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Es ist eine Art Kurze Geschichte geworden. Ich hoffe sie gefällt euch. Würde mich über konstruktive Kritik freuen.
Paris Cherry
Ein letztes Mal zog ich den knall roten Stift über meine Lippen. Mein Meisterwerk war fertig und mit diesem einen letzten Strich veränderte sich etwas in mir. Es war wie die letzten Male. Ein unglaublicher Adrenalinstoß durchfuhr meinen Körper. Mein Herz klopfte schneller bei dem Gedanken an das Folgende. Ich steckte den Lippenstift in die kleine Schwarze Tasche, die ich auf den Rand der Badewanne gelegt hatte. Paris Cherry. Das tiefste Rot, das ich jemals gesehen hatte. Ein letztes Mal blickte ich mein Spiegelbild. Verrückt, was ein wenig Concealer, etwas Lidschatten und ein Hauch Rouge verändern konnten. Selbst meine Mutter hätte wahrscheinlich Probleme gehabt, mich jetzt zu erkennen. Das war aber auch das Ziel gewesen. Niemand durfte mich erkennen. Das würde alles zerstören.
Leise tapste ich die Stufen hinunter. Meine Eltern würden bis spät in die Naht den 60. Geburtstag eines Freundes feiern und meine Brüder waren beide über das Wochenende weg. Meine schwarzen High Heels standen schon fertig vor der Haustür. Elegant glitt ich in die Schuhe und öffnete die Tür. Der kalte Wind der Nacht bies mir entgegen. Eine Jacke nahm ich nie mit. Beim Tanzen störte sie nur, außerdem war die Kälte angenehm auf meiner Haut. Die wenigen Meter zur Bushaltestelle lief ich immer. Der Bus war zu dieser Uhrzeit immer sehr leer. Nur wenige Jugendliche saßen in den letzten Reihen. Auch sie waren auf dem Weg zu den verschiedenen Partys in der Stadt.
Eine viertel Stunde später verließ ich den Bus wieder. Schon von weitem konnte ich die laute Musik des Clubs hören. Es war ein guter Song. Der laute Bass ließ meinen Körper vibrieren. JDNJT-Club, stand in großen Leuchtbuchstaben über dem Eckhaus. Ohne zu zögern trat ich hinein. Eine Alkoholfahne zog an mir vorbei. Das laute Kreischen und Gegröle der Jugendlichen und Studenten drang in meine Ohren. Eigentlich hasste ich laute Orte, doch hier fühlte ich mich immer wohl. Es war sicherlich nicht die einladenste Gesellschaft, doch hier kannte mich niemand. Niemand urteilte über mich, niemand sah mich mit diesem abwertenden Blick an. Sie alle sahen mich nur als gutaussehende, junge Frau, die ein wenig feiern wollte. Zielstrebig ging ich zur Bar. Mit meinem Alter konnte ich mir lediglich ein Bier bestellen. Ich wusste zwar, dass die Barkeeper es hier mit dem Ausweis nicht so ernst nahmen, doch ich wollte erstmal Herr über meinen Verstand bleiben.
„Kann ich dir etwas ausgeben?“ Ich drehte mich zu dem Mann, dem die tiefe, raue Stimme gehörte. Ich war überrascht, als ich ihm in die Augen sah. „Ich habe schon etwas bestellt“, sage ich mit einem Schmunzeln, „Aber vielleicht beim nächsten Drink.“ Der Junge fuhr sich durch seine Haare. „Da freue ich mich schon drauf.“ Ich liebte sein Lächeln. „Du kommst mir irgendwie bekannt vor. Wie heißt du?“ Ich nippte an meinem Glas. Wenn er wüsste, wer ich war, würde er sicherlich laut loslachen. „Man nennt mich Serena.“, antwortete ich auf seine Frage, ohne auf seine Aussage einzugehen. „Das ist ein schöner Name, aber ich könnte schwören, dass ich dich irgendwoher kenne.“ Ich brauchte keine Angst haben, dass er mich wirklich erkannte. Der Gedanke, dass das kleine schüchterne Mädchen, ohne Stil, dass in jeder Englisch Stunde neben ihm saß, hier in einem kurzen, schwarzen Kleid mit ihm flirtete, war zu paradox. „Ich bin öfters hier.“ Die Antworten waren knapp, ich wollte nicht zu viel von mir Preisgeben. „Wollen wir tanzen?“ Die Frage kam überraschend. Wenn ich jetzt ‚Ja‘ sagen würde, könnte ich einen Punkt auf meiner Bucketlist streichen, den ich schon vor Monaten hinzugefügt hatte. Ich war aber immer der festen Überzeugung gewesen, dass der Punkt wie der vielen anderen nur ein lächerlicher Traum bleiben würde. „Ja, sehr gerne.“ Ich nahm seine Hand entgegen und ließ mich von ihm auf die Tanzfläche ziehen. „Ich warne dich aber, ich bin keine besonders gute Tänzerin und ich habe spitze Schuhe an.“ Ich deutete auf meine schlichten High Heels. „Soll das jetzt eine Warnung sein?“ Ich legte meine Hände in seinen Nacken. „Vielleicht.“
Mein Körper sprudelte nur so vor Dopamin. Es war ein so berauschendes Gefühl. Jeden Tag, an dem ich in der Klasse neben ihm saß, hatte ich jedes Mal den großen Wunsch, dass er nur mit mir reden würde und jetzt tanzte er mit mir. Er sah mich so an, wie er die hübschen Mädchen aus unserer Parallelklasse immer ansah. Ich lachte ihn an. Ich wusste, dass ich schön lächeln konnte. Nur hatte er mein Lächeln sicherlich noch nie gesehen. Es war schon traurig, dass er mich nur so ansah, weil ich mich heute wirklich schick gemacht hatte. Wenn ich in dem Outfit gekommen wäre, welches ich heute Morgen angehabt hatte, würde er mich sicherlich auslachen. Diese Situation war eigentlich zum Weinen, denn immerhin zeigte sie, dass in der heutigen Gesellschaft nichts mehr zählte, als das Aussehen. Diesen Gedanken versuchte ich so schnell wie möglich in die letzte Ecke meines Kopfes zu verbannen. Ich wollte diesen Moment genießen, denn er war einzigartig. Dieser Augenblick würde niemals wiederkommen. „So schlecht kannst du doch gar nicht tanzen.“ Er drehte mich einmal um die eigene Achse. „Heute habe ich einen guten Tag.“ Ich strich ihm mit meiner Hand über seine Wange. Ich musste jede Berührung auskosten. „Gehst du in die Oberstufe?“ Ich hasste diese Fragen, denn umso mehr Fragen er stellte, desto öfter musste ich ihn anlügen. „Nein, ich gehe noch in die zehnte“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Ich bin mir sicher, die Jungs aus deiner Klasse reißen sich darum auf dem Abschlussball mit dir zu tanzen.“ Er lächelte so schön, während er das sagte. Wenn er nur wüsste, dass ich mir jeden Tag aufs Neue ausmalte mit ihm auf unserem Abschlussball zu tanzen. Niemand hatte mich bis jetzt gefragt, ob er mit mir tanzen wollen würde. Wahrscheinlich würde ich am Ende mit meinem Bruder die Treppen hinunter gehen. Ich wusste, dass mich auch in den nächsten Wochen niemand fragen würde, denn niemand würde mit einem Mädchen wie mir freiwillig ausgehen. „Ich habe mich noch nicht festgelegt.“ Ich lächelte ihn an. „Lass uns noch etwas trinken.“ Ich führte ihn an seiner Hand zurück zur Bar. Er bestellte für uns zwei Gläser Wodka, obwohl ich mich erst dagegen sträubte. Ich sagte ja, dass die Barkeeper es hier mit dem Ausweis nicht so ernst nahmen. Wir stießen an und tranken die Gläser ziemlich schnell leer. Es folgten weitere Gläser. Mein Verstand war inzwischen schon ein wenig benebelt.
„Ich liebe deinen Lippenstift. Wie heißt der?“, lallte er schon wenig. „Paris Cherry. Ist Wasserfest.“, sagte ich mit einem leichten französischen Akzent. Ich schmunzelte ihn an. „Gut zu wissen.“ Ohne zu zögern, beugte er sich zu mir herüber und legte seine Lippen auf meine. Es war kein sonderlich romantischer Kuss. Wir saßen immerhin angetrunken in einem Club an der Bar. Es war mein erster Kuss, doch das sagte ich ihm natürlich nicht. Es war der Kuss, von dem ich seit Monaten träumte. Natürlich hatte ich mir gewünscht, dass wir uns zu zweit einen Sonnenuntergang am See anschauen würden, aber ich küsste hier gerade den Mann meiner Träume da war die wohl Kulisse völlig egal. Blöd nur, dass er keine Ahnung hatte wer ich wirklich war. Wir lösten uns viel zu schnell wieder voneinander. Schon Sekunden nach dem Kuss, sehnte ich mich wieder nach seinen Lippen. „Du kannst wirklich gut küssen.“ Sein Lächeln war nicht mehr so schön wie am Anfang des Abends. Der Alkohol hatte es ruiniert, aber er sah trotz allem immer noch so wunderschön aus. Ich hätte ihm so gerne erzählt, wer ich wirklich war, doch das hätte den Abend nur unnötig kompliziert gemacht. Außerdem wollte ich am Montag in der Schule nicht als Schlampe der Schule dastehen, auch wenn es natürlich nicht stimmte, denn das Mädchen, welches gerade den süßesten Typen der Klasse geküsst hatte, war nicht das Mädchen, welches am Montag wieder zur Schule gehen würde. Das ganze hier war ein Spiel, ein Spiel, welches ich jede Woche erneut spielte. Das er nun in das Spiel mit eingetreten war, war ein großartiger Bonus. Die letzten Male hatte ich zwar auch mit Jungs geflirtet, aber geküsst hatte ich sie noch nie. Es war einfach schön, die anstrengende und zerstörende Welt aus Lügen nur für ein paar Stunden verlassen zu können. Hierher zu kommen, wo ich mir nicht die lästigen Kommentare von irgendwelchen Schülern anhören musste, die glaubten, etwas Besseres zu sein und mich fertig machen zu dürfen, war wie eine Befreiung für mich. Hier tanzten die Menschen gerne mit mir. Sie gaben mir Drinks aus und unterhielten sich mit mir. Sie kannten mich nicht und das war es was ich so sehr mochte. Die Menschen hier hatten keine Vorurteile gegenüber mir. Sie sahen mich so, wie ich mich hier zeigte. Er sah mich jetzt gerade so und das gab mir das Gefühl, dass ich eigentlich nicht so war, wie sie es mir in der Schule immer zeigten. Die Schule war ein Ort voller negativer Einflüsse. Manche erschufen diese und andere wurden ihre Opfer. Das war ein ewiger Kreislauf und nur hier, in diesem kleinen Club konnte ich diesem Kreislauf entfliehen.
Mein Handy fing an zu piepen. Es war schon nach Mitternacht. Meine Eltern würden bald nach Hause kommen und das hieß, dass dieser Abend nun vorbei war. „Ich muss jetzt gehen.“ Ich legte das Geld für meine Getränke auf den Tresen. „Es war ein sehr schöner Abend Serena. Vielleicht treffen wir uns ja Mal wieder. Ich kann dir meine Nummer geben.“ Er machte Anstalt sein Handy aus seiner Hosentasche zu fummeln. „Vielleicht früher als du denkst.“ Ich lächelte ihn noch einmal an, bevor ich meine Tasche nahm und meine heile Welt verließ. Ich hatte seine Nummer schon, nur wusste er das nicht.
Der Nachtbus brachte mich nach Hause. Ich war noch pünktlich und ein par Abschminktücher später war ich wieder das unscheinbare Mädchen aus der Schule.
Am Montag sah ich ihn wieder. Er redete mit einem der Mädchen aus meiner Klasse. Sie amüsierten sich. Mich hatte er noch kein Mal angesehen und das, obwohl er mir am Freitag noch seine Zunge in den Hals gesteckt hatte. Es war wie immer und doch irgendwie anders.