Was ist neu

Ozon

Mitglied
Beitritt
16.08.2001
Beiträge
13

Ozon

Eisig schneidet mir der Ostwind ins Gesicht. Ich kann die Augen beinahe nicht offenhalten, so dicht tobt der Schneesturm um mich herum. Immer wieder raffe ich mich dazu auf, noch einmal einen Schritt zu tun. Das Blut hämmert durch meine Schläfen, und mein Bewußtsein trübt sich immer mehr. Meine linke Hand ist nichts mehr als ein formloser Klumpen Fleisch, von den Strapazen der letzten Stunden zu einem nutzlosen Anhängsel deformiert. Raum und Zeit haben ihre Dimensionen verloren und ich vermag nicht mehr zu sagen, wie lange ich hier schon so ziellos umherirre. Noch einmal setze ich den Fuß einen Schritt nach vorn, doch es fällt mir zusehends schwerer. Lange geht es nicht mehr so weiter. Die Sinne schwinden mir allmählich dahin. Dieser undurchdringliche Kältevorhang umfängt mich, und mein Verstand zieht sich immer mehr aus meinem Körper zurück. Ich kann meine Augen nicht mehr offen halten. Plötzlich durchdringt ein Geräusch den eisigen Wind. In der Ferne höre ich Hundegebell. Ich versuche zu schreien, doch nur ein trockener Seufzer steigt aus meinem Hals. Der Wind reißt mir das letzte Wortfragment von den Lippen und trägt es davon zu einem fremdem Ort.
Meine Kräfte verlassen mich. Wie ein totes Stück Fleisch, so tot wie der Stumpf meiner Hand, sinke ich erschöpft zu Boden, und sofort spüre ich, wie der Wind mich mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Um mich herum wird es finster. Lange Zeit irrt mein Verstand in einer zwielichten Welt umher, die von unheimlichen Schatten beherrscht wird. Ich bin umringt von Dämonen mit düster funkelnden Augen und flammenden Zungen. Sie stoßen Worte aus, doch ich verstehe ihre Sprache nicht. Dennoch spüre ich immer mehr ein dumpfes Pochen in meiner Hand, meinen Beinen und meinem Kopf. Plötzlich überzieht brennender Schmerz meine Lippen. Einer der Dämonen ist mir sehr nahe gekommen und seine Worte haben mich verbrannt. Wutentbrannt und zutiefst schockiert schreie ich in die Dunkelheit.
Mit einem Mal nimmt ein ungeheurer Sog die Finsternis mit sich fort. Immer schneller rotieren die Gesichter der Dämonen um mich herum, ehe mein Leben plötzlich wieder vom Tageslicht erfüllt wird. Wärme umfängt mich, das Knistern eines Feuers dringt durch den Halbschlaf zu mir. Ich befinde mich in einer Blockhütte, eingebettet in weiche Felle von Robben und Eisbären. Wer hat mich hierher gebracht? Ich sehe niemanden in diesem Raum. Der Wind, der mit unbezähmbarer Stärke die Wildnis draußen unter sich begräbt, ist mein einziger Gefährte. Langsam kehrt das Leben in meinen Körper zurück. Ich weiß nicht, wer mich hierher gebracht hat, doch meine Hand steckt in einem wohltuenden Verband.
Mit den letzten Reserven meiner spärlichen Kräfte richte ich mich auf. Ich traue meinen Augen nicht, denn neben meinem Lager finde ich Speise und Trank. Dieses seltsame Getränk, so grünlich in der Farbe und mit fremdartigen Gerüchen, durchströmt meinen Körper bis in die Spitzen meiner verbliebenen Finger. Es ist noch warm, und dennoch finde ich um mein Lager herum nicht ein Anzeichen dafür, daß ein menschliches Lebewesen hier gewesen ist. Ich esse Dörrfleisch, vermutlich von einem Wal oder einer Seekuh, und es schmeckt ungewohnt. Meine Kiefer schmerzen beim Kauen, denn zu lange habe ich keinerlei Nahrung zu mir genommen. Das Essen strengt mich an, und wiederum sinke ich auf mein Lager nieder, wo mich ein tiefer, erholsamer Schlaf umfängt.
Die Zeit streicht dahin. Beständig pfeift der Wind um das Blockhaus. Alles verschwindet unter der weißen Masse. Als ich wieder erwache, finde ich eine neue Mahlzeit neben meinem Lager. Und wieder ist keine Spur von meinem Retter auszumachen. Allmählich haben sich meine Kräfte so weit regeneriert, daß ich aufstehen kann. Die Hütte, in der ich mich befinde, ist nicht sonderlich groß. Das Feuer ist schon beinahe heruntergebrannt, doch neben dem Kamin finde ich genügend trockenes Holz, um den Brand zu nähren. Rote Flammen verschlingen die trockenen Scheite. Ich durchstöbere das spärliche Mobiliar meiner Unterkunft und entdecke in einer Truhe endlich Papier. Zu viele Erinnerungen an die letzten Tage oder Wochen - wie gesagt, die Zeit hat für mich jede Kontur verloren - spuken in meinem Kopf umher. Ich hoffe, sie durch die Niederschrift beseitigen zu können. Glücklicherweise bin ich Rechtshänder, den von meiner linken Hand ist mir nichts geblieben, als ein nutzloser Stumpf, der oberhalb des Handgelenks sein Ende findet.
Wie hat eigentlich alles begonnen? Anfangs waren wir zu viert. Paul, Henry, John und ich waren in dieser Eiswüste unterwegs, um mit Wetterballonen die Ausmaße des Ozonloches zu untersuchen. Unsere Station war fern jedweder Zivilisation inmitten einer polaren Eiswüste. Zwei Wochen lang führten wir unsere Messungen regelmäßig durch, und die Werte, die wir dabei feststellen mußten, waren mehr als erschreckend. Das Ozonloch hatte sich schon bis weit über den Polarkreis hinaus ausgebreitet. Wohl zu unserem Glück verdunkelte der vom Wind aufgewirbelte Schnee permanent die Sonne, was uns mit ziemlicher Gewißheit vor krebsartigen Hautkrankheiten bewahrte.
Da wir nach einer Weile den größten Teil unserer Forschungen erledigt hatten, galt es nun, weitere Untersuchungen in der Nähe des Pols anzustellen. Die ersten Tage näherten wir uns ihm Kilometer um Kilometer, während wir abends unsere Ergebnisse schriftlich festhielten. Doch eines Tages entfernten wir uns zu weit vom Lager und gerieten mitten in einen gefährlichen Schneesturm. Unsere Hunde spielten verrückt, weil selbst ihnen die grausame Kälte schwer zu schaffen machte. Der Wind trieb die Schneeflocken so schnell und so dicht über das Land, daß man die Hand vor den Augen nicht mehr sehen konnte. Aufgrund der Nähe zum Pol war selbst unser Kompaß kein zuverlässiges Instrument mehr.
Wir wollten an Ort und Stelle ausharren, doch der Sturm trieb uns permanent in eine Richtung. Keiner von uns wußte, wie er sich dieser Naturgewalt zur Wehr setzen sollte. Mit einem Handschuh rieb ich das Eis vom Glas meiner Uhr. Nahezu vier Stunden lang entfernten wir uns nun schon immer mehr von unserem Lager. Plötzlich, als hätte jemand eine unsichtbare Trennungslinie durch die Landschaft gezogen, traten wir von dem dichten orkanartigen Schneetreiben hinaus in eine stille, ruhige Welt. Ich traute meinen Augen nicht. Wo mein Gesicht noch vor einem Augenblick von den permanenten Attacken eisiger Kristalle malträtiert wurde, da schnitt mir nun nur noch eine kalte Luft in die Haut. Ich wandte mich um und sah hinter mir tatsächlich, wie hinter einer Glaswand verborgen, das noch immer vorherrschende Schneetreiben.
Wir sprachen uns untereinander ab, wohin wir uns nun wenden sollten. Vorräte hatten wir nur für einen Tag dabei, und gegen diesen turbulenten Sturm kamen wir nicht an. Unser Lager schien uns vorerst ein unerreichbares Ziel. Plötzlich zogen die Hunde an. Sie hatten irgendeine Witterung aufgenommen, und weder unsere Rufe noch der Knall der Peitsche vermochte es, sie aufzuhalten. Henry und ich hatten Probleme, bei diesem rasanten Tempo mitzuhalten. Meine Lungen brannten wie die Feuer der Hölle von der eisigen Luft. Zusätzlich kam schon nach wenigen hundert Metern ein Seitenstechen hinzu. Ich japste nach Luft, versuchte, so viel Sauerstoff wie möglich in meine Lungen zu pumpen, doch die Kälte schien mich bekämpfen zu wollen. Japsend und Keuchen, die Hand fest auf meine Seite gepreßt, humpelte ich vorwärts.
Und endlich hielten die Hunde inne. In rasendem Tempo hob und senkte sich mein Brustkorb. Mein Zwerchfell zuckte immer wieder zusammen, und endlich bekam ich wieder genügend Atemluft. Für einen kurzen Moment schloß ich die Augen. Langsam beruhigte sich mein Organismus wieder. Mein Körper schrie mich an, beschwerte sich über die Tortur, die ich ihm soeben zugemutet hatte, schickte mir Schmerzen in meine Beine, meine Lungen und mein Gesicht. Wie von tausend feinen Stecknadeln gestochen loderte mein Gesicht in diesem Schmerz auf.
Die Hunde hatten vor einem gewaltigen Eisberg halt gemacht. Verwundert sahen wir einander an, denn einen Eisberg inmitten der Polarebene zu finden, war mehr als ungewöhnlich. Die trübe Luft verschlang den Gipfel dieses Giganten, sodaß war nicht in der Lage waren, auch nur annähernd die Ausmaß des Berges zu schätzen. Inmitten der gewaltigen Eismassen klaffte ein Spalt, den man schon beinahe für ein Portal halten konnte. Unschlüssig standen wir da. Keiner hatte auch nur die Spur einer Idee, was wir nun unternehmen könnten. Plötzlich wurde hinter uns ein tobendes, rasendes Pfeifen laut. Erschreckt blickte ich über die Schulter! Jener Schneesturm, dem wir erst vor wenigen Minuten entronnen waren, raste nun wie eine gewaltige Eiswalze auf uns zu. Uns blieb nichts anderes übrig, als uns in der Eisspalte zu verschanzen. Innerhalb weniger Augenblicke hielten wir eine stumme Absprache, und schon kurz darauf sahen wir uns links und rechts von endlosen Eismassen umgeben.
Nur noch eine Spur von Licht drang zu uns durch, trübe Düsternis und das stete Rasen des Windes schlossen uns ein. Henry und Paul setzten sich auf den Boden und hefteten ihre Blicke auf den rasenden Sturm. Ich war nicht in der Lage, meine Knie abzuknicken, weshalb auch ich, noch immer stehen und mit schmerzenden Beinen, den irren Tanz der Flocken verfolgte. John indessen kümmerte sich um die Hunde. Im Polargebiet konnte ein Schneesturm mehrere Stunden lang dauern, und wie immer rechnete John mit dem Schlimmsten. Er löste die Hunde aus ihrem Geschirr, doch kaum hatte sie ihre Freiheit zur Kenntnis genommen, da rasten sie auch schon los. Fünf von ihnen, darunter Reino, der Leithund, stürzten hinaus in das Schneetreiben und wurden sofort von der trüben Luft verschlungen. Harku, der sechste unserer Hunde, rannte in die entgegengesetzte Richtung, immer tiefer in den Eisberg hinein. John setzte ihm hinterher, um wenigstens noch einen von ihnen zurückhalten zu können.
"John!" rief ich. "John! Bleib stehen, das ist zu gefährlich!" Meine Worte drangen nicht mehr bis zu ihm vor. Statt dessen regten sich plötzlich Paul und Henry und sahen zuerst sich und dann mich ganz verwundert an. "Was ist passiert?" fragte Henry. "Ich war wie hypnotisiert!" meinte Paul. Auch mir war es beinahe so ergangen, daß dieser wahnsinnige Tanz der Schneeflocken im Wind mich in Trance versetzt hätte. "Kommt!" sagte ich zu ihnen. "John ist in die Höhle gerannt, um Harku zu retten! Die anderen Hunde hat uns der Schneesturm gestohlen!" Die beiden versuchten aufzustehen, doch der Kontakt mit dem eiskalten Boden hatte sie beinahe zum Erstarren gebracht. Ich benötigte sehr viel Kraft, um den beiden wieder aufzuhelfen.
"Hat einer von euch Streichhölzer?" fragte ich. Henry fand noch ein halbes Heftchen in seiner Tasche. Ich wagte es nicht, so planlos in die Finsternis zu steigen. Da wir vermutlich alle Hunde verloren hatten, schien mir der Schlitten nicht mehr von Bedeutung. Mit einem Fußtritt brachte ich einen der Holzholme zum Zersplittern. Ich wickelte einen Teil der Bespannung darum und hoffte, diese provisorische Fackel nun zum Brennen zu bringen. Natürlich saßen Kälte und Frost darin, doch ohne ein Licht noch tiefer in die Dunkelheit vorzudringen schien glatter Wahnsinn zu sein. Das erste Streichholz fiel dem Sturm zum Opfer und mit dem zweiten brachte ich nur beißenden Rauch aus der Schlittenbespannung hervor. Es bestand nicht die geringste Chance. Die Fackel war zu sehr von Feuchtigkeit durchzogen. "Moment!" sagte Henry. Er öffnete den Reißverschluß seiner Jacke, und was brachte er hervor? Einen Flachmann! "Ich hoffe, es ist noch genügend Rum drin, um dieses verdammte Ding zum Brennen zu kriegen!" seufzte er. Vorsichtig tränkte ich den Lappen mit dem kostbaren Schnaps, immer darauf bedacht, nicht zu viel zu verschütten. Abermals eroberte der Wind zwei unserer Streichhölzer, und nur noch drei blieben uns übrig. Ich mußte mich sehr beherrschen. Jetzt, wo wir die Spur einer Chance hatten, unser Fackel zum Brennen zu bringen, versuchte der Wind, uns gänzlich der Düsternis zu überlassen.
Langsam begannen meine Finger zu Zittern. Mit eiserner Willenskraft konzentrierte ich mich auf meine Aufgabe. Unter höchster Anspannung schaffte ich es schließlich, die zaghafte Flamme in die Nähe des alkoholgetränkten Tuches zu bringen, und siehe da, unsere Bemühungen wurden vom Erfolg belohnt. Sofort lag ein Dunst von Rum in der Luft. Zischend und dampfend schmolz das Eis in dem Tuch dahin, und wir alle hofften, daß es uns nicht die Flamme löschte. "Also los!" sagte ich und wagte den ersten Schritt der Dunkelheit entgegen. Mit dem zaghaften Flackern der Fackel waberten unsere Schatten an den Wänden entlang. Trotz der spärlichen Beleuchtung erwies sich die Höhle schon bald als Tunnel gigantischen Ausmaßes. Immer wieder riefen wir die Namen von John und Harku, und das Echo unserer Stimmen hallte geisterhaft von den Wänden wider, doch keine Antwort kam. Plötzlich fiel ich fast einen Meter tief in eine Mulde. Mit dem letzten Rest meiner Reaktionsfähigkeit hielt ich die Fackel aufrecht, um nicht in dieser Finsternis gefangen zu sein. Paul und Henry stiegen sofort zu mir herunter und halfen mir wieder auf die Beine. "Ist Dir etwas passiert?" fragte Henry. "Da!" kreischte Paul. "Du hast Blut im Gesicht!" Ich fuhr mir mit dem Handschuh über mein Gesicht, und tatsächlich, er verfärbte sich rot. Doch ich verspürte keinerlei Schmerz. Es konnte nicht mein Blut sein. Ich senkte die Fackel, um den Boden genauer unter die Lupe zu nehmen und brachte gar nicht erst zu suchen.
Der Boden der Mulde war ein Schlachtfeld. Überall waren größere und kleiner Blutflecken im Schnee. Dazwischen lagen Haarbüschel von Harku und dann, ich wußte nicht, ob ich schreien oder weinen sollte, Johns rechter Schuh, die Sohle nach oben. Ich ging darauf zu und nahm ihn in die Hand. Und sofort überkam mich ein Brechreiz und ich übergab mich zwischen meine Beine. Johns Fuß steckte noch immer in diesem Schuh, ein bizarres Fragment eines menschlichen Körpers. Die zersplitterten Knochen des Unterschenkels ragten wie Zähne aus dem Stumpf hervor. Wenige Meter entfernt sah ich etwas Dunkles liegen. Ich befürchtete schon, nun Johns Kopf gefunden zu haben, doch es war der von Harku. Ich habe noch nie einen Hund gesehen, der die Augen vor Schreck so weit aufgerissen hat. In seinen blauen Augen spiegelten sich Angst und Ensetzen. Nahe hinter dem Kopf fand die Mulde ein Ende. Ich stieg hinauf. Ich wollte nicht noch mehr von dem sehen, was dort unten vielleicht noch lag. Paul und Henry riefen meinen Namen, doch ich war wie taub. Das, was ich gerade gesehen hatte, war zu viel.
Einen Moment blieb ich stehen, und schon kurz darauf hatten mich meine Gefährten wieder eingeholt. Keiner von uns sagte ein Wort. Ich war zutiefst verletzt, wie irgend jemand, irgend etwas meinem Freund, dem ich so viele Stunden verbracht hatte, einfach so zerfetzen konnte. Und dann überschäumt mich ein Gefühl der Wut. Alles, was ich wollte, war Rache. Ohne ein weiteres Wort setzte ich meinen Weg fort. "Wo willst Du hin?" fragte Paul. "Ich werde John rächen!" stieß ich hervor. "Aber das ist doch zu gefährlich! Wir haben nicht die geringste Ahnung, mit was wir es hier zu tun haben!" Wutentbrannt drehte ich mich um und schrie sie an: "Wenn Ihr zu feige seid, um Euren Kameraden zu rächen, dann könnt ihr auch wieder umkehren und Euch dem Schneesturm hingeben." - "Aber Du hast doch die Fackel!?" flehte Henry. "Das ist nicht mein Problem, sondern Eures!" sagte ich, wandte mich um und schritt weiter voran.
Nur für einen Augenblick glaubte ich, sie würden umkehren, doch schon kurz darauf standen sie beide an meiner Seite. Ich sah die Angst und das Entsetzen in ihren Gesichtern. Bei mir war all das unter einer gewaltigen Schicht von Wut verschwunden, die erst gestillt sein würden, wenn ich eine Antwort auf meine Fragen gefunden hatte. Keiner meiner Gefährten wagte es, mich anzusprechen. Ich bin schuld daran, daß auch sie dieser Kreatur zum Opfer gefallen sind, und nicht einen meiner Freunde konnte ich rächen.
Nach einem weiteren Fußmarsch landeten wir alle abrupt auf dem Hinterteil und schlitterten eine eisige Rutsche hinab in die Tiefe. Der Luftzug brachte meine Fackel beinahe zum erlöschen, doch glücklicherweise war die Fahrt nur von kurzer Dauer. Wir standen plötzlich auf trockenem Boden. Die Rutsche endete am Rande einer gewaltigen Höhle, die sogar irgendwie beleuchtet war. Ich drückte meine Fackel am Boden aus und sah mich um. Vor mir am Boden waren Spuren zu erkennen. Eigentlich sahen sie aus wie Bärenspuren, doch ich hatte noch nie einen Bären gesehen, der Tatzen von der Größe eines Kleinlasters hatte. Allmählich hatte die Angst auch von meinem Herzen Besitz ergriffen, wenn ich nur daran dachte, welch gewaltiges Ausmaß der Verursacher dieser Spuren haben mußte. Doch dann hüllte die Wut mich wieder ein und ich stieß einen wutentbrannten Schrei aus. Brüllen und tobend rannte ich einfach immer geradeaus.
Plötzlich übertönte etwas meine Stimme. Ich hörte Paul und Henry schreien und kreischen und hielt abrupt inne. Schnell machte ich kehrt und schon von weitem konnte ich die Bestie sehen. Der Bär war so groß wie ein Haus. Eine seiner gewaltigen Tatzen hielt den noch immer kreischenden und zappelnden Paul fest, führend die andere gerade die zweite Hälfte von Henry zu seinem riesengroßen Maul führte. Das Kinn des Untiers war blutverkrustet. "Hilfe!" schrie Paul, und ich rannte auf ihn zu. Doch schon aus dem Blickwinkel heraus hatte der Bär mich gesehen. Henry war in seinem Schlund verschwunden, und er stieß seine Tatze nach vorn. Mit einem überlegten Sprung zur Seite konnte ich diesen Meterlangen Krallen entwischen.
Paul, nun kurzfristig in Freiheit, rappelte sich auf und suchte schnellstens Schutz hinter einem Felsen. Der Bär, der sich nun zwei Feinden auf einmal gegenüber sah, richtete sich auf, doch weil die Höhle so niedrig war, stieß er mit dem Kopf gegen die Decke. Die ganze Höhle erbebte unter diesem Aufprall, kleinere Felsbrocken bröckelten von der Decke und eisiges Geröll kam die Rutsche herunter gerollt. Wütend stieß der Bär einen Schrei aus. Dann wandte er sich wieder Paul zu. Ich bin mir nicht ganz sicher, warum, aber ich vermute, daß er ihn als leichtere Beute sah, als mich. Ihn hatte er schon einmal in seinen Fängen gehabt und er mußte schon sehr geschwächte sein. Paul sprang auf, doch wie ein Fechter bohrte der Bär seine Krallen durch Pauls Körper. Vier Zacken ragten aus dem zermarterten Leib hervor, und ich sah Blut in Strömen fließen.
Einen Moment war der Bär unaufmerksam. Er führte die Tatze zum Mund, und ich nutzte die Gelegenheit, um in seinem zottigen Fell emporzuklettern. Schnell hatte ich den Kopf erreicht, und der Bär mich erspäht. Er begann, sich zu schütteln, und ich benötigte alle Kraft, um mich in seinem Fell festzuhalten. Als er sah, daß seine Maßnahmen nichts taugten, fletschte er die Zähne und stieß ein donnerndes Knurren hervor. Paul hing nur noch links und rechts zwischen den Zähnen des Bären hervor und ich versuchte, dem Untier seine Beute zu entreißen. Voll und ganz auf den letzten meiner Gefährten konzentriert, war ich für einen Augenblick unachtsam. Der Bär schnappte nach mir, und meine linke Hand wurde von Handgelenk getrennt. Blut schoß in einer Fontäne hervor und übergoß die eingetrocknete Kruste am Maul des Untieres.
Wut und Schmerz und Angst und Haß vereinten sich in mir und ich stieß einen Schrei aus, der sogar den riesigen Bären schockierte. Vielleicht lag es auch einfach daran, daß ich seinem Ohr sehr nahe war, nun, auf jeden Fall konnte ich mich nicht mehr halten, stürzte zu Boden und erwartete, schon im nächsten Moment von einer dieser unförmigen Tatzen ergriffen zu werden. Doch mein Schrei hatte den Bären so erschreckt, daß er sich mit bebenden Schritten von mir entfernte. Der Sturz aus der Höhle hatte mich etwas benommen gemacht, doch der Schmerz in meiner Hand brachte mich sofort wieder zu vollem Bewußtsein. Noch immer sprudelte das Blut aus dem Stumpf meines Handgelenks hervor. Eilends löste ich den Gürtel aus meiner Hose um den Arm abzubinden. Entzündungen konnte ich in Kauf nehmen, doch würde der Blutverlust kein Ende nehmen, so blieben mir nur noch wenige Minuten zu leben.
Als ich dieses Werk endlich vollbracht hatte, sammelte ich meine Kräfte und stand auf. Der rote Fleck auf dem Felsboden schockierte mich zunächst. Sollte das alles mein Blut sein, daß da über den Boden verteilt war? Oder gehörte ein Teil davon noch jenen Gefährten, die ich in den sicheren Tod getrieben hatte? Schließlich entschied ich mich für letzteres, da meine Kraftreserven noch stark genug schienen, um meinen Weg fortzusetzen. Ich wußte, daß ich keine Chance hatte, dieses Untier allein zu besiegen. Ich wollte in die Heimat zurückkehren, um dann mit einem ganzen Bataillon von Jägern noch einmal hierher zu kommen. Aber dann mußte ich zuerst aus dieser Höhle hinaus. Die Rutsche erwies sich als unmöglicher Aufstieg. Mein Verstand sagte mir, daß auch der Bär einen Weg haben mußte, wie er nach oben gelangen konnte, denn mit all seiner Schwerfälligkeit war es für ihn noch unmöglicher, den soeben von mir versuchten Weg einzuschlagen.
Glücklicherweise war der Bär schwer genug, um in dem felsigen sandigen Boden seine Spuren hinterlassen zu haben. Ich folgte also diesen ungeheuren Mulden, bis ich schließlich einen Weg nach oben fand. Plötzlich erinnerte ich mich der Fackel, die mir im Kampfgetümmel abhanden gekommen war. Also kehrte ich noch einmal auf das Schlachtfeld zurück, um dieses unabdingbare Utensil meiner Rückkehr in die Zivilisation ausfindig zu machen. Es verstrich etliche Zeit, und schließlich fand ich sie an jener Stelle, wo ich lange Zeit zuvor meinen Weg beendet hatte, um meinen Gefährten zu Hilfe zu eilen.
Diesmal hatte ich das Glück, daß die Fackel sofort hell aufloderte. Also war mein Weg nach oben zumindest beleuchtet, wenn auch nur dürftig. Schon während des Aufstieges umkreisten mich fortwährend Gedanken, die alle das Untier in der Tiefe betrafen. Ich hatte noch nie zuvor eine derartige Spezies gesehen. Es war weder ein Braunbär noch ein Eisbär noch sonst irgend ein Bär, den ich jemals zuvor gesehen hatte. Und dennoch schien von jeder Art etwas dabei zu sein. Nur die gewaltigen Ausmaß dieser Abart konnte ich mir nicht erklären. Vor allem konnte ich es nicht verstehen, daß die ganzen Expeditionen, die vor uns das Polargebiet durchkreuzt hatten, diesem Tier niemals begegnet waren.
Schritt um Schritt kämpfte ich mich also nach oben. Endlich konnte ich wieder Tageslicht sehen. Ja, der Schneesturm war vorbei und trübes, milchiges Sonnenlicht flutete durch den Höhleneingang in das Innere des Eisberges. Beim Schlitten angekommen, stopfte ich mir die letzten Reste unserer Vorräte in meine Taschen und wagte mich nach draußen. Fortwährend nagte mein Gewissen an mir, da ich doch den Tod meiner Gefährten verschuldet hatte. Immer tiefer zog sich mein Verstand in diese Welt der Schreckensvisionen zurück, sodaß ich es zunächst gar nicht bemerkte, daß ich mich abermals inmitten eines gewaltigen Schneesturmes befand. Lange Zeit irrte ich darin umher, ehe ich dann gänzlich zusammenbrach und in dieser Blockhütte wieder aufwachte.
Das ist meine Geschichte und ich weiß nicht, ob sie mir irgend jemand glauben wird. Moment! Ich höre etwas an der Tür! Da! Die Tür öffnet sich und...

Nahezu zwei Tage sind vergangen, seit ich das letzte Mal meine Gedanken niedergeschrieben habe. Ich kenne jetzt den Besitzer dieser Hütte. Es ist ein alter Mann von beinahe siebzig Jahren. Er war es, der mich aus dem Schneesturm gerettet hat. Bei ihm sind auch unsere fünf Schlittenhunde angekommen, einschließlich Reino, meinem einstigen Leithund. Endlich habe ich eine Antwort auf all meine Fragen bekommen. Endlich ist mein Wissensdurst über das Zustandekommen dieser seltsamen Spezies gestillt.
Wie schon zuvor erwähnt hatten unsere Messungen mit den Wetterballonen horrende Werte ergeben. Und hier rund um den Pol ging das schon lange Zeit so. Die Bären hatten in dieser Höhle dort unten lange Zeit gelebt. Sie hatten sich vor langer Zeit zurückgezogen, um vor den Pelzjägern sicher zu sein. Doch irgendwann einmal hatten es ein paar von ihnen gewagt, ans Tageslicht zurückzukehren. Da die Pelzjagd nahezu ausgestorben war, fühlten sie sich wieder sicher und genossen die frische Luft und das Tageslicht. Doch die Sonne sollte ihnen zum Verhängnis werden.
Die hohe Luftfeuchtigkeit und die fehlende Ozonschicht verwandelte die Strahlen der Sonne zu einem mörderischen Instrument. Über Jahre hinweg paßten sich die einstigen Eisbären den neuen Gegebenheit an und wurden so immer resistenter gegen die negativen Umwelteinflüsse. Diesen Kampf konnten sie aber nur durch gewaltige Größe gewinnen. Die Natur setzt sich gegen die Sonne zur Weh, weshalb die Bären von Generation zu Generation immer größer wurden. Doch schließlich war auch dieser Ermessensspielraum erschöpft. Viele von ihnen verendeten in der Sonne. Eine Welle von Krebs zerstörte die Tiere nacheinander. Zuerst körperlich, dann psychisch.
Eine kleine Schar von ihnen kehrte schließlich in die Tiefe der Höhlen zurück. Doch weil dort das Nahrungsangebot mehr als spärlich und die Angst vor dem Sonnenlicht zu groß war, fingen sie an, sich gegenseitig aufzufressen. Das letzte Mal, so erzählte mir der Alte, habe er nur noch eine Bärenfamilie gesehen: Vater, Mutter und ein Junges. Und den Bißwunden an meiner Hand nach zu urteilen hatte ich das Glück, nur letzterem zu begegnen.

 

Nicht übel! Die Erklärung für das "Monster" ist zwar etwas weit hergeholt, aber es muss ja nicht immer ein verrückter Gen-Techniker sein. ;)
Was meiner Meinung nach der Geschichte gut getan hätte, wäre eine Straffung - ich fand sie etwas zu lang geraten, wodurch zwischenzeitlich doch etwas Langeweile mich durchfuhr.
Stilistisch ist sie in Ordnung, obwohl es auch hierbei noch Verbesserungsmöglichkeiten gäbe.
Fazit: Mir gefiel die Story eigentlich ganz gut, würde trotzdem meinen, dass du sie nochmal gründlich überarbeiten solltest.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom