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Passion to stay - eine Variation in Moll
Der kalte Wind blies ihr ins Gesicht und sie bereute es beinahe, vor dem gemeinsamen Frühstück mit Simon geflüchtet zu sein. Sie war viel zu früh unterwegs, ihre Arbeit begann erst in zwei Stunden. Doch sie konnte die Kälte, die zwischen ihnen herrschte, noch weniger ertragen als den Winter hier draußen. Sei’s drum, heute würde er zu einer Dienstreise aufbrechen und sie für ein paar Tage freier atmen lassen.
Sandra schlenderte an einer Reihe von Schaufenstern vorbei. Eine magere, blasse Frau spiegelte sich darin.
Um wenigstens ein bisschen an ihrer Fassade zu arbeiten, trat sie näher an die Glasscheibe eines Ladens heran und zog ihren Lippenstift nach. Ein Schild in der Auslage verkündete in großen Lettern: Neueröffnung - alles rund um Liebe und Liebelei.
‚Ach ne‘, dachte sie, ‚muss das sein, ein Sexshop hier direkt um die Ecke? Da hab ich ja nichts davon, schon allein wegen der Nachbarn. Wie peinlich wäre das denn, wenn die mich da reingehen sehen ...' Doch bei genauerem Hinsehen fand sie weder Dildos noch Pornos, sondern neben Gedichtbänden und CDs mit romantischer Musik kleine, in Schönschrift gestaltete Hinweisschilder. Darauf standen Sätze wie: 'Liebe für einen Nachmittag', 'Frühlingsliebe', 'Unser Angebot der Woche: Love to go', 'Und für die, die sich ganz sicher sind: Lebenslange Passion (Warnhinweis: Einnahme auf eigene Gefahr!)'.
Sie war neugierig, sie hatte Zeit und der Laden war trotz der frühen Stunde schon geöffnet – also trat sie ein. Beim Öffnen der Tür begannen Glöckchen melodisch zu klingeln und gleich darauf fand sie sich in einer Mischung aus Café, Buchladen und Apotheke wieder. Um runde Tische herum standen samtweiche, tiefe Sessel. Hohe Regale waren mit bunten Dosen und kunstvoll eingebundenen Büchern versehen. Daneben eine Ecke, die von einem großen Spiegel eingenommen wurde. Der zarte Duft von Orangenblüten streifte sie, von irgendwoher kam leise, anrührende Musik und ein Holzofen verbreitete wohlige Wärme. Gerade richtig für diesen kalten Februartag.
Sandra fühlte sich wohl wie lange nicht mehr. Während sie sich noch umschaute, kam eine junge Frau, etwa halb so alt, aber doppelt so hübsch wie sie selbst, auf sie zu:
„Herzlich willkommen, wie kann ich Ihnen helfen?“
„Guten Morgen, sie haben einen besonderen Laden - wirklich! Ich bin ein bisschen neugierig: Was bedeutet das Schild mit der Aufschrift lebenslange Passion? So etwas lässt sich doch wohl kaum kaufen?“
„Da haben Sie einerseits Recht. Vorhandene Neigungen lassen sich aber durch bestimmte Inhaltsstoffe gezielt fördern. Probieren Sie es aus: Sie essen einfach eine Süßigkeit, die unsere Spezialmischung enthält, und geben – ganz wichtig – auch ihrem Partner davon. Dem richtigen wohlgemerkt. Anschließend können Sie sich gemeinsam über die Wirkung freuen.“
„Die wäre?“
„Schwer zu beschreiben. Es ist ein bisschen mit dem vergleichbar, was die Bindung zwischen einer Frau und ihrem Neugeborenen festigt. Bei der Geburt, zusätzlich durch das Trinken des Babys an der Brust, werden ja dazu bestimmte Hormone ausgeschüttet. Unsere Präparate bewirken Ähnliches, allerdings hier für die erotische Anziehungskraft. Und ich kann Ihnen versichern, die Wirkung ist um ein Vielfaches stärker.“
Mit diesen Worten zeigte sie Sandra eine Pralinenschachtel.
„Die Mittel, die diesen Schokoladenkugeln zugesetzt sind, erzeugen eine äußerst starke Passion. Diese mit Liebe zu füllen, das bleibt natürlich Ihnen überlassen. Wenn Sie es probieren wollen, sehr gerne. Passen Sie dabei aber auf sich auf. Ungefährlich ist das nicht!“
Sandra ließ sich nicht abschrecken, sie hatte genug von den Halbheiten ihres Lebens. Und so stand sie kurz darauf wieder auf der Straße, mit der Schachtel in ihrer Hand.
Es war Mittwoch, mittwochs traf sie sich in der Pause mit Paul zum Essen. Paul, den sie seit der 7. Klasse kannte. Der Paul, der ihr bei jedem Umzug nach einer gescheiterten Liebe geholfen hatte. Der ewige Paul, dessen Haare zwar grauer und weniger geworden waren mit den Jahren, dessen Lachen aber offen und echt geblieben war. Klar war er das Beste an Mann, was ihr je begegnet war. Um ein perfektes Paar zu werden, fehlte ihnen nur noch eine Prise Leidenschaft. Aber vielleicht hielt sie die Lösung zu diesem Problem gerade in ihrer Hand? Einen Versuch war es wert!
Was hatte sie in den letzten Monaten nur bei Simon gehalten? Die Gewohnheit? Oder war sie tatsächlich so oberflächlich, dass es eine Rolle spielte, wie gut er aussah (Typ junger Robert Redford)? Dabei fühlte sie sich gar nicht als wirkliche Sandra in seiner Nähe, mit ihm an ihrer Seite war sie sich in den letzten Jahren selbst fremd geworden. Simon war kein schlechter Kerl, aber sie waren einfach zu unterschiedlich, um miteinander glücklich zu sein.
Den ganzen Vormittag wartete sie ungeduldig auf ihre Mittagspause. Oder richtiger: auf den Menschen, den sie von allen am meisten mochte, dem sie als einzigem bedingungslos vertraute. Paul war der, den sie lieben wollte, der sie lieben sollte. Sie würden gemeinsam die Schokobällchen essen und sich dabei anschauen. Happy End garantiert!
Doch als sie endlich im Bistro saß, ließ Paul auf sich warten. 10 Minuten, 20 Minuten ... . Sandra wurde nervös. Er war doch sonst so zuverlässig, doch selbst bei seinem Handy sprang nur die Mailbox an. Nach über einer Stunde gab sie enttäuscht auf und ging zurück in ihr Büro.
Die Pralinen hätte sie beinah auf dem Tisch vergessen.
Paul rief den ganzen Tag nicht zurück, obwohl sie ihn mehrfach über's Festnetz und per Mail zu erreichen versuchte. Und obwohl eine Freundin, die in seiner Nähe wohnte, abends Licht in seiner Wohnung sah.
Gegen 12 Uhr nachts kam dafür überraschend Simon zurück. Sie zog sich gerade im Bad um, als er die Haustüre öffnete. „Ich muss dir etwas sagen, das nicht mehr warten kann,“ rief er ihr zu. Und einen Moment später im Wohnzimmer, fast atemlos, sagte er leise: „Ich habe eine andere Frau kennengelernt. Es tut mir leid Sandra. Auch, dass das jetzt so plötzlich für dich kommt. Doch das ist die Frau, die ich heiraten werde, ich weiß es einfach.“
Nach dem ersten Erstaunen spürte sie eine Welle der Erleichterung, gemischt mit der leisen Trauer um verschwendete Jahre. Sie war dankbar dafür, dass er ihr die Trennung abnahm, es ihr so leicht machte. Keinen Tag länger hätte sie es an seiner Seite ausgehalten.
„Wenn du ehrlich bist Sandra, wir haben nie wirklich zueinander gepasst. Wir lachen nicht über dieselben Dinge, wir mögen nicht dieselben Bücher und wenn wir zusammen ins Kino gehen, sitzt einer von uns immer im falschen Film. Ich wusste nicht, dass es das gibt, aber mit Marina ist das alles ganz anders! Du warst doch auch nicht mehr glücklich mit uns, oder? Dabei bist du eine tolle Frau, echt. Ganz sicher findest du jemanden, der viel besser zu dir passt.“
In dem Moment, in dem er sich von ihr trennte, war Simon richtig nett.
Plötzlich schaute er sie irritiert an .„Du, das passt zwar gerade überhaupt nicht, aber wo hast du diese Schokobällchen her? Die schmecken total super, das Beste, was ich je gegessen habe!“
Sandra erschrak. Da sie nicht mit Simon gerechnet hatte, waren die Pralinen einfach im Flur liegengeblieben.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass Simon etwas im Mund hatte. Und dass er sie auf einmal wieder in der Art anschaute, die sie von früher kannte. Die sie mal so geliebt hatte. Es hatte auch gute Zeiten gegeben für sie beide, vielleicht waren die doch noch nicht vorbei? Paul, ihr Paul, hatte sie schließlich heute einfach so versetzt und sich danach nicht mal gemeldet. Die Jahre mit Simon mochten verschwendet gewesen sein, doch sie hatte immerhin jemanden gehabt. Einen, um den andere Frauen sie beneideten.
Hastig und ohne eine Sekunde darüber nachzudenken holte sie die Schachtel aus dem Flur und aß die restlichen drei Bällchen - während er, stockend und verwirrt um Worte ringend, weiter sprach.
„Sandra, ich weiß wie verrückt das klingt. Nachher gehe ich zu Marina, zu der Frau, mit der ich mein Leben verbringen werde, aber …“
Sie konnte seine Worte kaum noch verstehen, das rhythmische Rauschen ihres Herzschlages besiegte ihr Gehör. Er sah so unfassbar gut aus! Schon damals hatten ihm die Frauen hinterher geschaut. Und inzwischen war er noch attraktiver, seine Ausstrahlung noch erotischer geworden. Sie wollte ihn fühlen, berühren, seine Haut atmen, bei ihm sein. Nichts sonst auf der Welt.
„Sandra,“ er flüsterte es fast, „verzeih mir, ich brauche dich trotzdem, jetzt!“ Er begann sie zu küssen, zu streicheln. Griff ihr ins Haar, umfasste ihre Brüste und stöhnte leise und verzweifelt. Packte sie fester und kam in sie. Das erste Mal seit fast zwei Jahren.
Die tausendfachen Missverständnisse, die Streitigkeiten, Wellenlinien, die sich nicht berührten, all das verlor seine Bedeutung. Von den Fragen ihres Lebens war eine einzige wichtig: Dass er bei ihr blieb.
Simon ging.
Aber er behielt Sandras Haustürschlüssel.
Wochen später erfuhr Sandra von seiner Heirat, dennoch hoffte sie verzweifelt auf seinen Anruf, auf ein Zeichen, dass er sie nicht vergessen hatte. Ihr erster Gedanke am Morgen, der letzte von dem Einschlafen: Simon, seine Haut, seine Augen, sein Begehren. Und schließlich kam sie tatsächlich, die zeitweilige Erlösung:
„Ich möchte dich sehen. Heute Abend.“ Schon ihr Ja war völlige Hingabe, bedingungslos. Sie sehnte sich ihm entgegen, unendlich erleichtert, seine Stimme zu hören.
Simon betrat die Wohnung wortlos, schaute Sandra mit einem fast verzweifelten Blick an, zog sie aus und nahm sie. Früher hatte sie gelegentlich von ihm gehört, sie sei zu spröde, zu eigensinnig im Bett. Sie sage zu deutlich, was er zu tun und was zu lassen habe. Jetzt aber lag sie fremd-vertraut unter ihm, bereit zu allem. Er musste es nur verlangen. Und er verlangte.
„Morgen um 11 Uhr.“
„Simon, ich muss da arbeiten.“
„Ich habe nur vormittags Zeit, Marina ist dann beim Ultraschall. 11 Uhr, und ich möchte, dass du vorbereitet bist. Warte im Schlafzimmer. Mehr als eine Viertelstunde habe ich nicht.“
„Was meinst du?“
"Weißt du das noch, als ich dir mal meine Phantasien gebeichtet, mir etwas gewünscht habe von dir? Wie du mich ausgelacht hast deswegen? Sei nachher die, die das wieder gutmacht, sei endlich das für mich, was ich möchte."
Nicht nur an diesem Tag, sondern bei jedem einzelnen Treffen spielten nur seine, niemals ihre Wünsche eine Rolle. Sie spürte, dass er keine Liebe mehr für sie empfand, fast schien er sie zu verachten. Und die Sehnsucht, das Begehren, das ihn dennoch immer wieder zu ihr hinzog, machte ihn wütend. Manchmal erschrak sie über sich selbst, dass er mitten in diesem Gefühlschaos so grenzenlos über sie verfügen konnte. Doch das war unbedeutend im Vergleich zu der Angst, die sie jedesmal wie einen scharfen Stich spürte, wenn er sie verließ. Die anhielt, sie quälte und unbrauchbar machte für das Leben um sie herum. Bis zu dem Moment, an dem er für ein paar Augenblicke bei ihr war, sie ihn endlich wieder spüren durfte.
Er kam alle paar Tage, ließ die dunkleren seiner Phantasien an ihr aus, nahm sie und ging. Gegen Ende von Marinas Schwangerschaft jeden Tag. Manchmal verlangte er Dinge, die sich anfühlten, als wolle er sie für sein Hier-Sein bestrafen. Sandra nahm es hin. Es war gleichgültig, was er von ihr forderte oder was er mit ihr tat, solange er nur wiederkam. Alles konnte sie ertragen, alles, nur nicht seine Abwesenheit. Simon verstand es, ihre Furcht vor einem endgültigen Abschied zu verstärken. Denn die sorgte dafür, dass ihre Gedanken zwischen den Verabredungen vor allem darum kreisten, wie sie seine Wünsche noch besser erfüllen könnte.
Zunehmend fielen die Treffen in ihre Arbeitszeit.
"Frau Schwind, wir haben Ihren Fleiß und Ihre Zuverlässigkeit immer sehr geschätzt. Was, um Himmels willen, ist los mit Ihnen? Wo waren Sie bei der Besprechung vorhin? Sie haben bereits eine Abmahnung erhalten, dies ist Ihre letzte Chance: Wenn sie uns diesen Vertrag nicht bis Montag unterschriftsreif vorlegen, ist das heute ihr letzter Arbeitstag!"
Sandra schaute verlegen nach unten und antwortete leise: "Sie können sich auf mich verlassen, ganz bestimmt. Ich werde den Vertrag am Wochenende überarbeiten. Montag liegt er auf Ihrem Schreibtisch."
Aber Simons Frau war mit der Kleinen gerade an diesem Wochenende bei ihren Eltern und er erlaubte Sandra nicht, sich um etwas anderes als ihn zu kümmern.
Sie verlor ihren Job. Seither legte er ihr nach jedem Zusammensein mit einem fast unmerklichen Lächeln Geld auf den Küchentisch. Für die Miete.
Paul erzählte Sandra, dass er ihre Verabredung an jenem Mittwoch nicht hatte einhalten können, weil seine Mutter ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Es war nicht mehr wichtig, berührte sie nicht mehr. Paul, ihr bester Freund, ihr Seelenverwandter, erschien ihr inzwischen irgendwie unwirklich. Seine Worte erreichten sie nicht mehr, sie klangen nach einer fernen Erinnerung.
Mehrfach erschien sie nicht zu den Mittwochstreffen, weil Simon sie gerade dann zu sehen wünschte. Und als Pauls Mutter starb, tröstete sie ihn zwar, ließ ihn aber mitten in seinem verzweifelten Weinen allein.
Simon hatte ihr gesimst: ‚Komm!‘