blazer aus schwarzem Leder, am Bauch einen Gürtel, eine weite schwarze Hose. Als sie wieder aufsah, stand sie in einer Art Arena, die völlig leer war.
Sie sah sich verwirrt um. Wo war sie? Wo war der Blonde?
»Ich bin hier«, sagte er.
»Was soll das?«, fuhr sie ihn an. »Wo bin ich hier? Hast du mich in eine VR gezerrt?«
Er schüttelte den Kopf. »Keine VR. Das hier ist echt. Genieße es.«
Und dann war er weg.
»Was?«, rief Anna. »Was soll ich genießen? Was soll ich hier?«
Unter ihren Füßen erzitterte die Erde und hinter sich hörte sie eine Art Kriegsgeheule.
Als sie sich umdrehte war die Arena voller Menschen, und bei genauerem Hinschauen waren es keine Menschen sondern humanoide Wesen. Aber darüber konnte Anna jetzt nicht nachdenken. Sie starrte an, was direkt vor ihr stand. Eine Frau, mindestens vier Meter groß. Breite Schultern, goldschimmernde Haut, stechend blaue Augen, umrandet von dicken schwarzen Lidstrichen. Am Haupt trug sie eine Krone, die in Bronze schimmerte. Die Menge jubelte.
»Ach du Scheiße«, murmelte Anna.
»Du bist ja mickrig«, donnerte das goldene Wesen ohne den Mund zu bewegen. Es zuckte mit den Schultern. »Na gut.«
Ein Gong ertönte. Das Wesen holte aus. Aus einem Reflex sprang Anna, so hoch, wie sie noch nie gesprungen war. Die Faust verfehlte Anna, diese landete darauf. Mit kleinen, blitzschnellen Schritten trippelte sie den Riesenarm entlang, am Bizeps setzte sie erneut zum Sprung an, mit dem rechten Fuß voraus ins Gesicht der goldenen Frau. Diese taumelte nach hinten, Anna landete wieder fest am Boden.
Was war den nun passiert? Anna hatte keine Ahnung woher sie diese Reflexe hatte, aber auch keine Zeit darüber nachzudenken, denn die Riesenfrau holte erneut aus.
Mit zwei, drei Flickflacks entkam sie ihr, die Faust rammte sich mit voller Wucht in den steinernen Boden. Für einen kurzen Moment tauschten Anna und das Wesen einen Blick aus. Dann nahm Anna Anlauf, stieß sich vom Boden mit einer Kraft ab, als hätte sie Schubdüsen unter ihren Füßen. Mit einer umarmenden Bewegung bekam sie im Flug den Kopf des Wesens zu fassen, klammerte sich fest. Sie schwang ihre Beine über die Schultern des Dings, den Rest ihres Körpers hinterher. Es macht ein lautes, knackendes Geräusch, die Menge hielt die Luft an, Anna ließ den Kopf los.
Sie landete auf allen Vieren. Vor ihr klappte das Wesen in sich zusammen. Die Krone donnerte zu Boden. Im Publikum herrschte Stille.
Anna stand auf, starrte verwirrt auf ihre Hände. »Wie …«
Dann toste das Publikum, und Anna brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass der Applaus ihr galt. Es überschwemmte sie mit Glückshormonen, sie riss die Arme in die Luft, ließ sich feiern, jubelte mit. Alles war so echt, sie spürte sich zum ersten Mal seit Jahren. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Anna genoß den Triumph, der nur ihr gehörte.
Und plötzlich wurde der Jubel immer leiser, immer dumpfer. Die Arena verschwamm, als hätte man Anna eine viel zu starke Brille auf die Nase gesetzt. Anna drehte sich wie wild im Kreis und suchte nach dem Grund und da stand er. Es war der Blonde.
»Bravo«, sagte er. »Ich bin beeindruckt, das war nicht übel.«
»Was ist das hier?«, brach sie heraus. Das Triumphgefühl war wie weggeblasen, die Verwirrung hatte binnen Sekunden wieder die Überhand übernommen.
»Etwas, das du nicht mehr kennst: Das wahre Leben.«
Ungläubig schüttelte Anna den Kopf. »Wer bist du?«
Der Blonde lächelte, aber dieses Mal war es ein freundliches Lächeln. Er trat an sie heran, strich mit dem Handrücken über ihr Gesicht, nahm dann ihre Hände in seine. »Ich bin deine Heilung, Patricia. Ich kann dir Welten zeigen, so viel realer als alles, was es bei dir daheim gibt. Ich kann dir Kräfte zeigen, die tief in dir schlummern, von denen du nie geahnt hättest, dass sie da sind. Das eben« er zeigte auf das verschwommene, goldgelbe Wesen »war nur ein Vorgeschmack.«
Anna riss die Augen auf, sich von ihm los »Patricia? Ich … ich heiße Anna.«
Er schüttelte den Kopf. »In deiner Welt vielleicht. Aber dein richtiger Name, dein wirklicher Name ist Patricia.«
Anna war das alles zu viel. Sie musste sich erst mal setzen und ließ sich auf den staubigen Boden der Arena nieder. Ja, sie hatte sich immer gewünscht, aus ihrer Welt ausbrechen zu können, aber das hatte sie doch metaphorisch gemeint. Wieso mussten Wünsche immer auf so bizarre Weise in Erfüllung gehen? Andere Welten? Geheime Kräfte? Patricia?
»Lass es mich dir zeigen«, sagte der Blonde. »Du musst nur ja sagen. Keine Brille, keine Pille. Nur ein Wort.«
Anna sah ihn verzweifelt an. Sie war gespalten. Sie wollte nicht wieder zurück in ihr altes Leben. Die letzten dreißig Minuten waren aufregender gewesen, als alles, was sie je erlebt hatte. Daheim würde sie niemand vermissen, SIARA war die einzige, die auf sie wartete. Aber … wer verließ schon gerne von einem Tag auf den nächsten das Vertraute, um sich blind in etwas Neues zu stürzen?
»Nun komm schon«, sagte der Blonde. »Du hast noch so viel Leben vor dir. Willst du wegen ein wenig Angst den Rest davon frustriert verbringen?«
»Wenn ich ja sage, kann ich dann nie wieder zurück?«
Der Blonde lächelte. »Nein, du musst nie wieder zurück. Deine Existenz dort wird ausgelöscht. Du wirst frei sein.«
Frei sein.
»Du musst dich noch nicht endgültig entscheiden.«, sagte er. »Jetzt komm, lass uns gehen.«
»Wohin?«, fragte Anna.
»Ich zeige dir dein Schicksal.«
Und sie nahm seine Hand.
In einem hohen, grell beleuchteten Gang, der ins Unendliche zu laufen schien, fand sich Patricia wieder. Sie blinzelte, das Licht kitzelte sie. Dann, Schritte.
»Hörst du sie?«, fragte der Blonde, aber er war nicht da. »Die Lac, sie werden dich suchen, sei achtsam.«
»Wo bin ich hier?«, hauchte sie.
»Das ist Agilastuhl, eine Stadt, in der Realität lange vergessen ist. Hier sind die Antworten. Alle Antworten. Die Lac bewachen sie. Du darfst ihnen auf keinen Fall über den Weg laufen!«
Patricia ging los, ohne zu wissen, wo sie hin musste. Sie folgte einfach ihrem inneren Nordstern. Die Schritte der Lac hallten durch den Gang, ab und zu vernahm man ihre dunklen Stimmen, aber Patricia lief keinem über den Weg. Als wollten sie, dass sie es weiß. Das sie aufwacht. Sie wusste, sie musste aufwachen.
Und dann stand sie vor einer massiven Tür, einer Safetür, aus schwarzem Granit, so hoch wie ein Kirchenportal. Und hier war sie richtig, hier musste sie durch.
Aber wie?
»Hör in dich hinein«, sagte der Blonde, der neben Patricia stand. »Nutze deine Kraft.«
»Ich weiß nicht, wie«, sagte Patricia. »Bei diesem Monster in der Arena hat es einfach klick gemacht. Aber jetzt fühle ich es nicht. Es ist wieder wie weggeblasen.«
»Höre auf dein Bewusstsein für Realität. Nimm sie, verändere sie. Nutze sie.«
Patricia schloss die Augen, konzentrierte sich. Fokus auf die Vibrationen der Welt. Sie hob den Arm, die Erde begann zu beben, ein Riss tat sich auf im Granit. Sie rammte ihre gespreizten Finger in die Spalte und schob und schob, bis der Weg frei war.
Es war kalt. Aus dem Inneren strömten Eisnebel wie Tentakel, packten Patricia und rissen sie an sich. Der Granit verschluckte die sie, Patricia war Patricia war Patricia.
Sie sah ihr Schicksal.
Sie ist entstiegen in langen, blauen Gewändern aus den Sternen. Die Axt erhoben, wird sie die Grenze zwischen Licht und Dunkel verteidigen. Wenn die Feuer die Länder verschlungen haben. Wenn erst der letzte Baum sein Ende nimmt. Wenn Jatan kommt. Dann wird sie empor zu den Stürmen steigen und uns rächen. Denen die glauben, wird sie die Tore öffnen. Patricia, nicht von hier, aber von dort.
Patricia.
An unserer Seite.
Patricia.
Sie wird strahlen.
»Anna Jicris.«