Panta rei
„In Wirklichkeit ist alles ganz anders.“ sagte ein Mann.
Ich blinzelte, als ich die Augen aufschlug, um zu sehen, ob er mit mir redete.
„Es scheint nur so.“ sagte er, und lächelte mir freundlich zu.
Die Sonn schien scharf ins Zugabteil. Eben war der Himmel doch noch grau gewesen, ich war wohl ein wenig eingenickt. Ich hatte auch nicht bemerkt, dass der Mann mir gegenüber Platz genommen hatte.
Er lächelte immer noch freundlich und schien auf eine Antwort zu warten.
„Tja.“ sagte ich, wohl etwas mürrisch, er hatte mich ja schließlich geweckt, und das für eine solche Aussage. „Wenn wir bestimmten Kinofilmen glauben wollen, halten intelligente Maschinen uns in Tanks gefangen und programmieren unser Gehirn. Es gibt gar keine Welt.“
Er lächelte immer noch, und ich begann mich zu fragen, ob er ein wenig neben der Spur war, wie man so sagt. Einer dieser harmlosen Irren, deren größtes Verbrechen darin besteht, einem auf die Nerven zu fallen, wenn man gerade lesen will.
Oder schlafen.
„Ich habe ‚Die Matrix’ auch gesehen.“ sagte der Mann, und sein Lächeln wurde sogar noch etwas breiter. „Aber ich bin kein Morpheus mit Sonnenbrille, der fragt, ob er dich tiefer in den Kaninchenbau hineinführen soll.“
„Nein.“ erwiderte ich trocken. Ganz und gar nicht Morpheus. Eher klein und ein bisschen untersetzt, mit langen, schlaffen Ohrläppchen und einer leicht schiefen Nase. Doch freundliche Augen, ein kleines, randloses Brillchen. Offene Erscheinung. Nichtssagend.
„Es ist tatsächlich so, dass Sie es …“
Draußen schrillte die Pfeife der Schaffnerin, einer dieser kleinen Bahnhöfe auf der Strecke, Flecken neben dem Gleisstrang, am Wege auf der Pendler-Ader, wie vorortförmige Schubladen, in die die aussteigenden Menschen auf der Strecke einsortiert werden. Das Trillern übertönte die zweite Hälfte seines Satzes.
„Entschuldigung?“ sagte ich.
„Ich wollte nur sagen, dass Sie es bald erfahren werden.“
„Was erfahren?“
„Dass es anders ist, als es aussieht.“
„Und wie sieht es aus?“ fragte ich, immer noch etwas ruppig angesichts dieser mühsamen Gesprächsführung. Der Zug setzte sich ruckelnd wieder in Bewegung. Draußen ziehen Büsche, Laternen, eine halb verfallene Fabrik vorbei.
Der Mann lachte leise, dabei nickte er ein bisschen mit dem Kopf wie eine Taube.
„Heraklit sagte: Alles fließt.“
„Panta rei.“ sagte ich; das war ein Zufall, erst gestern hatte ich ein Musikstück mit diesem Titel im Klassik-Radio gehört, irgendetwas Modernes mit einem stöhnenden und glucksenden Sänger und vier ungestimmten Geigen.
Der Mann schien erfreut. „Ja genau. Aber er hatte unrecht.“
Schweigen entspann sich, es waberte ein bisschen zwischen ihm und mir dahin, während der Zug bei einem Gleiswechsel sanft schaukelte. Draußen hat alles vom Licht überbetonte Konturen, ein Schlösschen, ein gepflügtes Feld, ein Hochspannungsmast. Wenn man aus dem fahrenden Zug auf die Nachbargleise blickt, gleitet der Blick unweigerlich daran entlang, vor und zurück, in sanften Wellen, eben wie auf Schienen. Auf einem Brachgelände steht ein Regal mit Zugrad-Achsen, rostig aufgereiht wie Trockenfisch im Norden.
„Nicht mehr lange.“ sagte der Mann.
„Hören Sie mal, wer sind Sie?“ fragte ich, etwas milder, das kupferne Licht versetzte mich in eine behagliche Stimmung, die Landschaft gleitet unaufdringlich links aus dem Kader des Zugfensters, es ist Leichtigkeit in alldem.
„Ich reise gerne.“ sagte der Mann, als ob das eine passende Antwort auf meine Frage wäre.
„Und wo waren Sie schon überall?“ fragte ich, seine besonnene Art begann mich einzunehmen.
„Fast überall.“ sagte er. „Es gibt einen Landstrich in Feuerland, da war ich noch nicht. Den hebe ich mir auf für eines der nächsten Male.“
Das war zugegebenermaßen eine recht verwirrende Äußerung. Ich öffnete gerade den Mund, um nachzuhaken, ich meine, was ist mit China, das ist ein immens riesiges Land, oder Sibirien. Die australischen Outbacks. Kanada. Der Südpol. Sahara. Da sagte er: „Jetzt, sehen Sie!“
Ich blickte hinaus, ein wenig zögernd, was sollte es denn groß zu sehen geben.
Hier war ein Autobahnkreuz, das wir gerade auf einer hohen Brücke überquerten, ich hatte es vorher nie bemerkt, doch ich schlafe meist auf Zugfahrten oder vertiefe mich in Bücher. Wie ein Webmuster sehen die Autotrassen aus, die sich dort unten in Bögen und Schleifen umwinden, bunt schillernde Lacke der fahrenden Autos färben die Bänder ein, die Sonne schießt Blitze über die Bande ihrer Front- und Heckscheiben direkt in mein Gesicht.
Dann geschah etwas mit dem Licht. Wenn es vorher fließendes Kupfergold gewesen war, ist es nun stockend-flüssiges Blei, nicht weniger intensiv, weniger scharf oder weniger deutliche Konturen an die Ränder der Dinge heftend. Nur – stumpfer. Das Kupferlicht hatte meine Stimmung gehoben, dieses neue Licht senkte sie wieder, zu einem stirnrunzelnden Frösteln, einer gegenstandslosen Unzufriedenheit.
Dann blieben, in einem Augenzwinkern, doch ich hatte nicht gezwinkert, alle Autos dort unten stehen; es ist kein Stau, eher so etwas wie das Foto eines Autobahnkreuzes. Und noch etwas geschah: der gleichmäßig gleitende Kader des Zugfensters ist abrupt gestoppt worden, die Kamerafahrt zu Ende. Der Zug steht still, ohne gebremst zu haben. Ich hatte keine Masse-Trägheit verspürt. Es ist sehr still. Der Mann gegenüber lächelt. Er steht auf. „Kommen Sie.“
„Nein.“ sagte ich. „Was ist passiert? Was haben Sie gemacht?“
Er lachte, jetzt aus voller Brust. „Ich? Gar nichts. Ich habe nur ein gewisses Gefühl für das Timing entwickelt, für die Anzeichen, einige sind recht subtil. Ein ganz leichter Innenohr-Druck, ein kurzer, fast unhörbarer Hochfrequenz-Ton, ein leichter Temperaturabfall. Das mit dem Licht haben Sie wahrscheinlich selbst bemerkt.“
„Anzeichen wofür?“ fragte ich. Das Licht ist nun vollends erstarrt, die Welt, die es überzieht, eine skurrile Formation aus Baumwipfeln und Hügelflächen, ebenso alles und nichts aussagend wie die grauen Klumpen, die man an Silvester aus den Bleigieß-Töpfen fischt.
„Für den nächsten Sprung. Wir nennen sie Sprünge, die schönen Momente, in denen sich alles bewegt. Wie ich eben sagte: nichts fließt. Es ist nur eine Aneinanderreihung von Sprüngen.“
Aufgeregt war ich wirklich nicht, nur so etwas wie Panik gluckste tief in mir.
„Wie lang sind die Abstände?“ fragte ich. „Wann bewegt es sich wieder?“
Der Mann zuckt die Achseln. „Das weiß man nie. Einmal durchquerte ich Indien zu Fuß, ohne dass es geschah. Es ist völlig willkürlich.“
Dann kochte die Panik über, als die Frage in mein Bewusstsein rückte, die die ganze Zeit schon gelauert hatte, wie eine dieser Wüstenschlangen, die sich im Sand eingraben und mit offenem Rachen auf Beute warten. „Und ich? Was ist mit mir passiert, dass ich da plötzlich drinstecke? Und Sie? Antworten Sie! Was ist mit mir?“
Der Mann lächelt wieder, schlägt sich auf die Schenkel und steht auf.
„Kommen Sie.“ sagt er. „Ich hätte Lust, mal wieder nach Holland zu gehen. Dabei haben wir Zeit zu reden.“ Und schreitet einfach durch die Zugwand hinaus in den bleigrauen, stummen Tag. Steckt kurz den Kopf wieder durchs geschlossene Fenster.
„Nun kommen Sie schon. Seit Heraklit Bescheid weiß, sagt er nicht mehr ‚Alles fließt’. Jetzt sagt er ‚Wir fließen’. Der alte Schelm. Vielleicht treffen wir ihn in Amsterdam. Er liebt es, auf den Grachten spazieren zu gehen. Einmal fiel er hinein, als der nächste Sprung kam, und er kann nicht schwimmen, aber natürlich ist er nicht ertrunken.“
Ich tue es ihm nach, stehe einen Schritt später auf der Bahnbrücke über dem Autobahnknoten und spüre keinen Windhauch. Irgendwohin ist die Panik verzischt, und ein neues Gefühl ist da, ein Hauch von Kupfer-Wärme irgendwo zwischen Herz und Magen. Der Mann marschiert los in Richtung Westen, und ich gebe dem neuen Gefühl den nächstbesten Namen, nenne es „Glück“.