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Pass auf was du dir wünschst
Mir war damals nicht klar, was ich mir da gewünscht hatte. Und die erste Zeit war auch wirklich hochinteressant und kurzweilig. Aber jetzt verfluche ich mich für meinen Wunsch. Und sie verfluche ich für dessen Gewährung und Erfüllung.
Ich stehe hier auf diesem wild überwucherten Hügel und schaue auf die Reste und Ruinen der Ewigen Stadt, in der ich seit zwei oder drei Jahren lebe. Vielleicht ziehe ich nächstes Jahr um. Südfrankreich soll auch schön sein. Ich lache bitter und in dem Busch vorne rechts erschrickt ein Vogel und flattert aufgeregt davon.
Ich lege meinen Bogen in das Gras, die Pfeile daneben, und betrachte dann wieder die verfallenen, von der Natur zurückeroberten Ruinen meiner Stadt.
Automatisch beginne ich, mir selbst wieder meine eigene Geschichte zu erzählen. Wie schon so sinnlos oft, um mir wenigstens die Fähigkeit des Sprechens zu bewahren. Oder um mich selbst zu ärgern, um meiner Wut über mich selbst Ausdruck zu verleihen?
Oder doch um zu verhindern, dass ich den Verstand verliere? Ich setze mich, nackt wie ich bin, neben Pfeil und Bogen und räuspere mich. Dann beginne ich schleppend zu reden, nuschle ein bisschen und muss mir manches Wort in meinem Kopf heraussuchen, um es vor dem Vergessen zu bewahren.
„Einst war ich ein kühner Wilderer, treffsicher, von keinem Stammesfürsten einzuschüchtern, keine Angst vor niemandem. Mein Revier war das Gebiet, welches viel später Kurpfalz genannt wurde.
Es war in einem der Jahre, während das Römische Reich seinen Rückzug antrat, dabei langsam zerfiel und die Völkerwanderung einsetzte. Ich lag in der abendlichen Dämmerung durstig auf der Lauer, um mir einen Hirsch zu schießen, als dieses pferdähnliche Wesen auftauchte.
Um es kurz zu machen, sie war ein Einhorn, die mir da vor den Pfeil gelaufen war, und sie sah mich zwischen den Büschen stehen, den Pfeil schon aufgelegt, den Bogen gespannt, sie selbst anvisiert. Ich war zu weit weg, als dass sie mich mit einem einzigen Sprung erreichen und aufspießen konnte. Also handelte sie mit mir um ihr Leben. Und schlussendlich räumte sie mir für ihr Leben einen Wunsch ein, den sie auch prompt erfüllte. Diesen einen, verfluchten Wunsch.
Tage später, als sie von einem anderen Jäger erlegt worden war, erfuhr ich, dass sie die letzte ihrer Art gewesen sein soll. Natürlich, was denn sonst.“
An dieser Stelle halte ich inne, grinse wie jedes Mal, weil ich das Klischee des letzten Einhorns selbst erlebt habe, als es noch kein Klischee war. Es ist nur über die Jahrhunderte zu einem geworden.
Nach einer kurzen Pause spreche ich weiter, tue so, als würde ich jemandem die Geschichte erzählen, vielleicht dem prächtigen Busch ein paar Meter weiter vorne rechts.
„In den folgenden Wochen kam mir langsam die Erkenntnis, was die Gewährung dieses Wunsches bedeutete. Ich war überglücklich, begann, ehrlicher Arbeit nachzugehen und ließ mir Zeit.
Viel Zeit, in der es mir gelang, ein wenig Geld zu sparen, es gewinnbringend anzulegen und wohlhabend zu werden. Manches Mal dachte ich, das Ende der Welt sei nahe. Denn es konnte ja nicht ewig so weitergehen und das Ende der Welt hätte meinen Spaß empfindlich trüben können. Ich zitterte und fürchtete mich. Zum Beispiel, als der erste Jahrtausendwechsel kam. Aber es passierte nichts. Damals nicht und auch später nicht. Das Ende der Welt kam nicht und ich freute mich meines Lebens, wurde endlich reich und immer reicher. Wenn man wohlhabend ist und Geduld hat, ist es nicht schwer, reich zu werden.
So lebte ich zu meinem Vergnügen, erlebte und überlebte so manches Abenteuer, ließ in meinem Leben nichts anbrennen.
Während der großen Pestepidemie in Europa, irgendwann in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, als ein Drittel der Bevölkerung starb, dachte ich, dass das Ende der Welt gekommen sei. Aber es kam nicht und ich dachte nie wieder daran. Auch nicht, als 2012 dieser Virus aus dem Nichts auftauchte und die Menschheit binnen Monaten dahin raffte.
Keine Nation der Welt konnte schnell genug reagieren, um den Virus aus ihrem Lande fern zu halten und sie starben alle. Die Zeit, die die Wissenschaftler hatten, reichte, um die Herkunft des Virus zu klären. Für die Entwicklung eines Gegenmittels war sie zu kurz. Ein zufällig oder durch Umwelteinflüsse mutierter, durch die Luft übertragbar Herpes-Stamm reichte aus, die intelligentesten Lebewesen auf diesem Planeten zu töten.
Seither denke ich jeden Tag an das Ende der Welt. Das war vor etwa vierhundert Jahren, aber ich weiß nicht, ob ich richtig mitgezählt habe.“
Ich merke, dass ich jetzt zu einem meiner Pfeile spreche, den ich mir irgendwie genommen haben muss und ihn zwischen meinen angezogenen, nackten Knien senkrecht vor mir hoch halte. Ich starre auf den Pfeil, einen Holzpfeil, wie ich ihn schon vor zweitausend Jahren selbst gemacht habe.
Irgendwann registriere ich, dass ich den Pfeil noch immer anstarre, lege ihn zu den anderen zurück und spreche weiter zu dem Busch da vorne rechts.
„Ich habe oft versucht, mich umzubringen, aber weder Hunger noch Durst, nicht Blutverlust noch der Sturz von einer Klippe konnten mich umbringen. Dafür waren die Schmerzen aber echt. Seither passe ich ein bisschen auf mich auf, vermeide Schmerzen und jage, um das Gefühl des Hungers zu vermeiden, auch wenn ich nicht verhungern kann.
Jedes Leben endet, nur für mich wird die Welt untergehen müssen. Aber die Welt wird erst untergehen, wenn die Sonne zu einem roten Riesen wird und die Erde verschlingt. So in ein paar Milliarden Jahren.
So lange werde ich warten müssen. Ganz allein. Oder es entwickelt sich doch noch eine intelligente Lebensform, mit der ich mich unterhalten kann. So in ein paar hunderttausend Jahren. Wenn ich dann meine Sprache noch nicht verloren habe und überhaupt noch reden kann.“
Ich stehe auf, nehme Pfeile und Bogen und gehe langsam los, will wieder runter in meine ewige Stadt. Vor dem grünen Busch da vorne rechts halte ich an.
Ich ermahne mich noch selbst laut und deutlich "Pass auf, was Du Dir wünschst, denn es könnte wahr werden." Dann brülle ich meine Wut hinaus, so laut es nur geht. „Hätte ich mir doch von dem Einhorn nur einen einzigen Becher Wasser gewünscht, statt des ewigen Lebens!“