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Patient G.
„Darum bitte ich dich, oh Herr! Amen!“
Der kleine grauhaarige Mann mit Bart verkroch sich in die Ecke. Er hämmerte seinen Kopf an die gepolsterte Wand hinter ihm.
„Verzeih mir, Herr, aber ich habe gesündigt!“
Schweiß lief ihm über die Stirn, sein Körper zitterte. Er hatte sich die Unterarme mit den Fingernägeln aufgekratzt.
„Mein Seelenheil suche ich in dir!“
Der Speichel tropfte ihm aus dem Mundwinkel, die Lippen waren abgekaut und rissig.
„Und keine anderen Götter neben dir!“
Ein unmenschlicher Schrei löste sich aus der Brust des Zusammengekauerten. Sekundenlang hielt er an, schrill und die Luft um ihn erzitterete. In einem Film wären die Fensterscheiben gesprungen, aber in seiner Zelle gab es keine, daher wusste er nicht, ob sie es wirklich getan hätten. Natürlich wusste er es. Aber so lang konnte er den Gedanken nicht festhalten.
Jemand pochte an die Wand. Seinen Nachbarn ging er auf die Nerven. Was wussten die schon?
„Und wenn ich nur ein Paar Fußstapfen sah, so waren es deine, denn du hast mich getragen!“
Der Grauhaarigen war in ein ein langes Kleidungsstück gehüllt, das wie ein Laken anmutete. Es mochte einmal weiß gewesen sein, jetzt jedoch zeigte es viele verschiedene Schattierungen, eingetrocknete Flecken von Erbrochenem, Schweiß und Urin waren darauf zu sehen, Blut hatte es an anderen Stellen krustig gemacht. Lange Risse zeigten einen ausgemergelten Körper darunter, an dem die kränklich graugelbe Haut herunterhing.
„Und erlöse uns von dem Bösen, dass wir in uns aufgenommen haben. Amen!“
Es stank in der Zelle, als ob es eine öffentliche Bedürfnisanstalt behinhaltete, man sollte meinen, dass die ganze Welt ihre Exkremente in sie hineinkatapultierte.
„Ich wollte es nicht tun, Herr, ich war nicht stark genug, der Versuchung zu widerstehen! Jede Nacht höre ich ihre Schreie, erlöse mich davon!“
Der alte Mann schlug sich mit beiden Fäusten gegen den Kopf. Er bohrte sich seine Finger in die Ohren, um die Stimme nicht mehr hören zu müssen. Vergebens.
Er öffnete einen kurzen Moment die Augen, sie waren blutunterlaufen und glänzten fiebrig.
„Aufhören! Aufhören! AUFHÖREN!“ schrie er wieder und wieder, immer und immer noch einmal, lauter und lauter.
Das Hämmern an die Wand wurde durch eines von der anderen Seite ergänzt.
„Halt endlich die Fresse darin und nimm es wie ein Mann! Bist ja nicht der einzige hier, der Probleme hat, oder?“
Da hatte die Stimme wohl recht.
„Tschuldigung!“ rief er zittrig zurück.
Draußen stapfte jemand vorbei, offenbar war der Vorfall nicht ernst genug, als dass er in die Zelle geschaut hätte. Er begnügte sich damit, mit einem Schlagstock gegen das vergitterte Fenster zu klopfen.
„Ruhig bleiben, Patient G. Sonst muss ich Sie ruhigstellen lassen!“
Der angesprochene krümmte sich zusammen. Er versuchte Ruhe zu finden.
„Und lass mich ruhig schlafen und meinen kranken Nachbarn auch!“
Er steckte den Daumen in den Mund und nuckelte eifrig daran. Als er sich dabei ertappte fuhr ein kurzer Schauer über sein Gesicht, einen winzigen Moment wirkte er friedlich, vielleicht gar belustigt.
„Ehre deinen Vater und deine Mutter!“
Aus der Zelle, die unter seiner lag, hörte er ein zufriedenes Brummen. Om. Ja genau. Die leichteren Fälle. Garnicht so lange her, dass er dort unten gewesen war. Aber sein Zustand verschlimmerte sich. Obwohl er selbst nicht müde wurde, zu sagen, dass es die Welt war, die sich verschlimmerte.
„Es sind die Menschen! Zuviele davon! Und es werden immer mehr! Und wenn man sich zu ihnen gesellt, dann wollen sie alle etwas von einem. Ihre ganzen Probleme überfluten mich. Ich habe garkeinen Ausweg mehr gesehen!“ hatte er dem Arzt gesagt, als der noch bereit gewesen war, mit ihm zu sprechen. Vor dem letzten Anfall. Inzwischen hatten sie ihm die Handfesseln wieder abgenommen. Er fühlte mit ihnen. Er hätte auch keine Lust auf sich gehabt. Warum sollten sie sich mit einem überflüssigen Relikt wie ihm abgeben?
„GOTT IST TOT!“
Der Patient kicherte. Nein, das stimmte nicht ganz. Und er besaß die Macht, das richtig zu stellen. Noch einmal würde er zu ihnen sprechen, würde die Wahrheit sprechen. Er räusperte sich und suchte nach den richtigen Worten, um zu antworten.
„Nein, Gott sitzt in der Klapse!“