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Papa hat Kafka ermordet
In unserer Familie gibt es eine Erklärung für alles Schlechte, dass es auf unserer schönen Erde gibt.
Donald Trump wird gewählt? Tja, Papa hat Kafka ermordet!
Brexit? Papa hat Kafka ermordet!
David Bowie ist tot? Papa hat Kafka ermordet!
Klingt lächerlich, hat aber durchaus eine Geschichte:
Als meine Schwester und ich klein waren, hatten wir einen süßen, kleinen Hund. Der blieb von seinem Wesen her ein Leben lang Welpe. Wir beschäftigten uns jeden Tag mit ihm, er freute sich wie verrückt, uns nach der Schule zu begrüßen; er war stubenrein und er war verspielt und schlicht – alles in allem – das beste Haustier, das man sich nur wünschen kann!
In meiner Erinnerung hat er beim Gassigehen niemals irgendwo hingemacht. Er roch selbstverständlich nie wie nasser Hund, sondern nach Regenbogen und Feenstaub. Es war, als hätte Gott einen Engel in Hundegestalt in unsere Familie geschickt! Ich glaube, er hatte sogar kleine Flügel.
Dieser Hund war Kafka.
Eines schönen Sommertages veranstalteten meine Schwester und ich ein Kaffeekränzchen. Mit Sandkuchen aus echtem Sand und imaginärem Kaffee. Kafka ließ sich duldsam von uns bewirten, aber selbst ihm wurde es irgendwann langweilig.
Also drängte er uns, sein Lieblingsspiel mit ihm zu spielen: Verstecken. Das beherrschte er richtig gut: Wenn wir ihn fanden, hüpfte er wie ein Flummi, drehte sich wie ein Kreisel und kläffte begeistert.
An jenem Tag hatte er sich zu gut versteckt und wir verloren die Lust, ihn zu suchen. Wir benutzten einen kleinen Trick und riefen: „Kafka! Kafka! Komm, Kafka!“ Das erhöhte den psychischen Druck und funktionierte, mit der nötigen Geduld, immer.
Während wir die Standardverstecke abklapperten, verließ Vater das Haus, stieg ins Auto, fuhr los und wunderte sich, über was er da gerollt war. Dieses „Was“, das war Kafka. Er war sofort tot.
Meine Schwester und ich erstarrten, als wir Vater, das Auto und Kafkas Leichnam sahen. Wir heulten Rotz und Wasser; Mutter holte uns ins Haus, damit wir den zerquetschten Hundekörper nicht mehr sehen mussten.
Im Haus rannten wir sofort zum Wohnzimmerfenster. Vater nahm einen Müllsack, steckte Kafka hinein, hievte den Müllsack mit Kafka ins Auto und fuhr los. In die Arbeit, wie er später gestand. Dort parkte er, mit Kafka im Kofferraum, und brachte ihn abends ins Krematorium.
Das ist die ganze Geschichte. Das sind die harten Fakten. Das ist das Urverbrechen an unserer kindlichen Unschuld. Mein Vater ist Kain und Kafka ist Abel. Mein Vater ist Luzifer und abgefallen von der Herrlichkeit Gottes!
Wer hat Kafka ermordet? Papa hat Kafka ermordet!
Danach war die Welt nicht mehr die gleiche für uns Kinder. Nach diesem Sommertag vor vielen Jahren ging es den Bach runter. Mit der gesamten Menschheit! Das war der Wendepunkt für die menschliche Zivilisation! Es wird Zeit, dass ihr das auch erfahrt.
Natürlich dachten unsere Eltern: „Besorgen wir den Mädchen einen neuen Hund!“ Einen Hund, von dem sie erwarteten, dass er sich so verhielt wie Kafka. Damit wollten sie unterbinden, dass meine Schwester und ich uns, in ihrer Nähe, immer wehmütig darüber austauschten, was Kafka denn wohl so treibt im Hundehimmel.
Der Nachfolger erhielt von uns den Namen: Kafka 2. Gleiche Rasse, ähnliches Aussehen, aber: Kafka 2 hatte definitiv keine Flügelchen!
Er war überfordert durch unsere bedingungslose Zuneigung und entwickelte eine canine Form der Paranoia. Schon in den ersten Tagen widmete er seine ganze Energie der Entwicklung von Fluchtplänen. Verstecken- oder Fangenspielen bedeutete, ihm bei der Umsetzung dieser Pläne zuzusehen.
Gassigehen mit Kafka 2 war Krafttraining. Erst musste man ihn gewaltsam bremsen, weil er mit allen Hundestärken wegrennen wollte, danach ließ er sich zurück schleifen. Oft sogar demonstrativ im Liegen.
Ließ man Kafka 2 im Garten, buddelte er, ohne zu zögern, sofort Fluchttunnel. Falls die NASA eine Landung auf der Mondoberfläche hätte fälschen wollen, wäre unser Rasen in den Top Ten möglicher Locations gelandet.
Kein Kaffeekränzchen mit Kafka 2, stattdessen konstanter Konflikt. Eines Tages rammte Vater mit einem großen Hammer eine Eisenstange tief in den Boden des Vorgartens und Kafka 2 wurde angekettet, zu seinem Wohl.
Der Hund war aber so in Dauerpanik, dass er die Stange über Nacht ausgrub, um mit Kette und Stange über den Zaun zu flüchten. Wir fanden ihn, weil er sich am Ende unserer Straße rettungslos in eine Hecke verfing.
Kafka 2 war nicht mehr der Jüngste, eines Tages lag er tot im Garten. Alle Familienmitglieder heuchelten Trauer, aber waren erleichtert, dass der Hund von seinem Terror befreit war.
Wer war schuld an dieser Tragödie? Papa! Papa hat Kafka ermordet.
Ein Hund kam nicht mehr in Frage. Vater ließ sich im Zoogeschäft beraten und brachte ein Kaninchen nach Hause. Das wäre die Lösung, so wurde ihm empfohlen, denn Kaninchen werden mit Kuschelgarantie geliefert!
Unser Kaninchen wurde Dora Diamant getauft, nach der Verlobten von Kafka. Sagte zumindest unsere Mutter, von Beruf Publizistin. Weil der Name aber klang wie aus einem lustigen Taschenbuch, stimmten wir zu.
Dora Diamant lebte in einem Stall in unserem Garten. Ähnlich wie Kafka 2 lebte es in ständiger Angst vor uns Mädchen. Man musste das Kaninchen blitzschnell packen, hochreißen und auf den Arm zwingen. Es verfiel darauf in vorgetäuschte Totenstarre und man konnte die Hand am Fell entlang bewegen – „Streicheln“ wäre nicht die richtige Vokabel. Nur selten flammten letzte Reste von Widerstand auf.
Bei so einer Gelegenheit ließ meine Schwester es fallen. Das Tierchen brach sich einen Hinterlauf; Dora Diamant bekam einen Gips. Das ist für ein Fluchttier wie Folter und auch in ihrer Seele brach etwas entzwei. Ihre Kaninchenaugen verloren das Funkeln, die Ohren erschlafften und Fressen wurde zu einer Protestveranstaltung.
Eines Tages vergaß meine Schwester – ganz, ganz sicher meine Schwester – die Stalltür zu schließen. Dora Diamant ließ sich dann wahrscheinlich aus dem Käfig fallen, um in die Wildnis zu robben. Mit drei Gliedmaßen, das Gipsbein hinter sich herschleifend. Nicht wie fort, nichts wie weg von diesen zwei Monstern! Wir haben sie nie mehr gesehen.
Wer war schuld an dieser Tierquälerei? Papa! Papa hat Kafka ermordet.
Papas nächste Idee, um sein Image aufzupolieren, war ein Hamster. Die sind wie Kaninchen, die nicht wegrennen können, so der Plan. Wir tauften das Tier Dora Diamant 2.
Es lebte in einem Freigehege im Garten und hatte dort ein drolliges Häuschen. Auch Dora Diamant 2 war allerdings allergisch gegen unsere Vorschläge, ihre Freizeitgestaltung betreffend. Kein Fangen, kein Verstecken und ganz sicher kein Kaffeekränzchen mir DD2.
Denn kleine Hamster haben Nagezähne, mit denen sie richtige Löcher beißen können. Und das machte sie. Immer. Sobald man sich näherte, wurde man gebissen.
Wir gingen dazu über, dicke Ski-Handschuhe anzuziehen, wenn wir mit ihr spielen wollten. Das sah, mitten im Sommer, sicher lächerlich aus und beeinträchtigte, nebenbei erwähnt, auch den Spielspaß: Mit Ski-Handschuhen kann man, nur als Beispiel, das Puppengeschirr, welches wir bei unseren Kränzchen deckten, nicht in die Hand nehmen!
Zu unser aller Erleichterung war Dora Diamant 2 bald auch die Flucht gelungen. Das Tier hatte in seiner Hütte klammheimlich einen Fluchttunnel angelegt – vielleicht war es auch auf das Tunnelsystem von Kafka 2 gestoßen. Den Ausgang haben wir nie gefunden, in unserem Garten lag er nicht.
Wer trug schuld an den kriminellen Neigungen von DD2? Papa! Papa hat Kafka ermordet.
Ein Seufzer der Erleichterung ging durch die gesamte Tierwelt des Planeten, als wir Vater davon überzeugten, nicht reflexartig das nächste Haustier anzuschaffen. Die Kette des Leids endete mit Dora Diamant 2.
Wir hörten aber niemals auf, ihm wegen seines ruchlosen Mords an dem einzigen wahren Haustier, das wir jemals besaßen, ein schlechtes Gewissen zu machen. Diese List funktionierte über Jahre:
„Warum schaust Du so traurig, Kind?“
„Ach, ich musste gerade daran denken, was für ein tolles Tier Kafka war. Bis zu dem Tag ...“
„Ich weiß! Bis zu dem Tag, als ich ihn ermordet habe! Was möchtest Du? Eine Taschengelderhöhung?“
Weder das Erwachsenwerden noch der Auszug wirkten sich auf dieses Verhalten aus. Wenn wir zuhause anriefen und Vater fragte: „Wie geht’s Dir, meine Süße?“ – „Ganz gut, Papa. Wenn man davon absieht ...“
Auch unsere Lebenspartner begannen, diese befreiende Philosophie in ihr Leben zu integrieren. Tut es nicht gut, endlich zu wissen, welche Person ureigentlich an allem Übel schuld trägt?
Ich stand, zum Beispiel, mit meinem jetzigen Mann eines Sommers im strömenden Regen. Wir wollten mit seinem Auto in die Toskana fahren, doch schon in der Schweiz stellte die Rostlaube den Dienst ein. Wir betrachteten den Totalschaden, kuckten uns an und sagten, wie aus einem Mund: „Papa hat Kafka ermordet!“
Es erleichtert die Seele, es erhebt den Verstand, man atmet freier und tiefer, man hält sich aufrechter und lebt allgemein gesünder, wenn man es nur zulässt: Das Wissen um die Tatsache, dass Papa schuld hat!
Diese Erkenntnis greift um sich wie eine Epidemie! Die Schüler meines Mannes wissen nun die Wahrheit und alle meine Kollegen. Und so ist es in dieser Stunde der Erleuchtung an mir: Ich reiche hier und jetzt diese Weisheit an euch weiter!
Wer Augen hat zum Lesen, der wisse: Papa hat Kafka ermordet!
Tragt es weiter, twittert es, facebookt es, instagramt es, malt Transparente, klebt Aufkleber und erwähnt es in jedem Gespräch! Druckt Kalender, schreibt Bücher, sprüht es an die Wände, übersetzt es in jede Sprache!
¡Papa asesinó a Kafka!
Ubaba wabulala uKafka!
Daddy killed Kafka!
Tama na fasiotia Kafka!
Papa a assassiné Kafka!
Ka patua e te papa a Kafka!
Baba Kafka'yı öldürdü!
Papa hat Kafka ermordet!