Mitglied
- Beitritt
- 13.09.2007
- Beiträge
- 302
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Papiere
Der Mann verschwand kurz und kam mit einem großen Stapel Papier zurück.
Ich hielt den Atem an. Was, wenn es nicht dabei war?
Ächzend ließ er den Stapel auf den Schreibtisch fallen und seinen Körper in den Korbsessel plumpsen, welcher ächzend antwortete.
Was, wenn er es nicht fand? Mein rechter Fuß wippte im Stakkato auf den Holzdielen. Der Mann warf mir einen missbilligenden Blick über den Rand seiner goldenen Brille zu und ich befahl meinem rechten Fuß, still zu stehen. Nun regte sich der linke. Ich stützte die Hände auf meine Knie, hielt mich fest und lächelte tapfer.
Der Mann widmete sich den Papieren.
Ich beobachtete ihn mit allen meinen Sinnen.
Er blätterte bedächtig, schweigend und mit starrer Miene. Das Papier raschelte, sein Atem rasselte, zerhackt vom Ticken der grauen Wanduhr hinter ihm. Staub wirbelte gleichmäßig aus den Papieren in den Schein der Wintersonne, welche durchs kleine verstaubte Fenster lugte. Ein Geruch wie Harzer Käse mit Makrelen entwich ihm, vermischte sich mit dem charakteristischen der alten Papiere zu einer einzigartigen Symphonie, die nun vom beißenden Gestank der Angst dominiert wurde, welcher sich aus allen Poren meines Körpers schwitzte. Ich griff nach dem Taschentuch, wischte über Stirn und Schläfen, wickelte den Schal von meinem Hals, mein rechter Fuß wippte, der Mann sah auf, ich presste den Schal auf die Knie und lächelte. Er lächelte nicht, wendete sich wieder den Papieren zu und suchte wortlos weiter.
Was, wenn er es übersah? Ich streckte den Hals, kniff die Augen zusammen und versuchte, die abgelegten Blätter zu lesen, zu durchleuchten, schalt mich in Gedanken, nicht früher daran gedacht zu haben, hoffte, dass es noch nicht zu spät sei.
Der Mann hob den Blick, tadelnd, drehte erst den kleinen, dann den doppelt so großen Stapel Papiere um, so dass ihre beschriebenen Seiten vor mir verborgen waren.
Ich wischte mir mit dem Schal den Schweiß von Gesicht, Hals und Dekolletee, hielt meine zappelnden Beine fest und lächelte so breit, dass es schmerzte.
Der Mann arbeitete weiter, ich starrte ihn an, bis er sich vor meinen Augen verwandelte.
Dampf stieg pfeifend aus dem Schlund, der Kolben hebelte heftig, doch die Lokomotive bewegte sich weder vor noch zurück auf den glühenden Schienen. Hebelnder Kolben glühte, glühende Lok, Feuerschlund, PENG!
Ich falle vom Stuhl, hart auf den Dielenboden, reiße die Augen auf, stemme mich hoch, schaue zu ihm.
Der Mann steht langsam auf, schüttelt den Kopf, hält ein paar Blätter in die Höhe: „Da haben wir es.“
Mit einem Blick erfasse ich das angegilbte Papier: es ist mein zwei Jahrzehnte alter Aufsatz „Das Leben als Schüler“.