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Paradies
Sophia läuft neben mir. Sie redet pausenlos und so leise, dass die Geräusche der Stadt ihre Worte übertönen. Nur selten erreichen mich Fetzen.
„ ... geht nicht ... vergessen ... muss man doch Buße tun ... “
„Wofür muss man Buße tun?“
"Die sind doch ganz arm ... "
Ein Auto fährt vorbei, jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Spreche selber ganz laut.
"Arm? Wer ist arm?"
Sie dreht den Kopf weg, murmelt, wartet und lauscht. Ich weiß, sie braucht mich nicht, die Stimmen in ihrem Kopf sind ihr genug. Aber so schnell gebe ich nicht auf. Ich schaue sie von der Seite an.
„Schön, dass es endlich mit dem Friseur geklappt hat.“
In ihre Locken mischen sich die ersten grauen Strähnen. Sie passen nicht zu ihrem Kindergesicht mit den weichen, blauen Augen. Für einen Moment stockt sie, sieht vage in meine Richtung. Ich lächele.
„Jetzt können Sie wieder viel besser sehen. Ihr Pony war schon so lang.“
Sofort murmelt sie etwas von „ ... Operation am offenen Schädel, das hält man doch nicht aus, und Jesus hat gesagt ... "
Während wir weitergehen, hält sie den Kopf gesenkt, scheinbar blind für den schönen Augusttag. Aber ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass sie jede Katze im Umkreis entdecken würde, und befände sie sich hoch oben hinter einer Fensterscheibe.
Manchmal, wenn wir zusammen unterwegs sind, bleibt sie abrupt stehen, worauf ich aus der Trance erwache, in die sie mich geredet hat, und ihrem Blick folge. Immer ist es eine Katze. Sophia lockt sie in einem monotonen Singsang, so als würde sie jemanden nachahmen, der eine Katze lockt.
Heute sehen wir keine Katze. Die haben sich bei der Hitze bestimmt alle im Schatten verkrochen. Zwei Kreuzungen weiter erreichen wir den Tabakladen. Durchs Fenster erkenne ich die Inhaberin und freue mich, dass sie selbst da ist. Sie kennt Sophia gut.
Als sie Sophia vor fünf Jahren bei uns im Wohnheim untergebracht haben, war ihr Leben zum Stillstand gekommen. Unvorstellbar, dass sie einmal kurz vor dem Abitur gestanden hatte.
Es war allein ihre Sucht nach Nikotin, die stärker war als der Drang, die Tür hinter sich zu schließen, unter die Bettdecke zu kriechen und sich die Hände auf die Ohren zu pressen. Und so gingen wir irgendwann Tabak kaufen. Das ist jetzt vier Jahre her.
Vor drei Jahren betrat sie zum ersten Mal den kleinen Laden anstatt draußen zu warten. Seit vorletztem Jahr legt sie den Einkaufszettel und das Geld auf den Tresen, und seit einiger Zeit bin ich es, die draußen wartet, während Sophia drinnen angestrengt ihren Spruch aufsagt.
Und heute, beim Rausgehen, wendet Sophia sich unvermutet um und winkt zum Abschied ein scheues, steifes Kinderwinken. Die Verkäuferin winkt so heftig zurück, dass Sophia sich die Hand vor den Mund hält und kichert. Vor lauter Begeisterung werde ich übermütig.
„Wir können heute doch mal woanders längs gehen, das Wetter ist so schön.“
Ich gehe einfach los, so als wäre das ganz normal, ignoriere den kleinen entsetzten Ausruf hinter mir. Aber dann folgt sie mir zögernd. Ich bin beinahe erschrocken und zugleich gerührt. Am liebsten will ich Sophia an die Hand nehmen, ihr die ganze Welt zeigen, die für sie so klein geworden ist. Die anderen werden staunen. Nicht zu überhören ist allerdings ihr Unbehagen. Wir sind auf dem falschen Weg. Eine Straße weiter gelangen wir in die Villengegend der Stadt.
Hier wird es ganz ruhig, nicht einmal Autos fahren vorbei. Sophia senkt ihre Stimme zu einem tonlosen Flüstern, setzt widerstrebend einen Fuß vor den anderen. Ab und zu mache ich sie auf besonders schöne Rosenstöcke aufmerksam, auf kunstvoll beschnittene Buchsbäumchen, die die kleinen Vorgärten einrahmen, direkt dahinter die prächtigen Häuser. Sie blickt kaum hin.
„wage es nicht, niemals, nicht, niemals ... “
Die Sonne steht an ihrem höchsten Punkt. Es ist so hell, dass das Pflaster blendet. Ich trage einen Sonnenhut, mit dem ich aussehe wie eine bleiche Engländerin, weil die Biosonnencreme mein Gesicht kalkweiss gefärbt hat. Sophia ist blass, weil sie fast nie ihr Zimmer im Wohnheim verlässt.
„ ...Amen ... “ Sie scheint einen Moment zu lauschen. „Amen, Amen, Amen.“
Nun bleibt sie alle paar Schritte stehen, um sich zu bekreuzigen. Ich warte auf sie.
„Schön hier, nicht?“
Wieder bekreuzigt sie sich, zieht ihre Hose hoch und fällt von einem Schritt in den nächsten. Murmelt etwas von Mittagessen, vergiftet, zu spät.
„Keine Sorge, wir schaffen das“ ,sage ich schnell, glaube aber selbst nicht ganz daran, ich hatte den Umweg nicht eingeplant, und wir verlieren Zeit, weil wir ständig stehen bleiben. Außerdem muss Sophia vor dem Essen noch eine rauchen. Gott erlaubt es ihr nur auf dem Gelände des Wohnheims zu rauchen.
„Wage es nicht“ ,fängt sie wieder an „wage es nicht, niemals, nicht, niemals, nicht ... “
Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr, und es dauert einen Moment, bis mir bewusst wird, was da passiert. Sophia hat langsam, fast träge eine Hand in die andere gelegt und begonnen, in ihrer Handfläche zu kratzen. Die Haut ist schon gerötet rund um die weißen Narben. „Die Fremden“ ,murmelt sie „die Fremden ... “
Um ihren Mund liegt eine Spannung, die ich schon fast vergessen hatte. Ich versuche zu erkennen, wie kurz ihre Fingernägel geschnitten sind. Wenn sie anfängt, heftiger zu kratzen, wird sie bluten, und ich habe kein Pflaster mit, nicht mal Tempos. Wir hätten sofort zurück gehen sollen.
„Hat sie Ihnen auch genug Tabak in die Tasche getan?“ frage ich schnell. „Sechs Pakete?“
Sie öffnet die Tasche und beginnt umständlich zu sortieren. „Eins, zwei, drei, vier, fünf... ja genug.“
Sobald die Tasche wieder über ihrer Schulter hängt, irrt ihr Blick die Straße hinunter, bevor er sich auf den Bürgersteig zu ihren Füßen heftet. Dann presst sie ihre Fingernägel in ihre Hand, murmelt Unverständliches.
„Wir sind bald da, Sophia. Dann gibt's Mittagessen. Bestimmt was Leckeres. Da hinten, nach dieser Kurve sind wir schon fast da.“
Ich höre selbst diese falsche Munterkeit in meiner Stimme. Sie kratzt, und ich greife zum letzten Mittel, ich hasse das.
„Sollen wir beten?“
Sofort steht sie ruhig da mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf.
„Vater unser im Himmel ... “
Jetzt spricht sie ganz laut und überbetont, ich bin froh, dass die Straße menschenleer ist. Dreimal sprechen wir zusammen das „Vaterunser“, dann gehen wir weiter, ich immer einen Schritt voraus, in der vergeblichen Hoffnung, Sophia zu beschleunigen. Sie wirkt immer noch angespannt, betet in einem fort, ihre Hand umklammert den Riemen der Tasche, und so nähern wir uns, quälend langsam, dem Ende der Straße.
Bevor wir es erreichen, bleibe ich mit einem leisen Aufschrei stehen. Berühre Sophia sogar am Arm, worauf sie prompt zurückzuckt. Direkt vor unserer Nase, in einem schmalen Vorgarten, geschieht ein Wunder. Ich wette, in der ganzen Stadt gibt es keine Schmetterlinge mehr. Sie drängen sich alle auf diesem einzigen Strauch, es sind Hunderte, die lautlos, ihrer Schönheit nicht bewusst, Nektar aus den violetten, honigduftenden Blüten saugen. Je länger ich schaue, desto mehr sehe ich, immer noch flattern welche heran, finden auch Platz, zittern mit den Flügeln, Pfauenaugen, Admirale, Zitronenfalter und unbekannte, deren Farben in der Sonne geheimnisvoll, pudrig leuchten. Während ich mich beinahe überschlage vor Begeisterung, verzieht Sophia keine Miene. Bis ich jäh verstumme.
Wie ein Flaschengeist erhebt sich unvermutet, auf dem steinernen Balkon hinter dem Flieder, ein Mann. Ich blicke auf seinen mächtigen, nackten, schwarzbehaarten Oberkörper, und schlucke. Spüre, wie Sophia neben mir erstarrt.
Er wirkt irritiert.
„Wir bewundern gerade Ihren Schmetterlingsflieder“ ,rufe ich etwas zu schrill und hoffe, damit auch Sophia zu beruhigen, ich habe alles im Griff.
Er schüttelt den Kopf, er versteht mich nicht, immerhin verziehen sich seine Lippen zu einem höflichen Grinsen.
Ich zeige auf den Flieder.
„Schön!“
„Ahh!“ Sein Grinsen vertieft sich verheißungsvoll. Er tritt einen Schritt vor. Lehnt sich weit über das Geländer. Packt mit beiden Pranken den Stamm des Flieders. Und schüttelt brutal.
Es rauscht, als Hunderte von Schmetterlingen mit Schleudertrauma auffliegen. Wie eine Wolke stehen sie in der Luft, die von unzähligen Flügelschlägen zu vibrieren scheint, streben auseinander, steigen auf und nieder, umflattern den Mann, der strahlt wie ein Gott.
Als ich meine Gesichtszüge wieder im Griff habe, stoße ich Begeisterungsschreie aus, übertriebene, spitze Begeisterungsschreie, auch um Sophias absolute Regungslosigkeit neben mir auszugleichen. Er breitet die Arme aus, in seinem Mund glänzt Gold, in seiner Achselhöhle schlängelt sich was Tatöwiertes. Ich juchze, er freut sich, ich juchze nochmal, er freut sich wieder, dann winken wir uns zu, bevor Sophia und ich unseren Weg fortsetzen.
Wir gehen an mehreren Gärten vorbei, bis mir auffällt, dass sie schweigt, die ganze Zeit schon. Ich räuspere mich.
„Na, das war ja was.“
Ich glaube, sie ist selbst überrumpelt. Jedenfalls wedelt sie mit der Hand, wie um es abzuwenden. Doch dann prustet sie los, so laut und so ansteckend, dass es mich sofort mitreißt. Und für einen Moment sind wir in der Hitze dieses Sommertages einfach zwei lachende Frauen.