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Panoramafoto
Panoramafoto
(für Christine)
Die Schäfchenwolken haben sich mittlerweile aufgelöst.
Die Luft in den Bergen ist jetzt ganz klar, sodass man bis nach Frankreich sehen kann, dort, wo sich der Montblanc über den Horizont erhebt. An einem Spätsommertag wie diesem ist die Fernsicht am besten.
Christines Eltern wissen das. Deshalb haben sie heute einen gemeinsamen Ausflug in die Berner Alpen unternommen.
Aber irgendwo, in den Bergen, hat sich ihre Tochter selbständig gemacht: nach dem Picknick ist das Mädchen davongerannt, einfach so –
Und nun läuft die Tochter ziellos einen der oberen Gebirgswege entlang.
Mittlerweile hat sich die Sonne in den Zenit geschoben.
Das Licht der Mittagssonne brennt ihr auf den Kopf, während Christine nach oben schaut. Schützend hält sie sich eine Hand über die Stirn. Und staunt:
„Der Himmel ist so intensiv, so blau und blendend!“
Golden, violett, azurfarben, blau, der Himmel über ihr leuchtet jetzt und strahlt, aber Christine sagt sich:
„Heute scheint die Sonne wieder für alle anderen - nur nicht für mich!“
Das Mädchen wird wütend. Sie gibt dem Stein, der unschuldig vor ihren Füssen liegt, einen Tritt: Der Stein rollt über die Kante des Abgrundes, fällt einige Meter tief hinab, reißt bei seiner irren Talfahrt andere Steine im Geröll mit.
Eine kleine Steinlawine stürzt sich die Schlucht hinunter...
„Warum zum Teufel bin ich nicht so mutig wie die beiden?“
Ihr Blick fällt auf ein kleines Holzkreuz, das man auf dem Grat errichtet hatte:
Franz und Maria. †1917.
In Gottes Händen aufgefangen.
Langsam nähert sich Christine dem Rand vom Felsvorsprung, mit einem flüchtigen Lächeln auf den Lippen: „Hier könnte das Paar damals gestanden sein...“
Direkt vor dem Steilhang bleibt sie stehen:
„Der Junge nahm sein Mädchen in die Arme, Maria schloss ihre Augen, er küsste sie zärtlich, und dann...“
Christine hält inne, schliesst ihre Augen für einen Moment –
dann schaut sie wieder den Abgrund hinunter:
„Wahrscheinlich war es der schönste Moment in ihrem Leben... also machten sie den Augenblick zur Ewigkeit!“
Ein frischer Wind ist aufgezogen und fegt kühl über den Bergkamm. Christine zieht die Kapuze über ihren Kopf, das Pfeifen um ihre Ohren verstummt.
Nun beginnt sie zu flüstern: „Hoffentlich finden sie mich nicht so schnell ... wird ihnen sowieso egal sein, dass ich abgehauen bin. Wahrscheinlich sind sie am Ende noch froh darüber, wenn ich nicht mehr bin...“ Dabei werden ihre Augen wässrig.
Ein Schluchzen, die Hände vors Gesicht gehalten –
endlich bricht sie in Tränen aus.
Nach einer Weile fängt sie sich wieder und murmelt mit schriller, verstellter Stimme:
„Du machst mich krank, Christine, wirklich krank!“ und: „Keine Mutter hat so eine faule Tochter wie ich!“
Dann vergräbt sie ihre Hände in den Anoraktaschen, sie sind zu Fäusten geballt. Wieder spricht sie zu sich, diesmal mit bestimmter, tiefer Stimme:
„Deine Mutter bringst du noch ins Grab mit deiner Frechheit – genau wie Opas Herzinfarkt: der geht nämlich auch auf dein Konto!“ Jetzt wirft sie einen Arm in die Luft, gestikuliert mit erhobenem Zeigefinger:
„Solang du deine Füsse unter meinem Tisch ausstreckst, hast du zu gehorchen! Erst in zwei Jahren wirst du achtzehn, ist das klar, und bis dahin...“
Plötzlich wird ihr Name gerufen. Sie dreht sich um.
„Christine!“
Der Vater läuft zornig auf sie zu, die Mutter hinterher.
„Warum bist du weggelaufen? Wir haben dich überall gesucht!“
Christine senkt ihren Kopf, nimmt eine gebückte Haltung ein.
Die Mutter kommt mit großen Schritten auf sie zu gerannt, keucht: „Warum musstest du uns wieder diesen schönen Ausflug verderben, du Nichtsnutz, machst mich ganz krank mit deiner Art - weißt du das: wirklich krank machst du mich! Und was tust du da eigentlich vor der Steilwand? Das ist doch viel zu gefährlich, um Gottes Willen, komm sofort hierher!“
„Warte!“, wirft der Vater ein, „Ich will noch ein Foto von unserer Tochter machen - das Panorama hinter ihr ist herrlich ... Komm schon, Christinchen, jetzt mach nicht so ein Gesicht! Und steh nicht so verkrümmt, stell dich ordentlich hin, verdammt noch mal... Aufgepasst jetzt: SMILE!“
Christine richtet sich auf, steht kerzengerade. Sie zieht ihre Mundwinkel nach oben, wird vom Objektiv fixiert.
Ein Schritt zurück. Ein Schrei.
Vor Schreck wird der Auslöser gedrückt.
Wolf W.