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Papierkugelkrieg
In der siebten Klasse haben wir die leeren Tintenpatronen aus unseren Füllern in den Federmäppchen gesammelt, um uns daraus später kleine Blasrohre für selbtzerkaute Papierklümpchen zu basteln. Das war schon die nächste Stufe nach der Phase mit den Linealen gewesen, die als Wurfgeschosse dienten für alles, was an der Decke des Klassenzimmers haften konnte. Mit den Blasröhrchen haben wir uns gegenseitig beschossen und nicht zuletzt unsere Mitschüler. Das hatte natürlich den Effekt, dass die “Gegenseite” aufrüstete und in der Frühstückspause die Strohhalme aus der Kantine stahl, um in der Mittagspause über drei Tischreihen hinweg zurückzuschlagen.
Ich bin immer ganz vorn dabei gewesen.
Von meinen Schuhen perlt Pfützenwasser, aber die Füße sind trocken geblieben. Bedächtig folge ich meinem Vordermann, den Blick noch immer zu Boden gerichtet, auf den Abtreter, streife die Dreckspritzer erst vom rechten, dann vom linken Fuß ab, greife zum mir entgegen schwebenden Türgriff und halte die Tür mit meiner rechten Schulter auf. Ich reiche ihm die linke Hand, blicke auf und lächle ihn liebevoll an. Er bedankt sich und tritt ebenfalls ein. Der Saal sieht toll aus, stellen wir fest, als wir der Tür den Rücken zukehren, um uns zu orientieren. Die Fenster sind riesig, das Dunkelrot der schweren Samtvorhänge wirkt im milden Frühlingsmorgen-Sonnenlicht ganz leicht und kirschig, die gewaltigen Kronenleuchter drohnen stolz über den ordentlich zu Sitzreihen aufgestellten Stühlen, die in ihrer Neumodischkeit nicht so ganz ins Bild passen. Ich ergötze mich an den uralten Wandbildern und an dem Stuk, der diese atemberaubend ziert, inhaliere den Duft des alten Mauerwerkes, der sich mit dem des frischen Kaffees mischt, folge ihm mit genügsamen Blick zu seiner Ursprungsquelle, verweile einen Augenblick und muss wieder kurz lächeln. Die Dame, die den Kaffee ausschenkt, hat ein blau-rotes Haarband in ihrem blonden Franzosenzopf, ihre Wängchen leuchten rot und sie strahlt über beide Ohren, als sie dem Herren im dunkelbraunen Jacket vor ihr den Kaffee reicht. Ich bin zufrieden, denke ich, ja, so soll es sein, ich drücke die Hand, die noch immer in meiner verweilt, etwas fester und nicke und lache.
Direkt hinter mir brüllt ein Kellner, er habe die Strohhalme gefunden und als ich mich im Schreck nach ihm umdrehen will, wird mein Blick ungefähr auf der Hälfte des Weges am Tisch neben dem Eingang zum Speisesaal aufgehalten, ich atme nicht, wo, ich atme nicht.
Du hast die Haare anders, hoch und blond, du hast ein Tattoo am linken Unterarm, größer vermutlich, ich kann es nicht genau erkennen, der Ärmel vom Hemd rutscht nur etwas nach oben, als du den Milchkaffee an deinem Mund ansetzt, um vorsichtig darüber zu pusten. Das zarte Mädchen neben dir redet sanft auf dich ein, während sie deine Jacke haltend etwas darin sucht, du lächelst und antwortest nicht, du trinkst einen Schluck aus deiner Tasse und liest dabei die Übersicht zum Tagesprogramm an der Tafel auf der anderen Seite des Durchgangs neben der Kaffeebar.
Ich drehe mich zu ihm, entkrampfe meine Hand und seine. Ich suche keinen Halt in seinen Augen, ich suche Verstehen.
Dein suchender Blick geht in die Leere. Auf den kleinen Wellen tanzen ungeduldig riesige Bilder, bedrohlich, trampelnd, auf und ab, unruhig – als warteten sie auf den einen Moment zu springen, heraus aus der Starre, projezierend auf jemanden, den du kennst, hineinkriechend in jemanden, den du zu kennen glaubst.
Der Kellner drückt mir einen Latte Macchiato in die Hand und steckt noch schnell mit stolzem Blick einen Strohhalm nach. Er lacht mich an und entschuldigt sich, seine Wangen rosé, er ist noch ganz jung, gerade 17-18 Jahre vielleicht, ein bisschen nervös, dafür aber sehr zuvorkommend und freundlich. Ich bedanke mich einsilbig, was habe ich getan, wo ist das verdammte Papierkügelchen, frage ich mich und taste unwillkürlich meine Jackentasche danach ab.
Dein Blick trifft mich seitlich, als ich den zweiten Schluck aus meinem Latte Macchiato nehme. Wahllos rauschen Bilder auf mich herab, mit ganzer Kraft werfen sie sich aus der Bahn, mit ihrer ganzen Wucht krachen sie auf mich nieder, Ziel gefunden. Leicht taumelnd greife ich wieder nach seiner Hand, die ich loslassen musste, als der Kellner den Strohhalm in das Glas gesteckt und dabei etwas unvorsichtig daran geschoben hatte. Luft, keine Luft, nicht Atemnot, nur Stillstand, nicht mal Panik, ich krampfe und schaue vorsichtig zu dir. Du bist ganz weich. Du winkst nicht oder lachst, du bist nur weich. Einen Moment schaust du wieder zu der Kleinen neben dir, antwortest ihr auf etwas, das sie in das Programmheft in ihrer Hand spricht und wendest den Blick währenddessen wieder mir zu. Die Bilder fließen langsam und wohlwollend in mich hinein, diffundieren, ganz vorsichtig, aber sicher, Ziel gesichert.
Ich kenne niemanden, der Zuneigung so wenig schätzt, wie du. Jeden Morgen bin ich aufgestanden und habe dich noch vor dem Tag begrüßt. Jeden Abend warst du der letzte Gedanke, manchmal der, wegen dem ich besser schlafen konnte, manchmal der, der mir den Schlaf geraubt hat. An manchen Tagen habe ich mich so schmerzlich nach dir gesehnt, dass ich, egal, wo ich gerade war, einfach aufgehört habe zu tun, wartend darauf, dass es vorbei geht.
Du lässt mich nicht aus den Augen, als du dein Handy aus der Hosentasche kramst. Du lächelst mich an und fängst an etwas in dein Telefon zu tippen. Ich versuche zu sprechen, öffne den Mund, aber ich weiß nicht was, mir fehlen nicht die Gedanken, mir fehlen die Worte, Dürre in meinen Augen, ich sehe dich an und schüttle kaum sichtbar den Kopf. Du bemerkst es, tippst aber weiter auf deinem Handy, ich schüttle den Kopf energischer, flüstere nach einem Papierkügelchen, taste wieder meine Jackentasche ab, mehrfach, aber ich kann nichts finden, auch nicht auf der anderen Seite, ich bin unbewaffnet.
Mein Handy vibriert in der kleinen Umhängetasche, ich schaue sie an, aber greife nicht danach. Mir ist ganz kalt. Aus deinem Lächeln ist ein Grinsen geworden. Du steckst dein Handy weg.
Er dreht sich zu mir und sagt, dass er da drüben einen Freund gesehen hätte und dass wir da auch hingehen und Platz nehmen sollten, denn das Programm ginge gleich los. Dabei drückt er mich zu sich heran und unterbricht dich. Er sagt, ich solle kommen, küsst mir meine Stirn, sagt, dass ich heute sehr hübsch aussehe, geht los und zieht mich hinter sich her aus den Bildern heraus. Schwankend folge ich ihm, dein Blick in meinem Rücken, dreht er sich im Laufen noch mal kurz zu mir um und steckt mir das Papier seines Kaugummis in die Jackentasche, er finde gerade keinen Mülleimer, ob ich das solange wegpacken könnte.
Das mit den Papierkügelchen war schlagartig vorbei gegangen, als ich eines Tages einen kleinen Brief in einem meiner Schulbücher gefunden hatte, in dem die Anrede mit Kuli-Blumen verziert war und unter der Frage nach dem Kakao am Kaffeeautomaten ein “P.S.: Ich denke ganz oft an Dich” den Gedanken quittierte, dass jedes Gefühl immer nur relativ zum Moment ist. Der Papierkugelkrieg war bestimmt der Spaß meines Lebens für den einen Moment. Die Aufrichtigkeit in diesem Brief allerdings stellte die Bedeutung der Definition des Begriffes “Spaß” in meinem winzigen Universum damals auf die nächste Stufe und Papierkügelchen waren ja plötzlich sowas von out.