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Paris, Welt, November 2015....
3.1.16
Paris, Welt, November 2015 und nicht nur dort
Von ‘Krot’
Das Konzert zum Beispiel ist nicht Paris. Aber es ist wirklich lustig. Ein riesiges Orchester fidelt und düdelt auf einem Platz in der Innenstadt. Die Musiker tragen Perücken und Kostüme und sehen absolut bescheuert aus. Aber sie spielen wirklich wunderbar. Klänge, die diese Stadt ausmachen, durch die sie in der ganzen Welt Berühmtheit erlangte, schallen durch die Gassen und verzaubern die Menschen. Heitere, entspannte Gesichter, wo man hinschaut. Als ein Tanzpaar, das in hellblau und zuckerlrosa gekleidet ist, auf der Bühne erscheint, wird es dir zu viel und du wendest dich ab, um nur mehr die Musik zu hören. Der Walzer erklingt und du siehst, wie er die Menschen umspült. Einen kleinen Buben, der die Hände seiner Mutter hält und sich glücklich zum Klang wiegt. Den Kuss auf die Wange der hübschen jungen Frau, die ihren glücklichen Verehrer mit einem Klaps versieht und ihm ihr wunderbares Lächeln schenkt. Ein älteres Paar, das einander verliebt anblickt. Er verbeugt sich tief und bittet um einen Tanz, den sie froh gewährt.
Die Tourísten sind ergriffen.Verblüfft siehst du, wie Gäste aus Japan aufhören zu fotografieren, jene aus Italien sehen davon ab zu schreien und die Leute aus Russland schauen zur Abwechslung mal nicht verbissen drein. Nur die Leute arabischer Herkunft können sich nicht benehmen. Eine kopftuchtragende Frau zeigt aufgeregt in die Menge und ruft ihrem Mann etwas zu. Du folgst dem ausgestreckten Arm der Frau und begegnest dem Blick eines dunklen Augenpaares. Er frisst sich in dem deinen fest und du spürst abgrundtiefen Hass dir entgegenschlagen. Der junge Mann steht einfach nur da. Er realisiert, dass er dir aufgefallen ist. Du schaust genauer hin und siehst, dass er eine sonderbare Jacke trägt. Viel zu dick für einen so warmen Tag. Du erstarrst. Im Hintergrund siehst du das arabische Paar laufen. Du willst dich umwenden und es ihnen gleichtun, aber ein enormer Blitz macht dir das unmöglich. Ein schweres Etwas trifft dich und reißt dich mit. Du wunderst dich, wie lange du fliegst.
Du hast nicht bemerkt, wie du zu Boden gefallen bist und deshalb überrascht es dich sehr, dass du plötzlich von einer Last, die auf dir liegt, befreit wirst. Du schaust ins Gesicht einer jungen Frau und das freut dich. Es freut dich viel mehr als sie. Sie hat offenbar keine Zeit, sich zu freuen, denn sie muss aufgeregt mit den Armen fuchteln – sehr hübsche Arme, fällt dir auf, wie überhaupt die ganze junge Frau sehr hübsch ist. Sicher hat sie auch eine hübsche Stimme und jetzt wirst du traurig, denn du kannst ihre Stimme nicht hören, obwohl sie eindeutig laut ruft. Das kannst du klar erkennen – die ruft und fuchtelt. Warum nur?
Da fällt dir ein, dass du ja gar nicht charmant bist. Eine hübsche junge Frau und du nicht charmant? Du lächelst und winkst, aber oje, da ist was schief gelaufen, denn sie schlägt die Hände vors Gesicht und beginnt zu weinen.
„Bitte entschuldigen Sie!“ Es tut dir wirklich leid. Du wolltest nicht, dass sie weint. Zum Glück kommt ein junger Mann, der auch sehr hübsch ist, umarmt sie und führt sie fort.
„Sicher ihr Freund“, denkst du und willst kichern, lässt es aber bleiben, weil es verdammt weh tut.
Ein Gesicht mit Knollennase beugt sich über dich und redet auf dich ein.
„Typisch“, denkst du, „die Hübsche ist weg und stattdessen kam die Knollennase. Heute ist wirklich nicht mein Tag. Was will der?“ Du verstehst kein Wort, was wahrscheinlich damit zusammenhängt, dass du überhaupt nichts hörst.
Bevor ein gröberes Missverständnis entsteht, willst du Knollennase klar machen was los ist.
„Ich kann nichts hören“, willst du sagen und kommst bis „Ich ka...“, dann durchrast dich ein stechender Schmerz und es wird dunkel und zwar ganz.
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„Kann uns jemand beim Tragen helfen“, fragte der Notarzt. Die Frau auf der Bahre war offensichtlich in ganz schlechtem Zustand. Ein großer Mann trat vor und sagte: „Ich kann helfen.“
„Kommen Sie durch die Absperrung und nehmen sie diese Griffe hier. Und jetzt sehr langsam hoch heben! Gut so. Jetzt gehen wir sehr langsam und vorsichtig über den Platz.“
Sie trugen zu viert. Ihr Weg führte an unzähligen, notdürftig zugedeckten Toten vorbei.
„Sehr gut!“ lobte der Arzt mit der Knollennase den freiwilligen Helfer, „ja nicht wackeln!“
„Keine Sorge!“, antwortete der Mann. Er stellte sich sehr geschickt an. Sie brauchten für 200 Meter fast 10 Minuten, dann erreichten sie den Helikopter.
„Langsam abstellen, ganz vorsichtig!“, sagte Dr Knollennase.
Die Sanitäter machten die Verletzte flugbreit. Der Mann wartete im Hintergrund. Da erwachte die Frau, schaute um sich und stieß dann einen Klagelaut aus. Es gelang dem Arzt, sie zu beruhigen. Schließlich konnte die Bahre verladen werden. Der große Mann half wieder mit. Die Verletzte schaute in die Runde. Ihr Blick fixierte sich auf den großen Mann.
„Gleich haben wir es!“, sagte der Arzt.
Von den anderen unbemerkt nahm der große Mann mit der Verletzten Blickkontakt auf, woraufhin sich diese verkrampfte, aufbäumte und mit einem heiseren Röcheln verstarb. In der darauf folgenden Hektik bemerkte niemand das grausame Lächeln, das auf dem Gesicht, des großen Mannes spielte.
Als der Arzt mit der Knollennase vor Wut einen zufällig anwesenden Mistkübel mit Fußtritten malträtierte und sich ein sehr erfahrener Sanitäter hinter einem Busch übergab, ging der große Mann seelenruhig über den Platz zurück und sah sich dabei um. Er sammelte für ihn wichtige Erkenntnisse. Kurz darauf wurde er verhaftet und gab an, beim Transport einer Schwerverletzten geholfen zu haben. Nachdem sich dies als zutreffend erwiesen hatte, überquerte er zum dritten Mal – diesmal höflich eskortiert - den Platz und merkte sich auch noch die letzten Details, die ihm bisher entgangen waren.
„Entschuldigen Sie bitte vielmals, mein Herr“, sagte ein Polizist zu ihm.
„Aber natürlich. Das verstehe ich doch. Auf Wiedersehen.“ Er drehte sich um und ging.
„Wiedersehen“, stammelte der Polizist, schaute dem Mann nach und wunderte sich über dessen beschwingten Schritt.
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Du schreckst hoch. Jemand hält deine Hände. Du hörst ein leises Pfeifen. Vier Personen sind da, zwei davon sind wohl Ärzte. Sie reden auf dich ein, aber du kannst sie nicht hören. Plötzlich drängt sich eine Frau zu dir durch und hält dir ein Blatt vor das Gesicht.
„Können Sie das lesen?“, steht darauf.
Du nickst und sie beginnt zu kritzeln.
„Ich bin Polizistin. Ich muss Ihnen dringend eine Frage stellen. Können Sie antworten?“
Da sie eine sehr attraktive Polizistin ist, überlegst du nicht lang und nickst nochmals.
Nächster Zettel: „Erinnern Sie sich an die Explosion?“
Du denkst angestrengt und die Erinnerung kehrt zurück. Der Walzer, die Menschen, die Sonne, das Nichts, die hübsche Frau, die weinte. Die Polizistin legt ihre Hand auf deine Schulter und rüttelt dich sanft. Sie hat grüne Augen. Du würdest ihr gern in die Augen schauen, aber da ist der Zettel wieder und sie rüttelt heftiger.
„Ja, ich kann mich erinnern.“ Hast du das wirklich gesagt? Du kannst dich selbst nicht hören, aber die Polizistin reagiert sofort.
„Erkennen eine dieser Personen?“ Sie zeigt vier Fotos. Auf dem dritten siehst du den Mann, der dich so hasserfüllt anstarrte. Du zeigst auf das Bild.
„Der war da.“ Wieder kannst du deine eigene Stimme nicht hören.
„Danke!“, liest du von den Lippen der Polizistin und weg ist sie.
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Ein Hörrest ist noch vorhanden. Du bekommst ein Gerät und drehst an einem Knöpfchen.
„ ...en sehen, daran gewöhnen Sie sich schnell. Und später einmal kann man Ihnen eines implantieren. Das ist...“ Du drehst leiser und schaust an dir hinab. Das ganze rechte Bein
und der linke Fuß stecken in dicken Verbänden.
„Und was ist mit den Füßen?“, fragst du und der Pfleger erschrickt. Er bedeutet dir, das Hörgerät wieder einzuschalten.
„Wenn Sie sich selbst hören, dann sprechen Sie auch besser – und leiser“, sagt er freundlich.
„Entschuldigen Sie bitte“, röhrt das Hörgerät und du zuckst zweimal zusammen. Einmal wegen der Lautstärke und einmal, weil dir klar wird, dass das abscheuliche Gequake deine eigene Stimme war.
„Das bekommen Sie schnell in den Griff. Sie werden sehen“, beruhigt der Pfleger und du würdest es gern glauben. Aber er hat recht, ein bisschen Üben bringt beträchtliche Fortschritte.
Die Beine sind eine andere Sache. Ganz anders. Die Ärzte erklären sehr behutsam und du wunderst dich, wie gelassen du zur Kenntnis nimmst, dass dein rechtes Bein im besten Fall steif bleiben wird.
„Wir werden alles tun, um ihnen zu helfen“, versichert der Kleinere der beiden, „geben Sie nicht auf. Das wäre das Schlechteste. Und jetzt wird noch Frau Dr Schön ein bisschen mit Ihnen reden.“
Die Frau Doktor ist Psychotherapeutin und, wie der Name sagt, sehr schön.
„Alles klar“, denkst du, „die wird auch gleich weg sein. So wie die Polizistin und die Weinende.“
Aber wieder hast du dich getäuscht. Frau Dr Schön ist nicht nur sehr schön, sondern auch sehr hilfsbereit. Außerdem scheint sie genau zu wissen, wie es dir geht. Du beginnst dich wohl zu fühlen und machst einen Scherz, sogar einen ziemlich guten. Frau Doktor Schön lacht ein wenig und beugt sich zu dir vor. Dies verzögert den Behandlungserfolg erheblich, da du einen Einblick erhascht, der für dich in deinem Zustand eine klare Überdosis darstellt. Große Mengen deines Blutes wechseln den Einsatzort. Das Letzte, das du siehst, ist der besorgte Blick von Frau Dr Schön. Das Letzte, das du spürst, ist eine stattliche Erektion.
„Na wenigstens das funktioniert noch!“ , denkst du, dann wird es – schon wieder - dunkel.
Du bist zurück beim Konzert, aber irgendwas ist anderes. Anders als was? Die Musik klingt wunderbar, die Leute freuen sich. Aber es gibt ein Problem, da bist du sicher. Gehetzt blickst du um dich. Du spürst, nein, weißt, dass Gefahr droht. Nur – woher? Da ist Frau Dr Schön und auch die Polizistin mit den grünen Augen. Wie gut! Du wirst dich an die Polizistin wenden, ihr deine Befürchtung mitteilen. Du beginnst aufgeregt zu winken. Die beiden Frauen scheinen einander zu kennen. Sie schauen zu dir und wenden sich dann einander zu.
„Nein, bitte jetzt keine Ablenkung!“, denkst du, aber da ist es schon passiert. Zwei verführerische Augenpaare fesseln dich mit Hilfe von zwei tief ausgeschnittenen Blusen. Als du bemerkst, wie tief die Ausschnitte sind, schaust du sofort weg. Du spürst, wie du rot wirst und stakst auf die beiden zu. Ein mächtiger Ständer hindert dein Vorwärtskommen und du bist dir bewusst, dass du verlegen grinst. Alles egal, wenn du sie nur rechtzeitig warnen kannst. Diese Ausschnitte! Du blickst kurz zu Boden, noch ein paar Schritte. Als du wieder hinsiehst, sticht zwischen den beiden wunderschönen Gesichtern ein dunkler, hasserfüllter Blick hervor und alles kommt zurück.
„Rennt weg! Schnell! Er hat eine..“
Zeitlupe. Der Mann schaut dich an. Der Blick eines Siegers trifft dich. Er ist am Ziel, hat erreicht, was er wollte. Seine Augenlider sinken kurz herab, dann starrt er wieder herüber. Seine Kiefermuskel mahlen, Schweiß tropft von seiner Stirn. Im nächsten Augenblick verwandelt er sich in Licht. Kurz kannst du noch seine Augen erkennen. Zwei schwarze Punkte im gleißenden Schein. Du spürst Hitze und Schmerz. Etwas kommt auf dich zugeflogen. Du lässt dich fallen, aber der Sturz verläuft unendlich langsam. Es wird dir klar, dass du getroffen werden wirst. Bis es soweit ist, wird aber noch dauern, denn du hast vom Boden abgehoben und schwebst nach hinten davon. Schließlich holt dich das fliegende Etwas ein und drückt sich langsam an dich. Du willst den Mund schließen, aber es gelingt dir nicht. Weiches Material drückt gegen deine Lippen und deine Zunge. Wenn du nicht mit sanfter Wucht nach hinten geschleudert würdest, könntest du feststellen, was du da im Mund hast.
Dein Sturz oder Flug dauert bereits mehrere Minuten und du fragst dich besorgt, wo du landen wirst.
„Schauen wir mal“, denkst du. Dein Kopf dreht sich zur Seite und das unbekannte Ding rutscht aus deinem Mund. Nachdem gefühlte zehn Minuten vergangen sind, schaust du nach links und musst dich sehr wundern, denn vor deinen Augen baumelt einen weibliche Brust. Dies gibt dir zu denken. Es handelt sich um eine stattliche, schön geformte Buse.
„Frau Dr Schön?“, denkst du. Wurde sie gegen dich geschleudert? Plötzlich erkennst du den Boden weniger als fünf Zentimeter entfernt. Du schließt die Augen und wartest auf den Aufschlag. Dieser ereignet sich aber nicht und du schaust wieder hin, um festzustellen, das du in etwa drei Minuten nur ungefähr drei Zentimeter gefallen bist. Der Busen hat seine Position nicht verändert.
Weitere drei Minuten später wirst du schwer enttäuscht. Du hattest angenommen, dass bei der Geschwindigkeit ein Aufprall nicht zu spüren sein würde. Das Gegenteil ist der Fall und zu allem Überfluss dauert das Hinknallen mit zweimaligem Hochprallen gute vier Minuten, jede einzelne davon äußerst schmerzhaft. Schließlich kommst du zur Ruhe.
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Ihre grünen Augen ärgerten und erregten ihn. Er stützte seine kurzen aber enorm starken Arme in den Hüften ab und schnaubte
„Was hat sie hier zu suchen?“, fragte er sich. Er stand auf und ging schnell auf die Frau zu. Diese drehte sich ebenso schnell um und ging davon. Damit war er zufrieden, denn er hatte gerade ganz andere Sorgen. Wenig später war sie wieder da. Er schüttelte den Kopf, spuckte aus und fluchte. Mit entschlossenen Schritten verließ er den Laden. Wieder ging sie davon. Er folgte ihr und änderte seinen Entschluss, sie zurechtzuweisen. Der Anblick ihrer Rückseite brachte ihn auf eine andere Idee.
Sie ging schneller und schickte sich an, das Viertel zu verlassen. Er musste handeln, bevor sie die nächste Straßenecke erreichte. Er packte sie, seine große, starke Hand hielt ihren Mund zu und er zerrte sie in einen Hauseingang. Hier wohnten nur Leute, die er gut kannte. Den kleinen Stich im Oberschenkel spürte er gar nicht. Seine Triebe brachen durch. Er griff nach ihrem Gürtel, um diesen zu öffnen. Ein gezischter Fluch, er bekam die Schnalle nicht auf. Dann glaubte er zu schweben. Grunzend wollte er sie fester packen, aber sie wand sich mit Leichtigkeit frei. Er wankte und es fiel ihm ein, dass er um Hilfe schreien könnte. Den Lieferwagen nahm er noch wahr, konnte ihm aber keine Bedeutung zumessen. Mit schielenden Augen ging er zu Boden. Vier große Männer stiegen aus dem Lieferwagen. Zwei von ihnen sicherten mit Maschinenpistolen und die anderen beiden packten den Betäubten und schleiften ihn in das Fahrzeug.
Beim Verhör sagte er nicht ein einziges Wort.
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Der Hinweis des Überlebenden des Attentats war von entscheidender Bedeutung gewesen. Nachdem die Identität eines der Selbstmordbomber geklärt war, konnte vorgegangen werden. Innerhalb weniger Stunden gelang eine Reihe von Verhaftungen. Die Verhöre und Ermittlungen ergaben Hinweise auf Waffenlager in der ganzen Stadt. Es wurde entschieden, diese in vier gleichzeitigen Großaktionen auszuheben. Als die Kommandos ausrückten, ereignete sich eine Explosion, die ein Haus zum Einsturz brachte. Zwei weitere Lager wurden verlassen vorgefunden, das vierte gar nicht.
Kommissarin Irena Jäger betrachtete den Trümmerhaufen, den die Explosion hinterlassen hatte. Wahrscheinlich fünfzehn weitere Todesopfer. Eine zufällig anwesende Getränkedose bekam die Frustration der Kommissarin zu spüren. Irena fluchte. Sie waren an die Person, die hinter allem steckte nicht heran gekommen. Außerdem gab es noch ein Waffenlager, dass sie nicht gefunden hatten.
„Glaubst du, dass er noch da ist?“, fragte Irenas Assistent Anton Wegetreu.
„Anton!“, erwiderte sie unwirsch.
„Schon gut, was machen wir?“
„Wir sind verzweifelt. Also, ich bin verzweifelt. Bei dir bin ich mir nicht sicher.“
Anton verfügte über die großartige Fähigkeit, einen Rüffel hinzunehmen, wegzustecken und weiterzumachen. Als er jetzt kurz nachdachte und feststellte, dass gar kein Rüffel vorliegen konnte, lief er zur Höchstform auf. Er lächelte seine Vorgesetzte an und meinte; „OK, dann machen wir doch Schluss für heute!“
Obwohl sie wusste, dass sie verlieren würde, zischte Irena vorwurfsvoll: „Hast du noch was vor heute Abend?“
Anton nickte wie ein Zweijähriger und sagte: „Fußball! Wenn ich heute gewinne, bin ich Dritter.“
Irena drehte sich um und ließ ihn stehen. Kurz darauf stand sie in einem Verkehrsstau und Anton winkte ihr freundlich zu, als er in der Straßenbahn an ihr vorbeirollte. Sie nahm sich vor, sich bei ihm zu entschuldigen.
„Wenigstens ein bisschen Ruhe“, dachte Irena und schaltete das Radio ein. Kurz darauf sah sie Anton im Laufschritt auf sich zu kommen. Er winkte aufgeregt mit seinem riesigen Handy.
„Was?“, sie hatte umgehend vergessen, dass sie sich entschuldigen wollte.
Anton atmete dreimal tief durch und presste dann hervor: „Es gab eine Verhaftung und zwar genau 37 Minuten nach der Explosion, mitten auf dem Platz.“
„Rein hier!“, sagte Irena.
Anton versuchte verzweifelt Halt auf dem Beifahrersitz zu finden, als Irena ihren Wagen auf die Straßenbahngleise jagte um zwei Garnituren der Linien 41 und 39 in eine Rondeaustation zu folgen.
„Ho!“, rief Anton aus, als Irena auf dem Bahnsteig hupend an den Zügen vorbeischoss und die Station in Richtung Sicherheitsdirektion verließ. Dabei wurde sie von Anton informiert, dass eine Person, den Ort der Explosion nur eine halbe Stunde danach genau in Augenschein genommen hatte. Der Mann hatte aufgrund außergewöhnlicher Umstände den Platz insgesamt dreimal in aller Ruhe überqueren können und war danach verschwunden. Es war sehr wahrscheinlich, dass der einzige ansprechbare Zeuge, auch diese Person gesehen hatte.
„Ho!“, rief Anton erneut, als Irena unvermittelt abbog. Sein fragender Blick bekam die Antwort „Krankenhaus“ und er verstand.
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Du schlägst die Augen auf und bist grenzenlos erleichtert – nur ein Traum.
„Schnell vergessen!“, denkst du, aber das ist nicht so leicht. Die Augen des Attentäters werden dich noch lange verfolgen. Es schüttelt dich und du sinkst auf dein Bett zurück. Dann geht die Türe auf und Frau Dr Schön steht vor dir. Sie trägt einen Pulli, du musst nicht aufpassen. Du winkst ihr und grinst.
„Kann ich nächste Woche wieder Fußball spielen. Ich falle in der Tabelle zurück, wenn ich nicht bald wieder spiele. Zuletzt war ich Dritter.“
Oje, da ist was im Busch. Sie lächelt freundlich wie immer, aber sie ist alles andere als entspannt.
„Leider, in nächster Zeit werden Sie keine Tore schießen. Sie müssen nochmals operiert werden. Die Durchblutung im rechten Bein sieht gar nicht gut aus.“
Du schneidest eine Grimasse und sie lächelt. Na wenigstens was! Die Frau Doktor lobt dich in den höchsten Tönen. Du hast dich nicht hängen lassen, deshalb geht es dir schon viel besser.
„Geben Sie bitte nicht auf! Sie schaffen das!“
Dann erfährst du, dass du schon am nächsten Vormittag drankommst. Die Ärzte wollen kein Risiko eingehen.
„Nett von ihnen“, denkst du und zuckst zusammen, denn neben Frau Dr Schön ist ein grünes Augenpaar aufgetaucht.
Sie fackelt nicht lange. Den Protest von Frau Dr Schön ignoriert sie nicht einmal.
„Ist Ihnen, während sie erstversorgt wurden, jemand aufgefallen?“
„Ja, da war jemand. Ein sehr großer Mann. Ich habe mich gewundert, weil er zwischen den Toten herumging...“
„War es einer von diesen hier?“
Schon auf dem zweiten Foto wirst du fündig.
„Sind Sie ganz sicher?“
„Sehr sicher.“
Du schaust zum letzten Mal in ihre grünen Augen.
„Danke“, sagt sie zu dir.
„Tut mir leid Heike“, zu Frau Dr Schön, die mit den Schultern zuckt.
„Mach’s gut Irena!“, ruft sie ihr hinterher.
Das interessiert dich jetzt wirklich.
„Sie kennen die Dame?“
„Wir waren Nachbarskinder und in der Schule war sie eine Klasse unter mir.“
„War sie Ihre Freundin?“
„Ja, aber wir sehen einander kaum noch. Die Jobs...“
„Schade!“
„Ja!“
Frau Dr Schön bleibt noch eine ganze Weile bei dir, worüber du sehr erfreut bist.
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Du verbringst eine schlaflose Nacht, was dir ganz gelegen kommt, da du am nächsten Morgen von der Operationsvorbereitung praktisch nichts mitbekommst. Als du aufwachst, wird dein Bett gerade geschoben. Es kommt dir komisch vor, dass es so lang dauert, bis du auf deinem Zimmer bist.
„Wahrscheinlich eine Folgewirkung der Narkose“, denkst du und versuchst, dich zu entspannen. Da fällt dir ein, dass du bald wieder mit Frau Dr Schön sprechen wirst. Sie wird eine der Ersten sein, die sich nach deiner Operation um dich kümmern werden. Das freut dich sehr, denn die Therapeutin ist dir ans Herz gewachsen. So eine Nette! Sicher ist sie schon vergeben. Glücklicher Mann, der Herr Schön, wer immer er ist.
Aber das gibt es doch nicht! Wo fährt denn der Pfleger mit dir herum? Wie lange dauert das denn noch? Und warum hast du seit Ewigkeiten keine anderen Leute mehr gesehen? Mal fragen: „Äh, entschuldigen Sie!“
Es ist ein großer Pfleger, den du noch nie zuvor gesehen hast. Du willst fragen, warum es so lange dauert, aber er kommt dir zuvor.
„Wir sind gleich da“, versichert eine merkwürdige Stimme und du beginnst zu überlegen, ob du da sein willst.
Kurz darauf, weißt du warum, denn dein Bett steht im kalten Wind auf einer Rampe. Dir wird klar, dass dies nicht annähernd der Weg zu deinem Zimmer sein kann.
„Hände hoch und keine Bewegung!“, ruft jemand und gleich darauf wird dein Bett mit Schwung die Rampe hinab geschoben. Du schaust nach vor und siehst, dass die Rampe eine Kurve macht. Das Bett rollt nicht besonders schnell, aber es genügt, um dich herauszuschleudern, wenn du gegen das Geländer stößt, was unweigerlich passieren wird. Du bereitest dich auf den Aufprall vor, indem du verzweifelt Halt suchst. Aber plötzlich steht das Bett und jemand fragt: „Alles okay bei Ihnen?“
Dein Lebensretter ist ein sehr großer junger Mann, den du von irgendwo kennst, aber du kommst nicht drauf.
„Kann ich Sie hier alleine lassen? Ich muss meiner Kollegin helfen,“ fragt er.
„Ja, ja, gehen Sie nur. Und danke...“
„Bin ich froh, dass ihnen nichts passiert ist!“, ruft der Pfleger erleichtert aus.
„Wie fühlen Sie sich?“
„Weiß nicht genau, vielleicht wie jemand, der ins Krankenhaus zurück und endlich seine Ruhe haben will?“
Daraufhin beginnt er das Bett vorsichtig die Rampe hochzuziehen. Dann kommen schon Ärzte und Schwestern.
„Wird wohl nichts, mit der Ruhe“, denkst du und behältst recht. Dafür fällt dir ein, woher du den Langen kennst, der dich gerettet hat. Der spielt jeden Dienstag in der Partie nach dir Fußball. Du nimmst dir vor, dich sobald als möglich bei ihm zu bedanken.
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Kommissarin Irena Jäger und ihr Assistent Anton hatten per Funk die Angaben des Zeugen durchgegeben. Man durfte keine Zeit verlieren. Nach wenigen Minuten erfuhren sie, dass der zu Observierende sich ausgerechnet im Zentralkrankenhaus befand. Daher kehrten die beiden sofort um und begaben sich zum Aufwachraum, wo die unerklärliche Abwesenheit des frischoperierten Zeugen samt Bett bereits für Diskussionen gesorgt hatte. Irena gab Alarm und das Observierungsteam teilte sich und ging ins Gebäude. Aufgrund der Meldungen, wo der Gesuchte nicht war, konnte sein wahrscheinlicher Aufenthaltsort bestimmt werden. Er war in Richtung Evakuierungsrampe unterwegs. Alle Personen, die Anton einen Gang entlang stürmen sahen, machten schleunigst Platz. Irena folgte ihm und die beiden erreichten die Rampe kurz nach dem Gesuchten. Als ihn Irena anrief, lief er mit dem Bett die Rampe hinunter, ließ es los und verschwand durch eine Tür. Irena folgte dem Gesuchten und Anton dem rollenden Bett. Kurz bevor dieses gegen das Geländer krachte, konnte er es zum Stillstand bringen.
Irena erkannte, dass es zu gefährlich war, dem Gesuchten alleine zu folgen und rief Verstärkung. Es war ein irrer Zufall, dass der Mann, unmittelbar nachdem er durch die Tür gelaufen war, ein perfektes Versteck vorgefunden hatte. Er überwältige die Polizistin mit Leichtigkeit, versteckte ihre Leiche und schleuderte ihr Telefon in einen Schacht. Danach begab er sich in die Notaufnahme, meldete sich beim Schalter an und verbrachte drei Stunden in einem überfüllten Warteraum. Er wurde in weiterer Folge stationär aufgenommen und bekam ein Bett auf dem Gang, da auch die Station überfüllt war. Zur Wand gedreht und scheinbar schlafend verbrachte er dort die Zeit bis zum Abend. Die Polizei nahm an, dass er geflohen war und stellte die Durchsuchung des Krankenhauses ein.
Am nächsten Morgen nahm der Mann ein Frühstück zu sich und wartete dann geduldig auf die Visite. Der Primararzt riet ihm, noch zwei Tage zu bleiben, sodass alle Eventualitäten überprüft werden könnten. Er willigte ein und bedankte sich herzlich für die freundliche Hilfe. Nach dem Mittagessen bat er höflich um Erlaubnis, die Station verlassen zu dürfen, um einige kleine Besorgungen zu machen. Er nahm im Eingangsbereich des Spitals Platz und beobachtete alle Anwesenden genau. Die Polizisten in Zivil entdeckte er in kürzester Zeit. Dann ging er in ein WC und begegnete dort einem Mann in einem Rollstuhl.
Ein Rollstuhlfahrer fuhr langsam durch die große Lobby des Zentralkrankenhauses. Er kaufte eine Zeitung und Kaffee und rollte danach zu den automatischen Türen. Lange überlegte er, ob er ins Freie fahren sollte. Es war zwar sonnig, aber doch kühl. Er wurde gefragt, ob er Hilfe brauche und lehnte freundlich ab. Schließlich begab er sich doch in den kleinen Park vor dem großen Eingangsportal, steuerte eine windgeschützte Ecke an und begann seine Zeitung zu lesen und seinen Kaffee zu trinken.
Anton Wegetreu erkannte den Gesuchten auf dem Überwachungsmonitor sofort und machte einen dummen Fehler, indem er loslief und niemandem etwas sagte. Nach dem Tod Irenas hätte er eigentlich gar nicht mehr im Dienst sein sollen, aber in der Aufregung war vergessen worden, ihn nach Hause zu schicken. Im Park verhielt er sich sehr klug. Er spazierte entspannt in die Richtung, wo er den Gesuchten vermutete. Als er den leeren Rollstuhl sah, machte er keine plötzliche Bewegung, sondern schaute sich in aller Ruhe um. Erst als er den Flüchtigen in die Ubahnstation gehen sah, rannte er los. Anton war in ausgezeichneter körperlicher Verfassung und ein hervorragender Sprinter. Er flog einen Gang entlang und eine Rolltreppe hinunter. Der Flüchtige bemerkte ihn sofort und begann ebenfalls zu laufen. Anton hatte keinen Zweifel, dass er ihn stellen würde, erst recht, als der Verfolgte zwei große Männer aus dem Weg rempeln musste und dadurch aufgehalten wurde. Die beiden jagten die Treppe am anderen Ende der Station hoch und Anton wunderte sich, dass er kaum aufholte. Dann waren sie auf der Straße und Anton beschleunigte voll. Bestürzt realisierte er, dass der andere schneller war. Er zog seine Waffe, zielte und erkannte, dass es sinnlos war. Der Mörder Irenas entkam ihm und er konnte nichts anderes tun, als durchzugeben, wo er ihn verloren hatte.
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Anwar hatte die drei Toten, die hinten im Garten lagen, schon mehrmals mit Kalk bedeckt. Das machte den Geruch nicht erträglich aber immerhin schwächer. Die drei hatten seine Gartentür eingetreten und sich dann im Haus versteckt. Sie waren schwer bewaffnet und redeten nur davon, dass sie ein Flugzeug abschießen wollten. Dann kam wirklich ein Luftangriff und die drei gingen ins Freie. Sie bauten ein kleines Geschütz auf, aber bevor sie es laden konnten, schlug eine Bombe ein und tötete sie. Rückblickend hielt Anwar dies für eine begrüßenswerte Entwicklung. Seit die drei tot waren, hatte es keinen Angiff mehr gegeben.
Er hatte weggehen wollen, doch man hatte ihn gezwungen zu bleiben. Sein Wissen als ehemaliger Verwaltungsdirektor der Provinz war für sie wichtig. Immerhin hielten sie Wort. Seine Familie und er wurden gut behandelt und versorgt. Sie hatten angedeutet, dass er gehen dürfe, wenn seine Dienste nicht mehr erforderlich waren. An diesen Gedanken klammerte er sich, allerdings überhaupt nicht mehr um seiner selbst Willen, sondern nur mehr wegen seiner Familie. Er war entschlossen sich zu opfern und zu bleiben, wenn nur seine Frau und seine Kinder gehen dürften.
Durch die geschlossenen Fensterläden seines Arbeitszimmers konnte er nur Ausschnitte der sengenden Hitze wahrnehmen. In einem dieser Ausschnitte erschien zu seiner größten Verwunderung das Gesicht seines Sohnes. Warum war der Junge draußen? Anwar hörte Stimmen und drückte sein Auge gegen eine der Spalten. Er sah sein geliebtes Kind und kurz vergaß er alle Sorgen. Der Junge stand stolz und aufrecht in der Hitze. Er war groß, größer als sein Vater und das schon mit 15. Natürlich konnte er nicht schöner sein als seine Mutter, sondern nur genauso schön, aber das war er. Daran konnte auch der finstere Blick, den er gerade aufgesetzt hatte nichts ändern. Anwar musste schmunzeln. Wie ernst er war! Tiefe Furchen lagen auf seiner Stirn und zwischen seinen Augen war eine tiefe Falte eingegraben.
Der Junge war im Gespräch mit einigen Männern, die allesamt ebenso ernst waren wie er. Einer der Männer hatte das Wort ergriffen und sprach zu den anderen. Anwar konnte nicht verstehen, was er sagte. Plötzlich fuhr der Sprecher herum und brüllte: „Alarm! Volle Deckung! Ein Angriff!“ Jetzt konnte auch Anwar es hören, das noch weit entfernte Heulen von Düsenjägern.
„Die Mädchen!“ dachte Anwar und lief in Richtung Wohnzimmer, wo er seine Töchter wusste. Er erreichte sie nicht, da ihm plötzlich sein Sohn und dessen Begleiter im Wege standen.
„Wo ist der Keller?“, rief der Mann, der gerade noch auf die ganze Gruppe eingeredet hatte. Anwars Sohn riss die Tür auf und die Männer sprangen hindurch. Anwar setzte seinen Weg ins Wohnzimmer fort. Als er dort ankam, starrten ihm zwei schreckgeweitete Augenpaare entgegen. Er stürzte los, um die Kinder in Sicherheit zu bringen, da hörte er ein trockenes Knacken. Das Geräusch wurde von der Rakete verursacht, die den Laden des Wohnzimmerfensters durchbrach und mit der Wohnzimmerwand kollidierte und explodierte.
Niemand musste leiden. Weder Anwar, noch seine Frau oder die Mädchen. In einem Moment noch arglos, wegen der langen Phase der trügerischen Ruhe, im nächsten in einer Explosion vergehend. Ihr Bewusstsein so schnell ausgelöscht, dass dieses sein Ende nicht einmal befürchten konnte.
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„Immer derselbe Schwachsinn!“, denkst du und schaltest den Fernseher aus. Das letzte Bild hängt wabernd vor deinem geistigen Auge. Ein Düsenjäger beschießt eine kleine Stadt in der Wüste. Vor einem Himmel perfekter Farbzusammensetzung zischen zwei Leuchtgarben in die Häuser, von denen einige in Flammen aufgehen. Du weißt genau, wie es sich anfühlt, dort zu sein, wo die Flammenzungen hinlecken. Es wird extrem hell und wenn man dann nicht von einem weiblichen Busen nebst zugehörigem Körper abgeschirmt wird, dann schaut es eher traurig aus, denn man ist verbrannt. Du übergibst dich und sagst: „’tschuldigung!“
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Anwars Sohn war mit dem Gesicht voraus in die drei kalkbedeckten Leichen im Garten des Hauses geschleudert worden. Ernst, wie er seit kurzem war, wollte er dem keine Bedeutung beimessen. Er erbrach sich erst, als er bemerkte, dass er mit einem Arm eine der Leichen durchdrungen hatte. Dann stürzte das Haus in sich zusammen. Es begrub seine Familie und die Männer, mit denen er zusammen gewesen war.
Der Junge kletterte auf den Trümmerhaufen und versuchte, einen Eingang zu finden. Vielleicht war noch jemand am Leben? Bald gab er auf. Er stieg herab und setzte sich auf eine kleine Bank, die im Schatten eines großen Baumes stand. Lang saß er dort und starrte den Trümmerhaufen an. Schließlich stand er auf und ging weg. Er wusste genau, wohin er sich wenden würde. Der Tod seiner Familie und seiner Freunde sollte nicht ungesühnt bleiben.
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Du bist jetzt Hochsicherheitspatient. Vor deinem Zimmer stehen rund um die Uhr zwei schwerbewaffnete Polizisten. Du wärst lieber kein Hochsicherheitspatient. Das einzig Gute daran ist, dass Frau Dr Schön jetzt noch öfter zu dir kommt. Sie hilft dir, zusammenzubauen, was eigentlich passiert ist. Aber manchmal hast du den Eindruck, dass sie es selbst nicht genau weiß, oder nicht wissen will. Immerhin ist die Operation gut verlaufen, du wirst dein Bein behalten. Das freut sie schon, aber irgendwie nicht so richtig, kommt dir vor.
„Entschuldigen Sie, ich muss das Gespräch abbrechen. Ich habe gerade eine schreckliche Sache erfahren und es hat keinen Sinn, wenn ich mich Ihnen nicht mit voller Kraft widmen kann“, sagt sie. „Ich komme morgen wieder.“
Zeit für einen Scherz, aber sachte.
„Na, bis morgen schaffe ich es – aber nur mit knapper Not! Frau Doktor, danke für alles!“
Ein kleines Lächeln erscheint und verschwindet und dann berührt sie deinen Arm.
„Bis morgen!“, sagt sie und wendet sich zum Gehen.
„Ja“, sagst du und denkst noch daran wegzuschauen aber schaffst es nicht mehr. Je ein Augenblick pro Pobacke genügt, um dich restlos durcheinander zu bringen. Es ist die Hölle, aber es bedeutet auch, dass dein bester Freund den Wahnsinn überstanden hat. Allerdings fragst du dich, ob Frau Dr Schön in Anbetracht der Umstände die richtige Therapeutin für dich ist und plötzlich musst du hemmungslos lachen.
„Na, morgen bekommt sie noch eine Chance“, denkst du und freust dich schon.
„Rechtzeitig wegschauen muss ich halt. Am besten mit einer Augenbinde...“ Du lachst so heftig, dass ein Pfleger besorgt hereinstürzt. Du winkst ihm zu und erklärst, dass deine Heiterkeit auf die eben genossene Behandlung zurückzuführen ist, worauf er verwundert reagiert. Dann wirst du müde – sehr müde.
Ein grandioser Sonnenuntergang leuchtet über der Innenstadt. Du genießt die Farben des Himmels und dir wird leicht. Es riecht schon nach Sommer. Ein kleiner Bub geht an der Hand seiner Mutter. Ein kecker Verliebter nützt die Gunst des Sonnenuntergangs, um einen Kuss auf eine geliebte Wange zu platzieren und wird mit einem Klaps belohnt. Das ältere Ehepaar tanzt diesmal nicht, sondern schaut auch in den Himmel. Normalerweise würdest du jetzt aufwachen, aber heute weißt du, das nichts passieren wird. Kein Blitz, kein Sturz, kein Horror.
„Ah, Frau Doktor! Das ist aber nett. Ich muss also nicht bis morgen warten.“
Sie schüttelt leicht den Kopf und lächelt, dann tritt sie nah an dich heran.
„Wunderbar, nicht wahr?“, sagst du und zeigst zum Himmel, was sich als großartige Idee erweist, denn jetzt bietet sich Gelegenheit, ihr Profil zu studieren. Du beabsichtigst sehr dezent vorzugehen, aber das geht nicht, denn der Anblick nimmt dich gefangen. Die Abendröte spielt auf ihren Zügen und macht dir ein Abwenden unmöglich. Frau Dr Schön hat gar nichts dagegen. Ihr Vorname ist Heike.
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Er war rasend vor Wut. Seine besten Männer – alle verhaftet. Das kam einer persönlichen Beleidigung gleich. Jetzt glaubten die wohl, dass er nicht mehr agieren konnte. Sie würden sich wundern. Der erfolgreichen Aktion beim Konzert, hätten bald weitere folgen sollen. Aber sie hatten einige Beteiligte ausgeforscht und auch, wo er sein Material versteckte. Immerhin hatte er ein Lager per Funk zünden können und eines war unentdeckt geblieben. Er erachtete es als Verpflichtung, den Inhalt dieses Lagers seiner Bestimmung zuzuführen.
In einem finsteren Lokal folgten ihm zwei junge Männer wortlos in ein Hinterzimmer. Er schickte sie wieder weg und zwei Stunden später waren es zehn. Er redete kurz und eindringlich mit ihnen. Alle nickten und gingen wieder fort. Ein einziges weiteres Treffen würde genügen, um erneut zuschlagen zu können. Bis dahin würden alle seine Anweisungen exakt ausgeführt werden. Das Ziel stand längst fest. Er würde großen Ruhm erlangen.
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Als der Junge den Befehl hörte, war er erleichtert. Er war nicht zum Märtyrer ausersehen worden. Es fiel ihm schwer, den Enttäuschten zu spielen und er war dankbar für die Ablenkung durch die Freude der Auserwählten. Zwei seiner besten Freunde waren darunter.
„Geht jetzt!“, sagte der Befehlshaber und sie verabschiedeten sich kurz und gingen fort – einige von ihnen in ihren sicheren Tod. Der Junge erhielt den Auftrag, sich zum letzten verbliebenen Lager zu begeben und dort auf weitere Anordnungen zu warten. Der Befehlshaber würde ihn nur dann brauchen, wenn er selbst in Gefahr käme, was wenig wahrscheinlich war.
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Du wirst verlegt. Schlau sind sie schon! Mehrere Spezialpolizisten haben sich als medizinisches Personal verkleidet. In einem Materiallift geht es nach unten. Plötzlich erschüttert ein dumpfer Knall das Gebäude, dann noch einer. Der Kommandant der Einheit erhält per Funk Befehle. Sekunden später haben sich zwei der Polizisten mit dir in einem kleinen Raum versteckt und alle anderen sind weg.
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Von seiner Position hatte er einen perfekten Blick in den Eingangsbereich des Zentralkrankenhauses. Er sah seine zwei Männer durch die automatischen Türen gehen und erkannte sofort, dass sie gescheitert waren, denn der ganze Bereich war menschenleer. Sie waren irgendwie verraten worden und der Sicherheitsdienst hatte die Menschen gewarnt. Das war die einzige Erklärung. Die Schüsse und Explosionen interessierten ihn schon nicht mehr. Er versteckte sich und begann fieberhaft zu analysieren. An die drei, die kurz darauf im – ebenfalls menschenleeren - Übergang zur Ubahn vom Sicherheitsdienst beschossen wurden und auch explodierten, verlor er keinen Gedanken.
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Anton Wegetreu lachte das Herz im Leibe, als er sah, dass sich niemand im Eingangsbereich des Krankenhauses befand. Seine Warnung an den Sicherheitsdienst, war rechtzeitig erfolgt. Die Attentäter waren offenbar verwirrt und gingen nur zögerlich durch die Türen. Gleich darauf waren Schüsse zu hören und dann zwei Explosionen. Mit den drei weiteren Explosionen im Übergang zur U-bahn hatte er allerdings nicht gerechnet.
„Wie viele kommen noch?“, dachte Anton.
Er sprang auf und lief los, um den großen Mann wiederzufinden. Nur der konnte wissen, ob es weitere Selbstmordattentäter gab. Er würde ihn finden!
„Suchst du jemand?“
Anton wirbelte herum und wusste, dass er verloren war.
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Außer den Selbstmördern gab es keine Toten. Wenn alle fünf Sprengsätze im Krankenhaus explodiert wären, hätte es hunderte Opfer gegeben. Die ersten beiden Attentäter waren wohl zu dir unterwegs gewesen. Nur der Polizist, der den Sicherheitsdienst gewarnt hatte ist tot - ermordet. Du legst Blumen an den Ort, wo er starb und dann legst du den Arm um Heikes Schultern. Lang steht ihr da und deine Gedanken wandern. Du atmest linde Frühsommerluft. Du bist frei, du hast überlebt. Dein Hörgerät ist großartig. Letzte Nacht hast du Heike lang beim Atmen zugehört und dann ruhig und traumlos geschlafen.
Jetzt geht es noch in die Innenstadt. Noch mehr Blumen, diesmal am Platz des Konzerts, und wieder willst du nicht weg gehen, sondern einfach stehen und warten. Es ist schon Abend und die Sonne versinkt hinter den alten Gebäuden. Heike lächelt dich an. Dann wandert ihr in der Stadt herum. Du hinkst noch ein wenig, das wird dir wohl bleiben. Deine Brandnarben werden von Heike gepflegt. Das ist zwar nicht ihr Fach, aber sie macht es ganz ausgezeichnet. Dir wird vor Glück schwindlig und du musst dich setzen. Heike ist besorgt, aber du überspielst alles mit einem gar nicht so schlechten Scherz. Sie kneift deine Backe und dann gibt es ein Küsschen und sie schaut dir in die Augen und dann heulst du los wie ein Schlosshund. Zum Glück ist Heike Psychotherapeutin. Deine Angst wird nie mehr weggehen und nicht nur die deine.
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Der große Mann saß in seinem Zimmer und starrte vor sich hin. Er hat keine Nachricht erhalten. Das war das Schlimmste, denn es bedeutete, dass er mit keinerlei Unterstützung mehr rechnen konnte. Sein Auftrag war gewesen, eine ganze Serie von Anschlägen durchzuführen und zwar in einer Stadt und in relativ kurzer Zeit. Daran war er gescheitert. Die Aktion im Krankenhaus war ein weiterer Fehlschlag gewesen. Sie hatten keinerlei Wirkung erzielt, waren aufgeflogen wie Stümper. Sein Fehler, er hatte den großen, blonden Polizisten unterschätzt. Der hatte ihn gefunden, war ihm gefolgt und hatte den Anschlag vereitelt. Wenigstens den hatte er erwischt. Der Dummkopf war ihm von selbst vor die Waffe gelaufen. Der Gedanke daran tröstete ihn ein wenig. Es hatte gut getan, sich rächen zu können. Bedauerlich fand er nur, dass er sich seinem Opfer nicht mehr zu erkennen geben konnte.
Er wandte sich seinen neuen Plänen zu. Er würde sich rehabilitieren und zwar durch eine tolldreiste Aktion, die seine Fehler vergessen lassen würde. Ein glückliches Lächeln spielte auf seinem Gesicht, als er mit ersten Überlegungen begann. Es würde nicht schwer sein, an die notwendigen Informationen zu kommen und die ganze Drecksarbeit würde der Junge für ihn machen.
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Du willst keinen besonderen Schutz, es wird auch so schwer genug, wieder ein normales Leben zu führen. Heike ist auch dieser Meinung. Außerdem stellst du ja keine Bedrohung mehr da. Du hast den Mann im Hintergrund identifiziert, aber nachdem er im Krankenhaus gescheitert war, ist er sicher untergetaucht. Jeder Polizist in der Stadt hält nach ihm Ausschau. Das genügt dir und hat die Entscheidung erleichtert. Du willst dich nicht verstecken, nur weil - vielleicht - ein Wahnsinniger noch zugange ist.
Heike hat etwas im Auto vergessen und du gehst schon mal vor ins Haus. Kurz bevor du in den Lift einsteigen kannst, sind sie plötzlich da. Der Wahnsinnige und ein sehr junger Mann. Du hörst, wie die Haustür aufgeht und schreist: „Renn weg, Heike!“ Dann trifft dich ein mächtiger Schlag und du gehst zu Boden. Der junge Mann ist losgerannt, um Heike zu fangen, aber er kommt gleich wieder zurück und schüttelt nur den Kopf. Heike ist klug und flink. Der große Mann ist wütend, er zerrt dich hoch und schleift dich in den Müllraum. Er fesselt deine Hände und setzt dich in eine Ecke. Dann öffnet er die Außentür des Raums und hebt sie aus den Angeln. Scheinbar mühelos trägt er die große Metalltür zum anderen Eingang und platziert sie dort. Zwei der riesigen Müllbehälter werden dagegen gestellt und versperren so den Eingang. Ein dritter Behälter wird in den Eingang zur Straße geschoben. Er gibt perfekte Deckung für eine Schießerei.
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Die Frau war weggelaufen, natürlich zur Polizei. In wenigen Minuten würden sie da sein. Wenn sie beide erwischt hätten, wäre die Aktion noch besser gewesen, aber es ging auch so.
Sie hatten den Zeugen, das allein zählte. Er hatte alles genau durchdacht. Sie würden den Zeugen mitnehmen, um ihn seiner gerechten Bestrafung zuzuführen. Aber zuvor musste für klare Verhältnisse gesorgt werden. Er schaute über den Müllbehälter hinweg und konnte auf der anderen Seite des Platzes eine Gruppe von Polizisten erkennen. Sie gingen auf das Haus zu.
„Zeit für klare Verhältnisse!“, dachte er und wählte eine Nummer.
Ein blauer Kleinwagen, der auf dem Platz vor dem Haus gestanden hatte, explodierte. Die Polizisten gingen rasch in Deckung
„Auf dem Platz ist noch eine Bombe versteckt! Bleibt zurück und schickt einen Verhandler, dann wird niemandem was geschehen. Beeilt euch!“ schrie der große Mann über den Müllbehälter hinaus.
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Der Junge wirkt fast apathisch. Seit du in ihrer Gewalt bist, hat er keine fünf Worte gesprochen. Er scheint aber genau zu wissen, was er tut. Seine Hauptaufgabe ist wohl die Betreuung des beachtlichen Waffenarsenals der beiden. Jeder von ihnen hat eine Maschinenpistole und der Junge hat blitzschnell ein großes Gewehr zusammengesetzt. Außerdem verfügen sie über jede Menge Munition und Sprengstoff. Jetzt steht er etwa zwei Meter hinter dem Müllbehälter, so kann er von draußen nicht gesehen werden. Das Gewehr hält er bereit. Plötzlich reißt er es hoch und du verkrampfst dich. Wird er schießen? Wen wird er treffen?
Doch nicht! Das Gewehr sinkt wieder herab und du atmest tief durch. Er schaut kurz zu dir herüber. Auf seinem Gesicht keine Regung. Dir fällt auf, dass er außerordentlich gutaussehend ist. Du denkst an Heike, die ist auch gutaussehend. Sie wird leben, ist in Sicherheit. Das zu wissen, macht dir alles leicht. Dass du am Tag des Konzerts nicht unter den Toten warst, war schon ein Riesenglück. Und im Krankenhaus bist du auch gerettet worden. Du machst dir keine Illusionen, dein Glück ist aufgebraucht. Mehr als aufgebraucht, denn sie haben Heike nicht erwischt. Das macht dich froh. Heike ist nicht in Gefahr!
„Was werdet ihr mit mir machen?“ fragst du und der Junge schaut dich an. Ist da eine Spur von Mitleid in seinem Blick? Du hast keine Gelegenheit, es herauszufinden, denn der große Mann zischt den Jungen plötzlich böse an. Es handelt sich eindeutig um eine Starfpredigt, von der du natürlich kein Wort verstehst. Vielleicht hat es mit dem Verhandler zu tun, der gerade eingetroffen ist?
Eine knappe Stunde später ist die Polizei auf die Forderungen deiner Peiniger eingegangen. Ein Wagen wird euch zum Flughafen bringen, wo ihr ein Flugzeug besteigen werden, das mit unbekanntem Ziel starten wird. Sobald ihr im Flugzeug seid, erfährt die Polizei, wo sich die letzte Bombe befindet und wenn das Flugzeug am Ziel ist, sollst auch du freigelassen werden. Das hältst du für wenig wahrscheinlich.
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Der Erfolg war zum Greifen nah. In einer Stunde würden sie in der Luft sein, dann konnte kaum noch etwas schief laufen. Er ärgerte sich über den Jungen. Ein Weichling, nicht zu vergleichen mit den anderen, die er ausgebildet hatte. Andererseits würde genau dies zu seinen Gunsten gewertet werden. Trotz der mangelhaften Unterstützung würde er erfolgreich sein.
„Der Wagen ist bereit!“, rief jemand von draußen.
Wieder musste er sich ärgern, denn die Geisel stand von selbst auf. Er hatte sie hochreißen wollen und musste sich damit begnügen, sie hart am Kragen zu packen und ihr eine Pistole an den Hinterkopf zu halten.
Dann schnauzte er den Jungen an, der mit Sprengstoff geradezu bepackt war. Der schob den Müllbehälter hinaus und sie gingen hintereinander ins Freie.
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Er hält dich am Kragen gepackt und schiebt dich durch die Tür hinaus. Es regnet. Du magst Regen, aber nur wenn es windstill ist. Es stört dich nicht im Geringsten, dass du langsam nass wirst. Außerdem erinnert es dich an Heike. Ihr seid am Balkon gesessen und habt die Decke über euch gezogen. Du hast sie kichern gehört und dann habt ihr euch lang und innig geküsst...
Du hörst ein lautes Klicken und fährst herum. Einen Sekundenbruchteil siehst du noch das blanke Entsetzen im Gesicht des Jungen. Es fällt dir auf, dass er trotzdem sehr gutaussehend ist. Im nächsten Augenblick ist alles Lärm, Feuer und Licht. Du duckst dich ein bisschen und dann trifft dich etwas Schweres und du wirst nach hinten geschleudert. Geduldig wartest du, bis du liegst, dann stößt du die verkohlte Leiche von dir herunter und stehst auf, denn du willst fest gegen seinen Schädel treten und zwar mehrmals. Aber du lässt es bleiben, vor allem deshalb, weil er nicht mehr zu erkennen ist. Außerdem musst du den Regen genießen, der angenehm kühl ist auf der Haut. Du denkst an den Jungen.
„Es gibt keine Gerechtigkeit, nur Glück oder Pech“, denkst du und dann kommt eine Notarzt.
„Nein, danke! Ich gehe selbst“, sagst du. Der Notarzt erschrickt heftig und du entschuldigst dich sofort und erklärst, dass dein Hörgerät offenbar nicht funktioniert, was niemand verstehen kann, weil du jetzt viel zu leise sprichst. Dann haben alle verstanden und im Nu ist Papier und ein Kugelschreiber zur Verfügung. Der Notarzt beginnt wie wild zu schreiben und präsentiert dir sein Werk. Du reißt das Blatt ab, steckst es ein und nickst dem Notarzt beruhigend zu. Dann schreibst du in aller Ruhe Heikes Telefonnummer auf und: Hausärztin Dr Schön! Bitte schnell! Schließlich brauchst du ein neues Hörgerät, denn am Mittwoch seid ihr mit Freunden verabredet. Du bist weder tot noch entführt, also spricht nichts dagegen hinzugehen...
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Ein Jahr später, ein Uhr früh, minus ein Grad.. Du stehst auf dem Platz vor deinem Haus, genau dort, wo der Junge explodierte, wodurch du verschont bliebst. In deiner Hand eine Blume.
Ein Krieg ist zu Ende. „Viel zu spät für den Jungen“, denkst du.