Padmasana
Uttanasana, Chaturanga Dandasana, hold it, hold it, hold it, hold it, hold it. Zittern in den Oberarmen. Sie konzentrierte sich darauf, die Spannung in den Bandhas zu halten. Ein Schweißtropfen kitzelte rechts am Nasenbein, sammelte sich kurz an der Nasenspitze und tropfe auf die Matte. Urdhva Mukha Svanasana. Tracys Stimme kam als Erlösung. Es war der achtzehnte Sonnengruß an diesem Morgen. Halb acht, die Sonne längst aufgegangen, die Luft schon warm, aber noch morgenfrisch, von den Ventilatoren in der offenen Shala in Bewegung gehalten. Müsste man den Blick nicht aufs dritte Auge richten, könnte man ihn von hier oben über die dunkelgrünen, dichten Wipfel des Dschungels wandern lassen.
Während Tracy die Hobby-Yogis drillte, brachten die Hardcore-Yogis ihre Körper in Positionen, die außerhalb des gewöhnlichen menschlichen Bewegungsspielraums lagen. Sie lebten Ashtanga-Yoga, mit Fitnesstraining hatte das nichts zu tun. Da komme ich nie hin, dachte Dania. Aber sich zu vergleichen, war verboten, und die Gedanken wandern zu lassen, auch. Adho Mukha Svanasana. Einatmen, ausatmen.
Erst duschen oder erst frühstücken? Gegen das Loch im Magen entschied sie sich, schweißnass, für die Dusche. Als sie die überdachte Terrasse mit den schlichten Holzmöbeln betrat, die als Rezeption, Restaurant und Treffpunkt diente, waren die meisten schon da, ungeduscht, und genossen ihr Müsli, vegan mit Kokosmilch, oder ihren tropischen Obstteller. Nur die Bedauernswerten, die außer Yoga auch noch Detox gebucht hatten, saßen vor einem viel zu großen Glas dunkelgrüner Flüssigkeit. An der Farbe war das Spirulina Schuld. Superfood, voller Vitalstoffe. Dania war froh, dass sie bei allem, was sie ihrem Körper hier zumutete, nicht auch noch fasten oder blaugrüne Algen zu sich nehmen musste. Sie bestellte ihr Müsli bei der burmesischen Köchin, die dauernd scheinbar grundlos lächelte und deren Englisch sie nicht verstand, mit Jogurt und Honig.
I started eating raw food three years ago and could never go back to eating cooked food or dairy, hörte sie die papierhäutige Rotblonde, Sendungsbewusste sagen, deren Namen sie nicht kannte und auch gar nicht wissen wollte. If you eat clean food you don't need to do detox. But Darling... if you live like that you really have to clean yourself from inside first. Sie sprach zu einer pummeligen Kanadierin Anfang Zwanzig, die schon mindestens eine der nachmittäglichen Hatha-Yoga-Einheiten geschwänzt hatte und offenbar auch mit dem Detox-Programm nicht so ganz gut klar kam. Überhaupt waren ausschließlich Hobby-Yogis im Detox, die Hardcores hatten das offensichtlich nicht nötig. Alle schienen sich bio und vegan zu ernähren, viele auch roh. Manche sah Dania fast nie essen. Andere reicherten jedes Essen im Retreat mit mitgebrachten Zusätzen an: Algen aus der Tüte, einer Handvoll Goji-Beeren oder einem Löffel Maca-Pulver. Als einfache Vegetarierin und Bioladen-Kundin kam Dania sich ernährungsmäßig wie eine belächelnswerte Anfängerin vor.
Wanna join us to the beach? Das war Ryan, amerikanischer Supersportler auf Weltreise, der noch nie Yoga gemacht hatte und mal was Neues ausprobieren wollte. No thanks, sagte Dania. Der Strand interessiere sie nicht sonderlich. Der Rest der Insel auch nicht. Sie wollte mit ihrem Buch in der bunt gestreiften Hängematte vor ihrem Bambus-Bungalow liegen, kurz an Corinna denken, die im Büro jetzt die doppelte Arbeit zu erledigen hatte, und an den schmutzigen Schneematsch auf den Straßen und dann ihren Urlaub um so mehr genießen.
Abends im Bett schmerzte ihr Körper an mehreren, genauer gesagt sogar an sehr vielen Stellen, war aber nicht unzufrieden damit. Ob Yoga körperlich süchtig machen kann? Wahrscheinlich. Ein Rausch aus Schweiß, Schmerz und Stärke. Es war höchstens neun Uhr, abends war im Retreat nichts los. Ein paar der Hobbys saßen jetzt vielleicht noch zusammen und redeten darüber, welche Muskeln am meisten weh taten oder wie die Einläufe waren, die zum Detox-Programm gehörten. Oder über ihr richtiges Leben, das nicht von Yoga bestimmt war, oder über ihre Reisen in Thailand und allen anderen Ländern der Welt. Die Hardcores dagegen waren bestimmt schon in ihren Zimmern. Vielleicht meditierten sie noch oder übten sich in geheimnisvollen Yoga-Praktiken, von denen Dania keine Ahnung hatte. Um schon vor Sonnenaufgang wieder voller Lebensenergie zu sein. Das Prana ist morgens am stärksten.
Danias Bungalow lag ganz außen, direkt am Zaun, dahinter nur Wald und Berge. Durch das offene Fenster drangen die Geräusche des Dschungels herein, überraschend laut kamen sie sehr nah und füllten die Dunkelheit: fremdartige Schreie, ein Zirpen und Rauschen - sie musste sich bewusst darauf einlassen, um es nicht unheimlich zu finden. Sie schlummerte ein, wachte wieder auf, lauschte wieder auf die Geräusche. Dazwischen klang mehrmals etwas wie ein schrilles Lachen. Einmal hörte sie etwas poltern. Aber im Yoga-Retreat lachte niemand schrill. Die Yogis waren still. Sie polterten auch nicht, sondern bewegten sich geschmeidig und achtsam. Fast undenkbar, dass ein Glas umfiel oder ein Stuhl lauter als nötig verrückt wurde. Neuankömmlinge übernahmen das schnell von den Hardcores, man passte sich an, um zu sein wie sie, ein Stück weiter schon auf dem Weg zur Erleuchtung.
Sie wachte auf, als es noch kaum sichtbar dämmerte und der Dschungel erwachte. Vor allem die Vögel. Ein Getöse war das. Dania fühlte sich steif und seltsam unausgeschlafen. Dabei hatte sie bestimmt acht Stunden geschlafen. Sie erinnerte sich dunkel an einen Traum, der irgendwie exzessiv gewesen war, sie aufgewühlt hatte. Keine klaren Bilder. Schade, dachte sie, man muss die Träume früher festhalten, und ging ins Bad.
Die Shala war schon gut voll. Die Hardcore-Yogis kamen zum Teil schon vor fünf Uhr her und meditierten oder machten Pranayama, Atemübungen. Dania nahm sich eine Matte, suchte sich einen freien Platz auf dem glänzend-dunkelbraunen Teakholzboden und begann mit ihren Sonnengrüßen. Urdhva Vrksasana, Uttanasana A, Uttanasana B, der Körper sträubte sich, aber der Wille war stärker. Konzentration auf die Atmung. Spannung in den Bandhas. Dann wurden die Muskeln warm und weich. Adho Mukha Svanasana. Ging doch. Sie spürte die Hitze der vielen Körper, hörte ihren ozeanischen Atem, fühlte sich eins. Yoga ist not about touching your toes. Samasthitih. You are ready, sagte Tracy, we can move on. Einatmen. Ausatmen.
Beim Frühstück setzte sie sich mutig zu dem australischen Hardcore-Yoga-Pärchen. Die beiden waren Bilderbuch-Yogis und hatten sich bestimmt im Studio oder Retreat kennengelernt. Ihr fiel auf, dass sie von keinem der Hardcores wusste, was er oder sie außer Yoga noch im Leben machte. Vielleicht war da kein Platz für anderes. Niemand sprach über Beruf oder Familie. Is this your first time at the retreat?, fragte Ashley, der weibliche Teil des Yoga-Pärchens. Yes, sagte Dania, what about you? We come here every year for six weeks. I can stay only two weeks, sagte Dania. Because of my job. I see. Zum Harcore-Kern könnte sie schon allein deshalb nicht gehören. Beim Guru in Indien musste man mindestens zwei Monate am Stück bleiben, möglichst jedes Jahr.
Am Nebentisch tauschten sich Begonia, die exaltierte Spanierin, die schon ewig hier zu sein schien, und Keith, ein älterer Australier, der meistens nur mit einem Tüchlein um die Hüften herumlief, das jederzeit abzurutschen drohte - was Nachlässigkeit sein konnte oder auch Absicht und Dania so oder so als unangenehm empfand - über spirituelle Erfahrungen aus. Beide hatten die Vipassana-Meditation als äußerst gewinnbringend erfahren. Zehn Tage Schweigen. I managed to forgive everybody everything, sagte Begonia. Wow, dachte Dania.
Nachmittags gab es ein Dampfbad. Die feuchte Hitze tat gut, Dania blieb so lange drin, bis ihr schummrig wurde. Sie schielte auf die vielen nackten Körper, fast alle sehr schlank und unprätentiös muskulös. Schöne Körper, in die viel Arbeit gesteckt wurde. Dabei lag dem wahren Yogi jeglicher Körperkult fern. Der leckere Body war gewissermaßen ein Randprodukt, das auf dem Weg zum Glück abfiel. Trotzdem: Ganz frei von Eitelkeit zu sein, nahm Dania selbst den Hardcore-Yogis nicht ab.
Nach der Hatha-Stunde ging sie auch noch zur Thai-Massage. Der thailändische Ladyboy gab ihr den Rest, sein Druck war sanft, aber tief und dauerte immer etwas zu lange. Abends im Bett fühlte sie sich ganz weich an. Der Muskelkater ist besiegt, dachte sie. Von jetzt an wird es nur noch besser. Sie lag lange bewegungslos auf dem Rücken im Dunkeln, wie Toter Mann im Wasser, ohne irgendeinen Wunsch.
In der Nacht weckte sie wieder ein schreiendes Tier. Ein hoher, hysterischer Laut. Vielleicht ein Affe, dachte Dania. Und dann war da wieder dieses Lachen. Und wieder. Es kam von der anderen Seite, nicht vom Dschungel, sondern aus der Richtung, in der die Bungalows lagen. Wenn es nicht aufhört, sehe ich nach, dachte Dania. Jetzt meinte sie, auch andere Geräusche zu hören. Ein Klappern. Mehr Stimmen. Es war kurz nach zwei. Sie ging aufs Clo, legte sich wieder ins Bett, konzentrierte sich. Sie konnte nicht mehr einschlafen. In ihr rangen Müdigkeit und Neugier, Unsicherheit und Mut um die Oberhand. Schließlich stand sie auf und zog Jacke und Flipflops an.
Die Nacht war samtig und voller Sterne, sie zog sie tief durch die Nase ein, bevor sie auf dem schmalen, von Büschen und Blumen gesäumten Weg zwischen den Gebäuden loslief. Auf der Terrasse war Licht. Je näher sie kam, desto deutlicher hörte sie, dass dort Leute waren, eine ganze Menge. Sie stieg die kleine Holztreppe an der Seite hinauf, dann sah sie sie: Um den großen Holztisch herum standen die Hardcore-Yogis, einige saßen darauf, andere lagen fast, alle streckten sich in die Mitte und stießen eilig große Löffel in riesige Eiskanister und schoben sie sich gierig in den Mund. Wo kommt das Eis her, dachte Dania. Köpfe drehten sich nach ihr um. Niemand schaute erschrocken oder ertappt, alle waren fröhlich, fast aufgekratzt; sie lachten und redeten durcheinander. Do you want some? fragte der Freund von Ashley. No, thanks. Just water. Sie ging zur Theke, nahm sich ein Glas und goss sich aus der Karaffe, die immer dort bereit stand, lauwarmes Wasser ein. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie all die Möchtegern-Lichtesser sich der Völlerei hingaben. Reinschaufelten und runterschlangen. Das Eis ekelte sie fast an. Milch, Fett, Zucker, dachte sie. Künstliche Aromastoffe, Farbstoffe, Konservierungsstoffe. Alles Schlechte. If it has added sugar, don't eat it.
This is my favourite flavor, sagte David, den sie als Algenfreak kannte, zu Ashleys Freund neben ihm. What is it? Kurzer Blick. Oh yes, it's awesome, I had it yesterday, sagte der mit vollem Mund. Tomorrow we will try some new flavors, sagte David. Sie würden nicht aufhören, bis die Kanister leer wären.
Am Morgen ging Dania früh in die Shala, sie war die erste der Hobby-Yogis. Einige der Hardcores saßen in Padmasana, dem Lotussitz, auf ihren Matten und atmeten. Er symbolisiert den Transformationsprozess. Er ist das Yoga-Symbol schlechthin. Jeder Yogi will den Lotus können. Wenn er so weit ist. Dania setzte sich in den Halblotussitz und schloss die Augen. Practice, practice, practice, all is coming.