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- Anmerkungen zum Text
Viele Türkeireisende kennen Pamukkale (Watteschloss) und seine Sinterterrassen – und das Gedränge dort. Im Text ist der Prota der einzige Mensch an diesem Zauberort, das ist unglaubwürdig. Trotzdem ist es wahr, Ende der Sechziger lag noch alles im Dornröschenschlaf.
Pamukkale
Mittsommer überkommt es mich, Jahr für Jahr.
Dann richten sich alle Härchen auf, der Puls hämmert, es will nicht dunkel werden. Man trinkt den vierten Sundowner und es ist immer noch hell.
Der Grillmaster fiel damals wegen Bacardi-Überdosis aus und ich musste einspringen. Ich kümmerte mich um den restlichen Rum und brannte Stella durch ein kleines Ungeschick ein Loch ins Kleid. Was für ein Malheur! Weil auch die Wachteln angekokelt waren, hatten wir fürs erste Kennenlernen viel Gesprächsstoff.
Als wir nach vier Jahren – wieder zu Mittsommer – auseinandergingen, fehlten uns die Worte. Es war schwierig mit uns beiden, wir taten uns nicht immer gut. Und das Ende war grauenhaft. Doch ich vermisse die Verrücktheiten dieser rasanten Zeit.
Jetzt bin ich anders verrückt. Nehme den Globus, schließe die Augen und bringe ihn mit der flachen Hand langsam zum Rotieren. Nach einigen Runden sage ich stopp und tippe – noch immer mit geschlossenen Augen – auf einen beliebigen Punkt. Eine wahnsinnige Aufregung überkommt mich, als ginge es um Leben und Tod; dramatische Momente, die mein Schicksal bestimmen. Und um die Spannung zu erhöhen, öffne ich die Augen zuerst nur zu schmalen Schlitzen. Wie in der Ursuppe schwappen Kontinente und Ozeane undeutlich durcheinander. Dann vergrößere ich die Schlitze um einen Millimeter: Festland! Amerika!
Falsch – es ist Asien, Pakistan. Jetzt mache ich die Augen ganz auf und erkenne klar und deutlich mein neues Reiseziel: Amaha‘abad. Großer Gott! Besser: Allahu akbar! Aber es hätten auch die Aleuten sein können.
Vielleicht fordere ich mein Glück auf diese Art heraus, bin Zocker, ohne es zu wissen, behaupte sogar, das Glücksspiel zu meiden. Doch seit Stellas Weggang spiele ich das jedes Jahr, in der schlaflosen Zeit zu Mittsommer.
Nach Pakistan geht‘s über Griechenland und die Türkei. Am Abend des fünften Tages erreiche ich Denizli. Gerade gehen die Lichter an, das einzige Hotel hat noch ein Zimmer frei. Hundemüde bin ich und hungrig, könnt‘ einen ganzen Ochsen fressen.
Mittlerweile ist es stockdunkel, es wuselt in den Gassen. Der Ochse ist etwas kleiner, eher Lamm oder Ziege. Knusprig am Spieß geröstet, Rosmarin und Zitrone im Maul. Ich beherrsche mich und bestelle eine normale Portion. Paprika, süße Zwiebeln, Tomaten, Auberginen dazu – ein herrliches Essen.
Im Hotelzimmer schlägt die Stimmung um. Das Waschbecken unsäglich, das Bett ebenfalls. Über allem die nackte Glühbirne, komische Tierchen auf dem zerschlissenen Linoleum. Ich versuche, im Parka zu schlafen, alle Reißverschlüsse stramm zugezogen. Das Kissen ist mit Sand gefüllt, ich liege wie auf Brettern. Warum Stella den furchtbarsten aller Joker gezogen hatte, weiß ich nicht. Durfte sie das? Es war ja auch mein Kind.
Nach dem Morgenkaffee mit Börek schlendere ich planlos durch Gassen und Gässchen, der Bus fährt erst in einer Stunde.
Bei einem Filmentwickler werden Postkarten angeboten. Nichts Aufregendes – Rathaus und eine Vorzeigestraße haben andere Städte auch. Ich will weitergehen, bleibe jedoch abrupt wieder stehen.
Was ist das? Die Installation eines Phantasten, oder Filmkulisse, weil ein Rokkoko-Palais zu simpel wäre? Unzählige Wasserbecken, jedes mit einer Einfassung aus weißem Marmor und Zapfen aus Baiser, an einem Bergrücken gestaffelt, in mildem Licht, zartblaues Aquamarin. Wie in glänzenden Scherben spiegelt sich der Himmel tausendfach.
Ich lasse die Karten im Ständer, diese Bilder will ich selbst machen.
Zuerst nehme ich schwarze Ruinen wahr, davor ein riesiges Becken mit dampfendem Wasser. Stücke marmorner Säulen liegen darin verstreut.
Es ist später Nachmittag, weit und breit kein Mensch – nur ein einsamer Fiat vor dem einfallslosen Flachbau ‚Motel - Rezeption‘.
Aber niemand rezipiert mich, ich schnipse gegen die Klingel.
Ah! Jemand ruft von weiter hinten. Eine Frauenstimme, dunkel und warm. Wie eine Tongabel bringt sie mich zum Vibrieren. Ich versuche, mir diese Frau vorzustellen: groß und füllig, oder eher kleiner und schlank?
Plötzlich steht sie vor mir. Ich verhasple mich, will mein lückenhaftes Englisch mit italienischen und französischen Brocken erklären. Völlig unnötig, sie spricht Deutsch.
Das habe ich nicht erwartet. „Ja, Uni Izmir“, sagt sie, „es war die Idee meines Vaters. Ich habe gehorcht, doch wenn ich gewusst hätte, wie schwierig Ihre Sprache ist, hätte ich mich für Französisch entschieden.“
„Kann ich gut verstehen“, sage ich. „Ich schreibe Reiseberichte, und erst beim Schreiben hab ich die Tücken meiner Muttersprache erkannt. Besonders die Groß- und Kleinschreibung ...“
„Ja, das ist zum Verrücktwerden. Ich weiß nicht, warum das so umständlich sein muss. Andere Sprachen brauchen das nicht.“
Das beste Gespräch meines Lebens. Bei diesem Thema bin ich sicher, die reine Sachlichkeit. Glatteis kann ich nicht erkennen, ich stecke nicht in der Rolle des Mannes, der machen, denken, sagen kann, was er will oder auch das glatte Gegenteil all dessen – dennoch stets ein Fisch auf dem Trockenen bleibt, dessen Stielaugen das Dekolleté suchen.
Was für eine Frau! Ich bin durcheinander – und benommen, ganz zart bekifft von ihrem Parfüm. Und von ihrem intensiven Blick, von der wallenden Pracht ihres Haars in Henna und Schwarz, mit dem dicken Knoten über dem schlanken Hals.
Ich bewundere, mit welcher Grazie sie mir die Arme entgegenstreckt, mit den Händen einer Pianistin mein ausgefülltes Formular entgegennimmt.
„Oh“, sagt sie, „Herr Niehuys – spreche ich das richtig aus?“ „Kann man deutsch oder holländisch aussprechen“, erwidere ich, „sagen Sie am besten Ralph zu mir.“ „Okay, Ralph. Ich bin Aysun.“ Sie schaut mich freundlich an, ich werde das nicht falsch verstehen. Aber unvorstellbar, wenn sie mir mit Zuneigung oder gar mit wirklichem Interesse in die Augen schauen würde.
Erst jetzt erkenne ich die Logik des Orients, wundervolle Frauen in schwarze Gewänder zu zwingen, sonst würden Handel und Gewerbe zusammenbrechen, die öffentliche Ordnung ebenso, und ungezählte Männer an Infarkten zugrunde gehen. Vielleicht auch ich.
Ich möge noch einen schönen Abend haben, sagt sie. Sagt Aysun. Gerade jetzt wäre es in den Terrassen am schönsten.
Mir ist, als hätte ich diesen Namen schon einmal gehört. Aysun – Rätsel, Geheimnis; das klingt nach Magie, die mich in ihren Bann zieht.
Wie aus einem Ballon betrachtet, breitet sich unendliches Land vor mir aus. Ein Aquädukt führt hinunter in die unermessliche Weite, beinahe bis zum Horizont. Tausende Jahre alt, eine geniale Idee. Hoch überm Land, zwischen Sinter und Himmel, huldigt es den Visionen der großen Geister, führt meine Sinne zurück in römische Zeiten.
Ich schaue in die weite Ebene unter mir; Sonnenglast, jetzt zum Tagesende milder, liegt wie ein kolossales Koma über dem Land. Die Hügel und Berge am Horizont flirren im Dunst, verschwimmen im Staub. Kämpfer und Helden früherer Zeiten haben ihn aufgewirbelt, sind selbst zu Staub geworden und verweht. Sieg und Triumph, oder Schmach und Tod im besten Alter – vielleicht hatten ihre Stäubchen, noch voller Energie, eine tolle Reise um den ganzen Globus? Oder sie sind still niedergesunken und haben die Erde fruchtbar gemacht.
Noch einmal drängt die Sonne durch Wolkenbarrieren, die Welt glüht auf. Ich wäre Vater geworden, wie all meine Freunde. Ich stippe meinen Zeh ins schimmernde Wasser, es ist warm, ich will mehr. Tauche ein, bin voller Glück, tauche wieder auf, springe von einem Becken ins andere, möchte in jedem baden, stundenlang. Ganz behutsam bewege ich mich, um nichts abzubrechen von diesem Wunderwerk mit seinen blitzblanken Spiegeln, fliederfarben und rosa-grau – von Feen ersonnen, von Elfen erbaut. Unwirklich, makellos, überirdisch.
Vielleicht etwas dick aufgetragen, aber als Reise-Autor muss ich der Leserschaft etwas bieten. Und es ist wahr!
Hier möchte ich für immer bleiben, mit den tausend Badewannen – ich ganz allein.
Nein, nicht allein. Die rosigen Wölkchen im Blau des Abendhimmels kommen und gehen, rosa für Mädchen, blau für Jungen. Dann werden die Farben blasser, nehmen ein Grau an, das sie beinahe unsichtbar macht. Der Tag geht zu Ende. Meine Sinne beruhigen sich; ich schaue ins Weltall, bis zum Kinn im warmen Wasser.
Der Abendstern blinkt, andere kommen hinzu, und der Mond als scharfe Sichel.
Ist das Glück, oder Staunen? Kinder sind immer glücklich, wenn sie staunen können – aber ich? Wehmut, Einsicht? Ich möchte alles begreifen, und dann alles vergeben und verzeihen, Stella und mir. Ich muss mich furchtbar verhalten haben. Vielleicht werde ich nie etwas verstehen.
Ich wechsle in ein größeres, tieferes Bassin, lasse mich treiben.
Der Tag hallt nach: Die Zimbeln der Teeverkäufer, Eselsschreie, das Quengeln der Kinder, die barschen Anweisungen des Busschaffners, der gar nicht genug Leute und Gepäck in und auf ‚seinen‘ Bus quetschen konnte.
Das warme Wasser schläfert mich ein; meine Augen werden schmal wie beim Erraten des Reiseziels, wenn der Globus nicht mehr rotiert. Einige Sterne fallen ins Wasser und leuchten dort weiter.
Leise, dramatische Musik mischt sich in Dunstfetzen, die Luft kühlt ab, die Sinne erhitzen sich. Ich kann Aysun mehr ahnen als sehen. Wie eine Formel des Glücks sage ich ihren Namen vor mich hin. Schwarze Seide und silberweiße Schwaden vermählen sich, trennen sich – mit Verbeugungen der Quadrille, langsamem Drehen, dann ruckartigem Wirbeln des Paso Doble, ein Augenblick, vielleicht nur eingebildet, doch eine bloße Schulter mit einem winzigen Muttermal – das muss Realität sein! Ich presse die Augen zusammen, reiße sie wieder auf. Steigt sie zu mir ins Wasser oder bin ich geradenwegs dabei, verrückt zu werden – ein Mann im besten Alter, der schöne Frauen sieht, wo keine sind, und mit Dampfschleiern spricht?