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Paar im See
An Regentagen sind Museen voller Verliebter.
Lara stand auf dem Museumsbalkon und schaute hinunter. Noch war die Wiese voller Decken und Badetücher. Federbälle flogen in den Himmel und leuchteten im Fallen vor der Dunkelheit zwischen den Bäumen, die sich zunehmend vertiefte.
Die Leute schienen immer bis zum letzten Moment zu warten. Der Regen mußte sie erst beim Lesen überraschen, bevor sie aus ihrer sonnentrunkenen Schläfrigkeit erwachten. Lara liebte dieses plötzliche, synchrone Aufbrechen: rasches Zusammensuchen von Picknickutensilien, hastig in Fahrradkörbe verstaute Bücher und Wasserflaschen.
An heissen Nachmittagen waren die Museumsräume meist leer und Lara freute sich auf die Parkflüchtlinge, die sich durchnässt ins Museum verirrten; Mädchen in Bikini-Oberteilen, die auf wackligen Plateausandalen solange zwischen den Vitrinen stolzierten bis ihre Kleider getrocknet waren. Laras Kolleginnen empörten sich über solch offensichtliches Desinteresse an der Kunst und bestraften es mit hartnäckiger Verfolgung, bis die Übeltäterinnen entnervt die Ausstellung verliessen. Lara war es egal, ob sich jemand für japanische Lackkunst interessierte. Wichtig war, ob der Besucher interessant war. Was vertrieb besser die museale Langeweile als ein turtelndes oder gar streitendes Paar? Das Beobachten fremder Liebesangelegenheiten versüßte Lara so manchen Arbeitstag und sie hatte einiges an Geschick entwickelt, ihre Observationen ebenso diskret wie effizient zu vollziehen.
Normalerweise fühlte sich Lara nicht schlecht dabei und den Vorwurf eine als Aufsicht getarnte Voyeurin zu sein, hätte sie empört von sich gewiesen, doch seit dieser Geschichte vor zwei Monaten, regten sich in ihr leise, quälende Zweifel, die sich selbst nachts nicht abstellen liessen. So manche Nacht hatte sie schlaflos im Bett gelegen, grübelnd, verzweifelt, einmal sogar weinend. Sie war nicht die einzige, die geweint hatte.
Schon nach der ersten Radiomeldung an jenem Abend waren Schaulustige mit Taschenlampen in den dunklen Museumspark gepilgert, ungeduldig die zweite Gewitterwelle abwartend. Alle waren in dieser Nacht vorsichtig gewesen, selbst die sonst eher Leichtsinnigen; niemand wollte das gleiche Schicksal erleben, wie das unbekannte junge Paar. Dabei wusste man nicht einmal, ob es sich überhaupt um ein Liebespaar handelte, aber jeder wünschte es sich heimlich; das würde ihrem sinnlosenTod zumindest etwas Romantisches geben.
Lara weinte am nächsten Morgen, als sie das Zeitungsfoto sah: sie erkannte die junge blonde Frau, die sie heimlich im Museum beobachtet hatte. Und es gab ein Bild vom Tatort; die rotweißgestreifte Tatortsicherung wickelte sich um den Baum wie ein Geschenkband und machte ihn zu einem romantisch-tragischen Pilgerort für junge Melancholiker - jedenfalls so lange das Absperrband hielt.
Die Identität der jungen Frau herauszufinden, hatte sich als nicht sonderlich schwer erwiesen, nicht zuletzt weil man sie unter einem Baum am Wasser gefunden hatte. Lara erinnerte sich an ein zartes Persönchen, eher Mädchen als Frau, flachshaarig, zierlich, voller Übermut, das beinahe koboldartig durch die Ausstellung getobt war, dass die Vasen in den Vitrinen nur so geklirrt hatten. Eigentlich hätte sie tadelnd einschreiten müssen, aber sie hatte sich nicht bemerkbar machen wollen. Sie war neugierig geworden, nicht nur auf die junge Frau, sondern auch auf ihren Begleiter, einen ernsten, sicherlich mehr als zehn Jahre älteren Mann, der ständig etwas in ein Notizbuch kritzelte. Lara fragte sich ob, der Mann zeichnete oder schrieb. Merkwürdig war, dass er nicht sprach. Vielleicht war er stumm. Die Polizei hatte seine Leiche zunächst übersehen, weil ihn das Gewitter in den See geschleudert hatte.
Lara sah nachts einen Lichtbogen über ihrem Bett, einen comicartigen Blitz und fragte sich, wie der Tod des Mannes physikalisch erklärbar war, wie jemand vom Blitz getroffen, in einen See geschleudert werden könnte. Ihre Kolleginnen diskutierten allerlei Möglichkeiten, die ihre Männer abends beim Stammtisch aufgeschnappt hatten. Keine sprach davon, die junge Frau an jenem verhängnisvollen Regennachmittag gesehen zu haben. Verena, die mollige, stets gutgelaunte Frau aus dem Museums-Café gab zu, dass sie das Paar auf der Terrasse bedient hatte. Lara wußte, was die beiden getrunken hatten. Sie hatte vom Balkon hinabgeschaut: Milchkaffee und Mineralwasser. Dazwischen lag das Notizbuch. Dunkle, störrische Locken mischten sich mit blonden Flachssträhnen, als sich die beiden Köpfe dicht beieinander über das Buch beugten. Es fing an zu regnen, doch es schien sie nicht zu stören. Das Buch klappten sie zu und legten es unter den Tisch. Wasser tropfte von oben in den Kaffee und als sich die junge Frau in ihrem weißen, nassen Plastiksessel zurücklehnte, sah Lara, wie sich ihr feuchtes Kleid an ihren mageren Körper presste. Für Momente war Lara voller Neid; sie fragte sich, ob die beiden ein Paar waren, ob sie glücklich waren, wenn sie miteinander schliefen. Die junge Frau hatte nach oben geschaut und für Momente waren ihre hellen Augen Laras forschendem Blick begegnet, aber sie schien nichts dagegen gehabt zu haben, dass Lara sie anstarrte, vielmehr hatte sie beinahe einvernehmlich gelächelt, um dann ihr Gesicht dem Regen zu schenken, glücklich, sehnsüchtig, die Zunge nach oben gestreckt, um die Tropfen zu schmecken.
Die beiden waren schon in die Dunkelheit des Parks entschwunden, als der Blitz in den Computer fuhr, der für die Museumsgäste im Eingangsbereich stand. Lara hatte sich nicht nach Hause getraut. Das musste, wie Lara im nachhinein rekonstruierte, der Moment gewesen sein, der Moment, als nicht nur der Bildschirm innerhalb von Sekunden schwarz wurde. Sie hatte Verena geholfen, die Stühle von der Terrasse ins Café zu tragen und unter einem hatte sie das Notizbuch gefunden, der Einband aus weichem, mittlerweile naß gewordenem Fell und sie hatte gedacht, dass die junge Frau bestimmt nichts dagegen hätte, wenn sie, Lara, das Buch abends mit nach Hause nähme und erst am nächsten Morgen ins Museum zurück brächte. Und da lag es nun noch immer und es gab niemanden mehr, der es vermisste. Lara fragte sich, ob sie sich strafbar machte, wenn sie das Buch nicht der Polizei aushändigte.