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Panoramafoto

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21.03.2003
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Panoramafoto

Panoramafoto
(für Christine)

Die Schäfchenwolken haben sich mittlerweile aufgelöst.
Die Luft in den Bergen ist jetzt ganz klar, sodass man bis nach Frankreich sehen kann, dort, wo sich der Montblanc über den Horizont erhebt. An einem Spätsommertag wie diesem ist die Fernsicht am besten.
Christines Eltern wissen das. Deshalb haben sie heute einen gemeinsamen Ausflug in die Berner Alpen unternommen.
Aber irgendwo, in den Bergen, hat sich ihre Tochter selbständig gemacht: nach dem Picknick ist das Mädchen davongerannt, einfach so –
Und nun läuft die Tochter ziellos einen der oberen Gebirgswege entlang.

Mittlerweile hat sich die Sonne in den Zenit geschoben.
Das Licht der Mittagssonne brennt ihr auf den Kopf, während Christine nach oben schaut. Schützend hält sie sich eine Hand über die Stirn. Und staunt:
„Der Himmel ist so intensiv, so blau und blendend!“
Golden, violett, azurfarben, blau, der Himmel über ihr leuchtet jetzt und strahlt, aber Christine sagt sich:
„Heute scheint die Sonne wieder für alle anderen - nur nicht für mich!“
Das Mädchen wird wütend. Sie gibt dem Stein, der unschuldig vor ihren Füssen liegt, einen Tritt: Der Stein rollt über die Kante des Abgrundes, fällt einige Meter tief hinab, reißt bei seiner irren Talfahrt andere Steine im Geröll mit.
Eine kleine Steinlawine stürzt sich die Schlucht hinunter...
„Warum zum Teufel bin ich nicht so mutig wie die beiden?“
Ihr Blick fällt auf ein kleines Holzkreuz, das man auf dem Grat errichtet hatte:

Franz und Maria. †1917.
In Gottes Händen aufgefangen.

Langsam nähert sich Christine dem Rand vom Felsvorsprung, mit einem flüchtigen Lächeln auf den Lippen: „Hier könnte das Paar damals gestanden sein...“
Direkt vor dem Steilhang bleibt sie stehen:
„Der Junge nahm sein Mädchen in die Arme, Maria schloss ihre Augen, er küsste sie zärtlich, und dann...“
Christine hält inne, schliesst ihre Augen für einen Moment –
dann schaut sie wieder den Abgrund hinunter:
„Wahrscheinlich war es der schönste Moment in ihrem Leben... also machten sie den Augenblick zur Ewigkeit!“

Ein frischer Wind ist aufgezogen und fegt kühl über den Bergkamm. Christine zieht die Kapuze über ihren Kopf, das Pfeifen um ihre Ohren verstummt.
Nun beginnt sie zu flüstern: „Hoffentlich finden sie mich nicht so schnell ... wird ihnen sowieso egal sein, dass ich abgehauen bin. Wahrscheinlich sind sie am Ende noch froh darüber, wenn ich nicht mehr bin...“ Dabei werden ihre Augen wässrig.
Ein Schluchzen, die Hände vors Gesicht gehalten –
endlich bricht sie in Tränen aus.

Nach einer Weile fängt sie sich wieder und murmelt mit schriller, verstellter Stimme:
„Du machst mich krank, Christine, wirklich krank!“ und: „Keine Mutter hat so eine faule Tochter wie ich!“
Dann vergräbt sie ihre Hände in den Anoraktaschen, sie sind zu Fäusten geballt. Wieder spricht sie zu sich, diesmal mit bestimmter, tiefer Stimme:
„Deine Mutter bringst du noch ins Grab mit deiner Frechheit – genau wie Opas Herzinfarkt: der geht nämlich auch auf dein Konto!“ Jetzt wirft sie einen Arm in die Luft, gestikuliert mit erhobenem Zeigefinger:
„Solang du deine Füsse unter meinem Tisch ausstreckst, hast du zu gehorchen! Erst in zwei Jahren wirst du achtzehn, ist das klar, und bis dahin...“

Plötzlich wird ihr Name gerufen. Sie dreht sich um.
„Christine!“

Der Vater läuft zornig auf sie zu, die Mutter hinterher.
„Warum bist du weggelaufen? Wir haben dich überall gesucht!“
Christine senkt ihren Kopf, nimmt eine gebückte Haltung ein.
Die Mutter kommt mit großen Schritten auf sie zu gerannt, keucht: „Warum musstest du uns wieder diesen schönen Ausflug verderben, du Nichtsnutz, machst mich ganz krank mit deiner Art - weißt du das: wirklich krank machst du mich! Und was tust du da eigentlich vor der Steilwand? Das ist doch viel zu gefährlich, um Gottes Willen, komm sofort hierher!“
„Warte!“, wirft der Vater ein, „Ich will noch ein Foto von unserer Tochter machen - das Panorama hinter ihr ist herrlich ... Komm schon, Christinchen, jetzt mach nicht so ein Gesicht! Und steh nicht so verkrümmt, stell dich ordentlich hin, verdammt noch mal... Aufgepasst jetzt: SMILE!“

Christine richtet sich auf, steht kerzengerade. Sie zieht ihre Mundwinkel nach oben, wird vom Objektiv fixiert.
Ein Schritt zurück. Ein Schrei.
Vor Schreck wird der Auslöser gedrückt.


Wolf W.

 

Wow, eine wirklich fesselnde Geschichte. Ich habe sie sehr gerne gelesen. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll, ich bin so naiv, dass ich am ende regelrecht erschrocken war, als sie gesprungen ist.
Du hast einen schönen Schreibstil, auch die Umgebung war schön beschrieben.
Gut gelungener Text,
schönen Gruß
WibiB

 

Hi kleiner Wolf!
Ich kann mich nur meiner Vorgängerin anschliessen. Deine Geschichte ist super!!! Den Schluss erachte ich als besonders gelungen :)

Liebe Grüsse aus dem Kanton Bern!
Marana

 

Ein guter Text, kleinerWolf, der sehr intensive Eindrücke zurücklässt. Dein nüchterner Erzählstil trägt zum Gelingen deiner Geschichte bei.
Der Text bleibt in Erinnerung.

Liebe Grüße - Aqua

 

Hallo kleinerWolf!

Eigentlich mag ich Selbstmordgeschichten ja nicht besonders. Aber Deine zeigt immerhin einige schlüssige, glaubwürdige Gründe auf, warum die Protagonistin dermaßen unglücklich ist und was sie schließlich zum letzten Schritt bewegt. Deshalb hab ich sie auch gern gelesen.

Christine bekommt keine Liebe von ihren Eltern, die mit nichts zufrieden sind und sie nicht als den Menschen akzeptieren, der sie ist oder sein möchte.

wird ihnen sowieso egal sein, dass ich abgehauen bin. Wahrscheinlich sind sie am Ende noch froh darüber, wenn ich nicht mehr bin...“ Dabei werden ihre Augen wässrig.
Ein Schluchzen, die Hände vors Gesicht gehalten –
endlich bricht sie in Tränen aus.
Sie sehnt sich danach, daß ihre Eltern ihr Liebe geben würden, aber die Aussicht ist hoffnungslos und auch, bis sie achtzehn wird, scheint die Zeit in ihren Augen noch endlos zu dauern... Ich weiß, wie ewig lang einem das vorkommen kann...

Ihre Gedanken und Gefühle beim Anblick des Holzkreuzes mit der Aufschrift »In Gottes Händen aufgefangen« sind daher nachvollziehbar.

„Wahrscheinlich war es der schönste Moment in ihrem Leben... also machten sie den Augenblick zur Ewigkeit!“
„Ich will noch ein Foto von unserer Tochter machen - das Panorama hinter ihr ist herrlich ... Komm schon, Christinchen,
Ein schöner Moment, als ihr Vater sie fotografieren will: Er sieht etwas Positives, nennt sie sogar „Christinchen“ – und Christine macht den Augenblick zur Ewigkeit...


»dort, wo sich der Montblanc über dem Horizont erhebt.«
- über den Horizont – sonst würde er erst überm Horizont beginnen...;)

»ist die Fernsicht am besten...
... in die Berner Alpen unternommen...«
- würde am Ende der beiden Sätze normale Punkte machen, keine dreifachen


Alles liebe,
Susi

 

Hallo Kleiner Wolf,
auch mir hat Deine traurige, aber schöne Geschichte gut gefallen. Wie verzweifelt muss dieses Mädchen doch gewesen sein, um einen solchen Tod zu wählen.
Eine kleine Anmerkung hätte ich noch.Ist aber nur meine persönliche Meinung.
Du schreibst:...Maria schliesst ihre Augen... - im nächsten Satz heisst es dann gleich wieder, dass Christine ihre Augen schloss.
Schreib doch vielleicht: Der Junge nahm sein Mädchen in den Arm, Maria schmiegte sich eng an ihn...

Ansonsten starker Text mit schönen Formulierungen
Liebe Grüsse
Blanca

 

eine gute gelegenheit, mir selbst zu sagen, dass der barde ein guter vater ist!
hi kleiner wolf,
denn keine eltern sollten den tod eines menschen einem kind anlasten - so lange es natürlich nicht selbst zum "messer" gegriffen hat. eltern sollten niemals dem kind seelische lasten andichten - die kinder können kaum damit umgehen - UND selbstmordgedanken werden in ihnen unendlich laut.
gute geschichte - ich kann eigentlich nichts zu meinen vorrednerns ausführungen ergänzen.
das ende finde ich, so bizarr es auch ist *hehe*, für äusserst gelungen. das sterben der eigenen tochter fotografiert .. *horror* .
prima!
bis dann
barde

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo zusammen!

Euch allen vielen Dank für die lieben Worte!
Darüber hab ich mich gefreut wie ein... Schneekönig :king: *freudestrahl*
(Hab auch die halbe Nacht daran herum-geschrieben und gebastelt - bin jetzt dafür ganz müde...)
@Häferl: Hab deine Vorschläge übernommen...
@blanca: Du hast sehr aufmerksam gelesen! Aber das mit dem Augenschliessen war beabsichtigt, weil Christine die Szene, die sie sich in ihrer Phantasie ausgemalt hat, sozusagen für sich selbst noch mal "nachspielt" und alles genau so nachempfinden will...

Nochmals vielen Dank an alle!
ein glücklicher, (aber müder)
Wolf

 

Hab die Stelle noch mal gelesen, unter dem Gesichtspunkt ist es natürlich gut so.

Grüsse
Blanca

 

Hallo kleiner Wolf!

Wirklich gut gemacht - das Ende kam für mich dann doch unerwartet, da ich nicht mit der Ernstheit gerechnet hatte. Viele Teenager kommen nicht gut aus mit ihren Eltern und haben Anfälle... Allerdings finde ich es sehr gelungen, wie Du erzählst. Der Höhepunkt, das Panorama ohne Tochter ist gut gelungen.

schöne Grüße
Anne

 

...so, jetzt bin ich wieder einigermaßen wach.

Hallo Blanca,
Danke dir für das nochmalige Lesen!
Ich bin froh, dass meine Intention mit dem "Nachspielen" der Szene auch aus dem Text entnehmbar ist...

Hallo Maus,
Auch dir vielen Dank für das Feedback!
PS: Auch wenn ich dir noch keine Antwort geschrieben hab, aber deine "Himmelsschafe" sind bereits allesamt in meine "Lieblingsgeschichten-Datei" gewandert und dort fühlen sich deine Schafe sehr wohl, soll ich ausrichten.

 

Hallo kleinerWolf!

Auch mir gefällt die Geschichte sehr gut, bis auf einen Punkt: Die Begründung des Selbstmordes.
Gut, Christines Eltern verhalten sich nicht gerade verständnisvoll, aber etwa 90% aller Teenager haben öfter Stress mit ihren Eltern. Der Satz mit dem Großvater ist natürlich hart, aber der alleinige Grund war das wohl nicht, sondern es ging ums Prinzip, oder?
Im Übrigen habe ich nicht, wie Barde, aus dem Text entnommen, dass der Großvater tot ist. Sollte ich?
Es bleibt die Frage, was mit Christines restlichem Umfeld ist: Freunde, Bekannte, Schule, Hobbys ... Für mich als Leserin bleibt Christine fremd, sie ist nur Tochter ihrer Eltern. Warum hat sie nichts (oder niemanden), das ihr Halt gibt? Warum versucht sie nicht, von zuhause wegzulaufen, was ja nahe liegender wäre bei ihrem Problem, als sich umzubringen, oder hat sie das schonmal versucht? Der Charakter Christine bleibt für mich sehr fern, sehr oberflächlich, sie wird komplett auf ihr Eltern-Problem reduziert. Das finde ich schade, es fehlt mir, zu wissen, wer sie eigentlich ist. Es wäre schöner, etwas über einen Menschen zu lesen, der Selbstmord begeht, als über einen Selbstmörder.

Ansonsten ist die Geschichte hervorragend, Stil und Inhalt passen super zusammen. Christines Romantisierung des Todes der beiden Menschen wird gut verdeutlicht, macht ihre Handlung schlüssig. Der Stil ist insgesamt klasse... und dass der Schluss herausragend ist, wurde ja schon erwähnt. :thumbsup:

Im Übrigen großes Lob bezüglich des Titels: Zynisch und sehr treffend!


Nur ein paar Anmerkungen:

Das Licht der Mittagssonne brennt ihr auf den Kopf, während Christine nach oben schaut.
Wie soll Licht denn brennen? Die Mittagssonne brennt ihr auf den Kopf, aber bitte nicht ihr Licht. Das erhellt höchstens.
Und staunt:
„Der Himmel ist so intensiv, so blau und blendend!“
Golden, violett, azurfarben, blau, der Himmel über ihr leuchtet jetzt und strahlt
Erst beschreibt die Protagonistin den Himmel, direkt anschließend der Autor. Liest sich blöd. Besonders das doppelte "blau" (eigentlich dreifach, da "azurfarben" ja auch blau ist). Ich würde den Satz mit den Sonne an Christines Himmelsbeschreibung direkt anschließen, vielleicht eine Stimmungs-/Mimiksveränderung dazwischen setzen, wenn du's getrennt haben willst (schließlich betrachtet sie die Sonne nicht mehr verwundert). Zumindest aber würde ich das "blau" nach "golden, violett, azurfarben" auf jeden Fall weglassen.
„Warum zum Teufel bin ich nicht so mutig wie die Beiden?“
beiden
Und steh nicht so verkrümmt, stell dich ordentlich hin, verdammt noch mal... Aufgepasst jetzt: SMILE!“
Bitte nicht in Großbuchstaben, das passt überhaupt nicht! Wenn du's betonen willst, mach die Stelle kursiv. Insgesamt kommt mir der Ausdruck "Smile" aber eigenartig vor, ist "Cheese" nicht üblicher, oder sagt man das bei dir nicht?


mfg
winternachtstraum

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Winternachtstraum!

Erst mal vielen Dank für deine ausführliche Kritik! Es freut mich, dass du dir die Mühe gemacht hast, noch mal "ganz genau" in den Text hineinzuschauen. Deine inhaltlichen Überlegungen zu meiner Geschichte finde ich auch sehr interessant.


Zuerst die formalen Streitpunkte:

1. Mit der "Himmelsbeschreibung" hast du einerseits recht: das "blau" ist eine Doppelung. Aber glaub mir, ich hab den Satz oft umgestellt und die ganze Passage verändert... bin jetzt aber doch zu dem Schluß gekommen, dass sie sich so, wie sie ist, vom Sprachrhythmus her und lautmalerisch am besten anhört.

2. Ich finde schon, dass man schreiben kann: "ihr Licht brennt"... ist Licht denn etwas anderes, als elektromagnetische (wärme-)Strahlung?... und die Sonne selbst kann ja, physikalisch gesehen, die Prot. nicht direkt brennen.

3. Tatsächlich hatte ich ursprünglich den Ausdruck "cheese" im Text verwendet. Aber man kann ja auch "smile" sagen, und es wirkt zynistisch, wenn der Vater sie noch zum "Lachen" auffordert.
Ich mag Großbuchstaben lieber als Kursivlettern - aber das ist Geschmackssache...

4. Rechtschreibfehler schon verbessert - danke!


Jetzt zum Inhalt:

Ob der Opa nun tot ist oder nicht, weiß ich selbst nicht.

Und jetzt würde ich gerne etwas zum "Selbstmord" sagen:
Mit dem "Gedanken daran" hat sie sicher die ganze Zeit gespielt und sich selbst - mit der unmittelbaren Nähe zum Abgrund - auch in eine Gefahrensituation begeben.

Aber eigentlich wollte ich offen lassen, ob die Prot. nun absichtlich gesprungen ist - oder ob es sich um einen tragischen Unfall handelt, weil sie nur einen Schritt "zuviel" zurück gemacht hat. (diese Theorie würde auch der "Schrei" am Schluß unterstreichen)
Ein vorher "harmloses Gedankenspiel" wird somit ungewollt zur Realität!

Was ich noch sagen wollte...

Es wäre schöner, etwas über einen Menschen zu lesen, der Selbstmord begeht, als über einen Selbstmörder.
Da hast du völlig recht! Ich glaube, viele Selbstmorde könnten verhindert werden, wenn sich die Menschen wirklich für einander interessieren würden, und nicht so oberflächlich miteinander umgehen würden...

Wollte die Story aber in der Kürze belassen.

Nochmals vielen Dank!

Liebe Grüße,
Wolf

 

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