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Paris, Neunzehnsiebzehn.
Agent Jenkins grinste, als er zur Tür des Vorzimmers hereinrauschte. "Ein reizender Tag, Miss Minipony."
"Scheißspruch, Mr. Jenkins. Und das wird höchste Zeit. Der Boss wartet. Und er ist wirklich, wirklich sauer." Miss Minipony hieß eigentlich Rita Bosinski und hasste ihren Job wie die Pest, vor allem wegen Typen wie Jenkins, die dauernd grinsten, wenn sie irgendwo reinkamen, dumme Sprüche rissen und ansonsten grundsätzlich alles vermasselten.
"Er ist doch immer sauer. Irgendwelche echten Neuigkeiten?"
"Ja. Ihr Anzug sieht echt scheiße aus. Grüne Ballonseide ..." Sie verzog angewidert ihr hübsches Gesicht. "Wie eine New Orleans Scheißhausfliege."
"Das ist Maßarbeit, Schätzchen!"
"Das war die erste Atombombe auch."
Das Büro des Chefs war ein Alptraum in tropischem Holz, facettierten Karaffen voller teurem Brandy und einer langen Wand voller Computerschirme. Der Chef war wie üblich ein Alptraum aus korinthenkackerischer "Erledigen Sie den Job vernünftig"-Einstellung und gut trainierten Stimmbändern.
"Jenkins. Sie sehen aus wie eine Scheißhausfliege. Ich hoffe, die Abteilung hat nicht für diesen Anzug bezahlt!"
"Natürlich hat sie."
"Das hatte ich befürchtet."
Jenkins räkelte sich in einem der flaschengrünen Ledersessel und goß sich einen Brandy ein. Das Leben als K.R.A.U.T.S.-Agent (Korrekte Revisions-Anstalt für Unerträgliche Temporale Schwachsinnigkeiten) war cool. Anstrengend, aber cool. Genau das richtige für coole Typen wie Jenkins.
"Wo drückt denn der Schuh, Scheffchen?"
"Ist Ihnen nichts aufgefallen? An unserer Wirklichkeit?"
"Ach, Sie meinen, dass derzeit mal wieder nichts so ist, wie es sein soll?"
"Sie haben es versaut, Jenkins. Dreimal dürfen sie raten, wer bei seinem letzten Einsatz einen verdammten Kugelschreiber vergessen und damit die ganze europäische Geschichte durcheinander gebracht hat? Schon wieder, sollte ich hinzufügen."
Jenkins vergaß für einen Moment das Grinsen. Mata Hari. Das verdammte Luder. Er hätte sich denken können, dass sie genug McGyver-Skills hat, um sich ein Fluchtfahrzeug zu bauen. Er hatte den Kuli erst vermisst, als er wieder vom Einsatz zurück war.
"Wie schlimm ist es?"
"Verdammt schlimm. Deutschland hat den 1. Weltkrieg gewonnen. Sie wissen, was das heisst."
"Nun, es erklärt das völlig bescheuerte Akronym für unsere Organisation..."
"Ich will, dass sie zurückgehen und die Sache in Ordnung bringen. Mittlerweile werden selbst unsere Bunker hier instabil."
Jenkins seufzte, kippte seinen Brandy und schraubte sich aus dem Sessel. "Bin schon unterwegs. Wollte sowieso wieder mal dort vorbeischauen."
"Und machen Sie nicht noch mehr Unsinn."
Jenkins klaute sich eine Zigarre aus der Kiste von Chefschreibtisch. Als er an der Tür war, bellte der Chef ihm noch einmal hinterher: "Und Jenkins!"
"Ja?"
"Sehen Sie zu, dass Sie diesen verdammten Anzug loswerden. Verbrennen und den Schneider inhaftieren, verstanden?"
"Ja, Sir..."
Die Abreisehalle war mal wieder in der üblichen Hektik versunken. Mechaniker, die mit Werkzeug rumpolterten, Programierer, die ihre Laptops anschlossen und wichtig auf Tastaturen einhackten. Dazwischen Zeit-Agenten, die in unmöglichen Kostümierungen an ihren Kapseln lehnten, Martinis schlürften und Zigaretten rauchten. Jenkins schlängelte sich durch das Gewühl. Direkt vor seinen Füßen fiel soeben ein Agent aus seiner Kapsel, über und über mit Ruß und Kuhdung bedeckt. Um ihn herum die Überreste einiger Räucherschalen und Tempeljungfrauen. "Hey, Schmitti", polterte Jenkins jovial, während er über ihn hinwegstieg, "kannst nich genug kriegen von Babylon, oder?"
Er steuerte auf seine eigene Kapsel zu. Max der Mechaniker war gerade damit beschäftigt, leere Bierdosen, die auf dem Rand der Kapsel aufgereiht waren, mit einer Steinschleuder abzuschießen. Er war eben ein echter Profi, der wusste, was von ihm erwartet wurde.
"Max!" Ein Stein flog daneben und traf etwas Wichtiges an der Steuerelektronik der Nachbarkapsel. Ein Zischen, ein Rauchwölkchen. Brodkin würde es gefallen im Mesozoikum.
"Käpt'n?"
"Anheizen! Paris, Oktober 1917. Ich muss einen Kugelschreiber einsammeln."
"Also das Übliche." Max grinste.
"Keine Anspielungen, Max." Jenkins begann sich aus dem Anzug zu schälen. "Und sieh zu, dass du diesen Anzug los wirst."
"Sie sind nicht Mata Hari..." Jenkins tat, was er am besten konnte: Gut aussehen und verständnislos glotzen. Er hatte Paris 1917 etwas anders in Erinerung. Vor allem die fliegenden Autos irritierten ihn. Da schien ja jemand ganz gewaltig was vermasselt zu haben...
"Nein", sagte die Blondine, die in einem Minikleid auf dem Diwan des Plüschsalons lümmelte und Halluzinogene durch einen Digital-Inhalator atmete. "Ich bin Kitty Schröder. Möchten Sie Sex?"
"Hrngfh ... Kugelschreiber...", sabberte Jenkins, die Kinnlade auf den Teppichfransen.
"Ich kenne neunzehn verschiedene Methoden, jemanden mit einem Kugelschreiber zum Orgasmus zu bringen. Oder zu töten. Oder beides."
"Manchmal muss ein Mann eben tun, was sein Land von ihm verlangt..." Hätte es im Raum ein Kaminfeuer gegeben, wäre das der richtige Moment gewesen, einen Kameraschwenk dorthin zu machen. So gab es stattdessen eine abscheuliche Sexszene, in deren Verlauf Jenkins mehrmals den Namen seiner Mutter rief. Kitty Schröder schien es allerdings nichts auszumachen, mit "Brunhilde" angestöhnt zu werden. Am Schluss zündete sie sich eine Zigarette an und ließ den bewußtlosen Jenkins von zwei Schergen fesseln und in ihr Anti-Grav-Vehikel schaffen.
Jenkins hatte miese Laune. Er war unausgeschlafen, nüchtern und gefesselt, und bisher hatte ihm absolut niemand einen Drink oder was zu rauchen oder spontanen Sex mit anschließender spektakuläler Flucht aus dem sich selbst zerstörenden Hauptquartier des Oberbösewichts angeboten. So gingen die Standards vor die Hunde.
Kitty Schröder führte ihn ins Wohnzimmer der unterirdischen Welteroberungsgeheimzentrale von P.U.S.S.I.E. (Parasitäre Unabhängige Sekte zur Sexuellen Infiltration Europas). Dort saß Mata Hari auf einem Rattansessel und schlürfte Pina Colada aus einem handgeformten Tonbecher. Auf Bildschirmen hinter ihr flimmerte ein Dokumentarfilm über italienische Kircheneinstürze.
"Sollten Sie nicht eine weiße Katze auf dem Schoß haben?" fragte Jenkins übellaunig.
Mata Hari grinste und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Das Rattan knarzte zufriedenstellend. "Albernes männliches Kompensationsgehabe. Sollte ich das Bedürfnis haben, eine Muschi zu streicheln ... aber lassen wir das."
"Was haben Sie in Paris angestellt? Das gesamte Kontinuum ist durcheinander. Alles wegen dem blöden Kugelschreiber..."
"Seien Sie nicht albern, Agent Jenkins! Der Kugelschreiber war nur ein Werkzeug meines Aufstiegs. Das und die Tatsache, dass du im Schlaf redest, Süßer. Ich benutzte den Kugelschreiber, um eine Konstruktionszeichnung der Zeitmaschine anzufertigen und so das Geheimnis dieser Technologie zu stehlen."
"Aber das ist unmöglich. Du hattest doch höchstens ein paar Minuten Zeit, bevor ich damit abgehauen bin..."
Ein weiteres Grinsen, Zurücklehnen, Rattanknarzen. "Ich hatte doch irgendwann eine Zeitmaschine - so konnte ich zurückkehren und hatte alle Zeit der Welt."
"Aber das ... geht doch gar nicht." Jenkins war die Schlaffheit seiner Argumentation durchaus bewusst. "Das ... das ... ist ein unerlaubtes Paradoxon!"
"Verklag mich doch, Süßer!"
"Damit wirst du nicht durchkommen!"
"Ich bin schon damit durchgekommen. Und jetzt schau ich halt mal, wie weit ich noch komme. Und dank eines genialen Plans, den ich bestimmt nicht so blöd sein werde dir zu erklären, wird mir K.R.A.U.T.S. dabei nicht in die Quere kommen. Schafft ihn weg!"
Kitty Schröder tauchte wieder auf und packte Jenkins am Schlafittchen. "Das Übliche?" fragte sie ihre Chefin.
"Sicher doch."
Jenkins sah zu Kitty. Sie machte nicht den Eindruck, als beabsichtigte sie, ihm Sex plus Flucht anzubieten. Wahrscheinlich nicht mal einen Martini. Er war in echten Schwierigkeiten.
Weiße gestärkte Laken. Halbdunkel. Frieden. Die leise Stimme des Arztes: "Dann glauben Sie also jetzt, dass es keine Zeitmaschinen gibt?"
"Natürlich nicht. Wie albern. Ich muss verrückt gewesen sein, sowas zu glauben..."
"Natürlich sind sie verrückt. Deshalb sind Sie ja hier."
"Was immer Sie sagen, Doc. Könnte ich noch einen Martini haben?"
"Nicht vor dem Abendessen, Agent Jenkins!"
"Mist."
Der Doktor erhob sich vom Bettrand, blickte mitleidig auf seinen Patienten herab, wie es sein Job verlangte, und wandte sich dann an die Schwester. Sie war eine adrette Blondine, ganz in gestärktem Weiß, mit einem netten Häubchen. Sie hatte ein klein wenig Ähnlichkeit mit Kitty Schröder.
"Schwester, würden Sie bitte mal kurz nachsehen, wie es unserem Patienten morgen gehen wird? Damit ich weiß, ob ich die Medikation gleich richtig dosiere."
Die Schwester lächelte ein sardonisches kleines Lächeln. "Ist bereits erledigt, Doktor. Der Patient war morgen gegen Abend verstorben."
"Oh. Na, dann werde ich wohl gleich einen fatalen Fehler machen. Wie peinlich." Der Doktor notierte etwas auf einem Klemmbrett und ging zusammen mit der Schwester hinaus.
Jenkins wandte sich auf dem gestärkten Laken hin und her. Alles war unwirklich und verwirrend. War er verrückt? Oder war das ein Trick von P.U.S.S.I.E.? Dann dachte er an den Anzug. Nun war alles klar: Das musste die Vision eines Wahnsinnigen sein. Kein Mensch würde jemals so einen scheußlichen grünen Anzug tragen. Er war also doch nur verrückt. Dann war ja alles gut. Er zerrte der Form halber ein wenig halbherzig an den Gurten, mit denen er am Bett festgeschnallt war, und lachte und lachte, bis er heiser war.
[Thema des Monats Dezember 2006: Zeitreise]