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Panorama mit Akkordeon und Pommes Schranke
Unsere kleine Gesellschaft steigt aus. Als Erstes vernehmen wir dieses Geräusch, das entsteht, wenn man alte Kleider zerreißt, die vielleicht noch als Putzlappen dienlich wären. Dieses Mal ist es das malvenfarbene neue Kleid von Rosa, ein schönes Modell. Hauteng geschnitten, ungemein raffiniert.
Rosa glaubt nicht, was sie zur Kenntnis nehmen muss. Doch in Ohnmacht zu fallen, hat sie hoffentlich nicht vor. Sie könnte hart aufschlagen; nicht nur die Kavaliere, auch die Riechfläschchen sind ausgestorben.
Also stützt sich Rosa bebend an der Karosse ab. Ich zeige meine Klasse und hülle mit ritterlicher Geste meinen Mantel um ihre herrliche Figur. Ich achte darauf, sie dabei nicht unnötig zu berühren. Das sollte ich auch beibehalten.
„Mensch, Bernd, mon chevalier – du rettest mich!“, haucht Rosa, ungefähr in der Art, wie ich meine Brillengläser beim Polieren andampfe. Mit dem Unterschied, dass mich Rosas Lippen, besonders wenn sie haucht, geradezu wahnsinnig machen.
Mir schwant, dass das keine gute Idee war – kleiner Umtrunk und so.
Das hässliche Geräusch ist bald vergessen, die Klänge eines Akkordeons wehen herüber. Die trösten, und sie zerstreuen Rosas Befürchtungen, dass irgendjemand Schadenfreude empfände. Außerdem sind wir nicht bösartig, wir lachen nur gern.
Gestern klingelte das Telefon. Rosa ist dran: „Na, Strohwittwerchen, hoe is ett?“
Die redet immer so einen Murks zwischen Platt, Ruhr und Holland, furchtbar. Aber durchaus reizvoll. Ihre Freunde finden das immer ganz bezaubernd, gerade in Situationen, die auf Hochdeutsch vielleicht peinlich wären – und auf Österreichisch katastrophal.
„Nou“, sage ich halb holländisch, also im Grenzbereich, „et gaat. Un sons? Wat willste?“
Oh ja, wir mögen uns sehr. Ohne Rosa geht nichts. Wenn ich nicht wüsste, dass sie meine Frau erst in der Grundschule kennenlernte, hätte ich angenommen, sie seien Schwestern. Eine schlank, eine üppig, beide wohlgeformt, roter Bob, schöne Augen – wenn die beiden zusammen aufmarschieren, werden die Herren unruhig.
Jedenfalls überredet sie mich, die Stelle ihres nunmehr verflossenen Rolands einzunehmen und sie zu einer Housewarming-Party (wie Rosa sagt) zu begleiten, weil ja auch mein Darling zur Zeit nicht vor Ort sei.
Das ist nicht fair! Mit meiner Frau Tina lasse ich keine Party aus – mit oder ohne Rosa. Aber jetzt, wo ich mich entsetzlich einsam fühle, zwischen Fernseher und Rechner pendle, schiebt sie mir dieses Angebot rüber.
„Und wohin genau?“, ziere ich mich, denn ehrlich gesagt, rumpelt’s ganz gewaltig in mir.
„Na, zu meiner Kumpeline, zur Franzi. Die hat’s immer schwer mit den Männern. Das will fürs Verrecken nicht klappen. Aber ihr Neuer, der Robert, der haut voll rein. Packt sie, schleppt sie auf den Malediven vor ’n Traualtar und jetzt, nach seiner Beförderung, einfach dahin, wo er Chef sein wird.“
„Und die Franzi spielt mit?“, will ich wissen.
„Kijk“, sagt Rosa weise, „sie ist vierunddreißig. Die muss mitspielen.“
„So wie Du“, sage ich, unnötig und blöd.
Rosa holt tief Luft, doch ich komme ihr zuvor: „Mensch, Mädel – bleib bloß so, wie Du bist.“
Wie Altweibersommerfäden hängen die Akkordeonklänge in der Luft.
Schwer hab ich’s mit denen. Die finden immer den direkten Weg in mein Herz, sie kommen über mich und ich kann mich nicht wehren.
Sie machen mich traurig, wenn ich keinen Anlass habe zum Traurigsein; sie fahren mir in die Knie, wenn ich gar nicht tanzen will. Dieses Instrument hat mir schon das Wasser in die Augen getrieben mit seinen betörenden Fähigkeiten.
Wir schlagen die Autotüren zu; Stimmen schwellen durch ein offenes Fenster, eine Alpenpolka wird gespielt. Da darf ich annehmen, dass meine Augen heute trocken bleiben.
Rosa hakt sich bei mir ein und ich helfe ihr bei der Bürde mit dem Mantel. Gleich wird sie ihn ablegen, die Hausherrin wird Nähzeug herbeiholen, und alles wird gut.
Wir erreichen die mit 'Willkommen' geschmückte Haustür. Die Frauen kontrollieren ihr Aussehen mit einem schnellen Blick ins spiegelnde Glas.
Wir müssen in die zweite Etage. Ich hasse Treppenhäuser. Jemand hat beim Versuch, ein Graffito zu entfernen, die ganze Wand versaut.
Die Gastgeber nehmen unsere Kleinigkeiten entgegen – das Übliche: Meersalz, Olivenöl, Balsamico.
Sie bitten uns auf die Terrasse. Gläschen Sekt zur Begrüßung, halbtrocken.
Gastgeber Robert stellt die Frage aller Fragen: „Na, gut hergefunden?“
Wir bejahen und sagen Prost.
„Und, wie gefällt’s euch? Habt ihr schon gesehen hier – der Blick, das Panorama?“
Neben Preis und neuer Arbeitsstelle in der Nähe sei das der dritte Grund gewesen, dieses Appartement zu kaufen.
Ich erschrecke fast. Was denn für ein Panorama?
Häuser sehe ich, Dächer, drüben die Stadtautobahn, unruhig wie ein endloser Zehntausendfüßler. Vier belanglose Wohntürme auf der einen, das Viadukt auf der anderen Seite. Weit hinter den Häusern mit ihren grauen und roten Dächern flache Berge, von der Abendsonne beschienen, durch den Autodunst in kupfernen Nebel gehüllt.
Menschen sehe ich von hier aus nicht, aber ich denke an sie. Dort, überall, hinter diesen Schießscharten von Fenstern, leben sie, bis ihre Frist verstrichen ist. Vielleicht ziehen sie noch mal um, um aus anderen Fenstern auf andere Häuser zu schauen, oder wenn sie weiter oben wohnen, wie unsere Gastgeber, auf andere Dächer.
Panorama – ich weiß nicht so recht. So etwas bedrückt mich, das möchte ich nicht sehen.
Hinter jedem Fenster weiß ich ein Schicksal. Nein, nichts Dramatisches. Einfach das Abspulen ungezählter Stunden, in hunderttausend Varianten.
Da wird viel Schlimmes dabei sein, vieles, was ich nicht wissen möchte.
Rosa zündet sich eine Zigarette an und schaut den Rauchwölkchen gelangweilt nach. Die vor uns ausgebreiteten Sensationen scheinen sie ungeheuer zu beeindrucken. Sie blickt mich an wie ein Vamp und gurrt: „Toll, wa?“ Mit der Zungenspitze nimmt sie einen unsichtbaren Tabakkrümel von der Oberlippe. Ich dreh’ gleich durch.
Wir trinken Ananasbowle, Sherry, oder Bier. Robert will sich bei uns Männern einschleimen mit polnischem Wodka.
Das Akkordeon erzählt von Vater Rhein und Matrosen auf hoher See, die Damen ziehen sich die Lippen nach, auf der Terrasse darf geraucht werden.
Zur Krebsgefahr kommt ein Mückenschwarm. Franzi, die Gastgeberin, bittet uns, die Gläser zuzuhalten und sprüht kräftig in die Runde.
Wir fliehen in die Wohnung, überhaupt sollten wir das Rauchen lassen. Unsere Schleimhäute sind gereizt, die Augen brennen.
Die Herren reichen den Damen Einwegtaschentücher; der Hausherr bittet zu Tisch, indem er mit dem Messer an sein Glas schlägt. Unnötig lange, finde ich, schließlich wissen wir, was sich gehört.
Die Gespräche finden wieder zueinander, ich finde zu meiner Tischdame, sie sieht irre gut aus, ich könnte ... – da schlägt er nochmals Alarm. Er möchte etwas sagen.
Redet über sich, die Firma, die Expansion. Da wäre noch viel Luft nach oben, sagt er. Vergisst auch nicht, Franzis Qualitäten zu erwähnen – das Private läge ihm sehr am Herzen. Und er danke für unser Kommen. Wir applaudieren und er wünscht guten Appetit.
Ja, danke schön. Und die anderen im Panorama, in diesen abertausend Häusern – was essen die gerade?
Mutters Küche, italienisch, orientalisch? Und was sie sich wohl dabei erzählen, oder ob sie streiten und sich die Köpfe einschlagen – ich bin mit meinen Gedanken fast mehr bei den anderen hinter den unzähligen Fenstern als an dieser Tafel.
Ich sollte meine Tischdame unterhalten und mir nicht den Kopf über die Welt zerbrechen. Doch sie beschäftigt sich mit Butter und Baguette und scheint mich nicht für sich interessieren zu wollen. Sie bittet mich, das Salz herüberzureichen und unsere Hände berühren sich zufällig.
Die Kerzen flackern ein bisschen, angeregte Gespräche füllen den Raum. Die Themen sind mir vertraut, die Witze ebenfalls.
Mich reitet der Teufel, aber ich schau sie nicht an.
Franzi hat Boeboetie gemacht, ein ‚Brigitte’- Rezept aus Südafrika, idiotensicher wie Moussaka, nur eben mit Trockenaprikosen statt Auberginen und Reis statt Kartoffeln. Putenhack ist bei beiden Rezepten gleich; Deifel noch! Ja, Auflauf, klar.
Wir trinken südafrikanischen Wein, bisschen schwer vielleicht, doch mit exotischen Noten am Gaumen, wie der Gastgeber erklärt. Wegen der Aprikosen; sie haben sich beraten lassen.
Einen kleinen Salat gibt es dazu, die Vegetarier und Veganer können ja mehr Salat essen, und Brot.
Franzi bringt den Nachtisch. Flambierte Schattenmorellen mit selbstgemachtem Vanilleeis.
Das klingt großartig.
Schade, sagt sie, obwohl der Rum in der Küche brannte, habe die Flamme nicht bis zum Tisch durchgehalten, wegen der Zugluft.
Ja, schade. Der Rum ist nicht verbrannt, das Dessert ist stark alkohollastig, aber passt schon. Nur das selbstgemachte Eis ist arg splittrig. Wenn alles eingerichtet ist, werden sie eine kleine Eismaschine kaufen, sagt Robert, und: „Hoffentlich verletzt sich niemand am Zahnfleisch, ist doch ziemlich hart gefroren.“ Dabei kriegt er so ein ansteckendes Lachen: „Ich hätt’ ja fast die Spitzhacke nehmen müssen!“
Der Typ ist wirklich toll. Rosa flüstert: „Sind Schattenmorellen und Sauerkirschen dasselbe?“
Da muss ich passen, aber ich glaube schon. Warum sie sich bei dieser Banalität die Lippen leckt, weiß ich nicht. Diesmal kann es kein Tabakkrümel sein.
„Schattenmorellen klingt schöner, das ist alles“, behaupte ich fahrig.
Damit will sich Rosa nicht abspeisen lassen, außerdem findet sie es befremdlich, dass die Gäste nicht nach ihren Allergien gefragt wurden.
„Wieviel hättest du denn aufzuzählen?“, frage ich beiläufig.
„Na, so Sachen wie Untreue, Lieblosigkeit, Gefühlskälte, Egoismus“, bricht es aus ihr heraus.
Dann hört sie auf, mit den Armen zu wedeln, um ihre aufgebrachten Worte zu verstärken, und fügt hinzu:
„Nee, aber ehrlich – fast gar nix; bei mir sind’s bloß Nüsse, Artischocken und Gluten.“
„Na, ich denke, damit kann man leben“, sage ich und hole meine Stielaugen aus ihrem Dekolleté zurück. Durch die provisorische Kleiderreparatur ist alles ein bisschen verrutscht, im positiven Sinne. Es kann auch der Wodka sein.
Einen nehmen wir noch.
Robert ist leicht angeschlagen, aber er hat den Gastgeber-Bonus. Der Einkauf, die Vorbereitungen, das ganze Handling – und besonders das Ausarbeiten der Rede – das alles zusammen ist schon eine Belastung. Aber gut, jetzt hat Franzi das Kommando.
Die könnt’ mir auch gefallen. Sportlertyp, straff, lustig, kleine feste Brüste. Alles dran.
Sie macht einem Versicherungsfritzen schöne Augen, so offensichtlich, dass es wohl nur zum Spaß gedacht sein kann. Immerhin kann der tanzen wie ein Weltmeister; ich sitze mit Robert und noch drei Herren in der Küche.
Der Wodka behält seine Qualität, wenn man ihn immer wieder in den Kühlschrank zurückstellt. Das Bier hat eh keine Chance, warm zu werden.
‚Aber komm’, sagt mein Bauch, der in Abwesenheit des Hirns die Regie übernimmt, ’hier sitzt du nicht gut. Kümmere dich um Rosa und es soll dein Schade nicht sein.’
„Ach?“, denke oder sage ich – und es leuchtet mir ein.
Mir sitzt dieser Schuft im Hinterkopf, der immerfort sagt: ‚He, Alter, Deine Frau ist nicht da. Willste nicht mal was probieren?’
Vorsicht also! Schnell sitzt man in der Patsche.
Trotzdem, im Ernstfall würde ich eher bei Rosa schwach werden als bei Franzi. Ich hab’s doch lieber im verschwenderischen Bereich.
Tango! Durch Schnelligkeit durchkreuze ich des Tanzweltmeisters Pläne, den Arm um Rosa zu legen. Das ist mein Part!
Sie ist erhitzt. Sekt, Sherry und Wein machen sie schwerelos, sie biegt sich und schmiegt sich, dass ich mich auf die Schritte konzentrieren muss. Rosas Körper, ihr Parfüm und das unwiderstehliche Akkordeon nehmen mir den Restverstand. Die dramatische Melodie erzählt vom Dahinrasen des Lebens und von verpasstem Glück. Dann kommt diese Drehung, für eine Sekunde stehen wir aneinander gepresst, schauen uns irre und schwitzend an und beschließen, gemeinsam in den Tod zu springen. Wir tanzen aus dem Raum, durch den Flur in eines der Zimmer. Rosa gibt der Tür einen Tritt und wir gehen zu Boden. Noch halb in der Luft, drehe ich den Schlüssel um.
Eine verdrängte Idee wird wahr. Eine Idee, die nie eine Chance hatte – und auch nicht haben durfte. Rosa ist eine exzellente Reiterin. Dann legt sie sich rücklings auf den Schreibtisch. Ihre Brüste werden breit wie die Hügel im Land der ständigen Sehnsucht. Ich bin über sie gebeugt und stehe kurz vor dem Wahnsinn. Bei ihr brauche ich keine erotische Fantasie, diese Frau ist das Konzentrat der Erotik.
Das hab ich die ganzen Jahre gewusst, und verdrängt. Ich bin überreizt, muss mich zügeln, an etwas anderes denken, sonst explodiere ich und sterbe.
In der langgezogenen Kurve der Autobahn leuchten weiße und rote Streifen – ich will an Pommes Schranke denken. An irgendeinen gottverdammten Imbiss, oder an ein Flugzeug in Turbulenzen, an eine Bananenplantage. Ich pack es nicht, es reißt mich fort, der Damm bricht. Auch Rosa kommt heftig und herrlich.
Den giftigen Rauch unsere Zigaretten inhalieren wir auf der Terrasse. Wir schweigen. Was sollten wir auch sagen?
„Na, ihr unterhaltet euch ja großartig! Hat das damit zu tun, dass ich nicht mit dabei bin?“, kichert meine Frau und haut uns von hinten kräftig auf die Schultern.
Wir fahren herum wie von der Tarantel gestochen.
„Ich hab diesen Quatsch da abgebrochen, die können sich selbst verarschen. Für dieses Geld hätten wir einen schönen Urlaub machen können. Bin aber auch zu dämlich.“
Ich mutiere vom Schuldbeladenen in Sekunden zum Trostspender: „Scheiß auf die Moneten. Hauptsache, Du bist wieder da, Schatz!“
Auf der Heimfahrt frage ich, warum sie nicht angerufen hat.
„Ach ja, das hatte ich eigentlich auch vor, aber dann quatschte ich mit dem Obstmann, und der erzählte mir, dass er gleich nach Berheim müsse. Tja, da stach mich der Hafer und ich bin mitgefahren. Hatte sowieso die Faxen dicke. Ihn hat’s jedenfalls gefreut, hat er bisschen was erzählen können. Und vor die Tür gefahren hat er mich auch noch.“
„Aber woher wusstest du, dass ich mit Rosa hier bin?“
„Investigation, mein Gebieter! Ein bisschen überraschen wollte ich euch auch. Jedenfalls freu’ ich mich riesig auf dich!“
„Oh, lass uns das mal auf morgen verschieben, ich habe wahnsinnige Kopfschmerzen. Muss dieser polnische Wodka sein.“