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Outside

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03.01.2002
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Outside

Outside

Ich sehe meinen Bus noch am Ende der Strasse an den Häusern vorbeifahren. Mir ist keineswegs danach, jetzt noch einige Gedanken an dieses Unheil zu verschenken. Mit sinnloser Gleichgültigkeit nehme ich diesen Umstand zur Kenntnis und setzte meinen Weg trotzdem fort. Langsamer, da ich mich nicht mehr in Eile befinde, schleiche ich durch die pfützenverseuchte Fußgängerzone und betrachte die Auslagen hinter den Gittern der Geschäfte. In den Seitenstrassen erkenne ich, dass einige Imbissstände ihrer Tätigkeit nur mit minimalster Motivation nachgehen. Ich ziehe meine Jacke ein wenig höher, da die spätherbstliche Kühle und der Wind durch die engen Schluchten der Innenstadt mich frieren lassen. Irgendwann fange ich damit an, nicht mehr meinen Weg zu beachten und so patsche ich durch frische Regenrinnsäle, die sich in kleinen Teichen zusammenrotten. Meine Sneakers durchnässen und meine Hosenbeine saugen das Wasser bis zu den Knöcheln auf. Ohne Zögern streune ich durch meine Stadt auf die Haltestelle zu. Viele um mich herum haben das gleiche Ziel, die wenigsten davon haben jedoch den gleichen Bus verpasst. Die Lautwelt um mich herum nehme ich nur noch gedämpft wahr, zu tief haben sich die Bässe in meinen Gehöhrgang gefressen. Hinter mir laufen fröhliche Menschen die Strasse hinunter, sie lachen und schreien sich gegenseitig unverständliche Dinge zu, die sie sich in ihrem Rausch ausgedacht haben. Den Schritt habe ich jetzt längst hinter mir. Bis zu einem gewissen Punkt bleibe ich immer fröhlich, danach wird es ernst. Wie heute.

Die Jungs habe ich verabschiedet, ich konnte nicht mehr länger bleiben. Du kommst nüchtern und frisch und ein paar Stunden später hast du dich schon völlig verausgabt, kriegst keinen klaren Gedanken ausgesprochen und erkennst dich auf den Toiletten-Spiegeln selbst nur noch am frisch gefärbten Haar. Platin-Blond oder Weiß-Blond, das ist unter Schwarzlicht dann eh egal. Die Jungs sind geblieben, die waren auch noch relativ zusammen, vom Zustand her gesehen. Ich bin raus in die Nacht und in die letzten Tropfen eines städtischen Regenfalls.

Ich schwanke jetzt leicht die letzten Schritte auf die Kirchentreppe vor der Haltestelle zu. Geschafft. Ich lasse mich auf eine kalte Steinfliese fallen und betrachte meine Armbanduhr. Einige Momente später kristallisiert sich ein Zeitbild vor meinen Augen und ich erkenne, dass mir eine gute Stunde Nichtslosigkeit bevorsteht. Ein jüngeres Pärchen torkelt vor meinen Augen vorbei und setzt sich am anderen Ende der Treppe auf die oberste Stufe. Ich beobachte sie noch eine Weile, wie sie eng zusammenrücken und halb liegend, halb sitzend rumknutschen. Ein leichter Würgereiz krabbelt in meiner Kehle nach oben. Ich habe das Gefühl, das mir gleich schlecht wird. Vielleicht hätte ich mehr essen sollen, oder weniger? Weitere Menschen sammeln sich um mich herum. Viele jüngere, die mich verständnislos ansehen oder in ihrer Gruppe Sprüche ablassen. Ein anderer Bus fährt vor und ein Dutzend partygelaunter Menschen entscheidet sich entweder zwischen erleichternder Rückreise oder für eine Verlängerung der Spielzeit. Die Uhr springt auf eine volle Stunde. Das Pärchen neben mir ist plötzlich weg. Ich werde müde. Meine Kehle ist trocken. Eine Bierdose wird in meine Richtung geworfen und landet restespritzend vor meinen Füssen.
Der Regen setzt wieder ein.


Die Luft ist trocken. Mir ist heiß. Ich schwitze. Mein T-Shirt klebt an meinem Rücken fest und warmer Schweiß läuft mir im Gesicht herunter. Ich versuche, ihn mit einer kurzen Handbewegung von meiner Stirn zu wischen, aber die Feuchtigkeit lässt sich nicht vertreiben. Gleich werde ich wieder völlig nass sein. Ich versuche, mich auf die Rhythmik meiner Beine zu konzentrieren. Eigentlich ist es ja egal. Mein Oberkörper schwankt im Takt vor und zurück, ich versuche mit kurzen Schritten ein wenig Platz um mich herum zu sichern. Ab und zu hüpfe ich mit der Masse in die Luft. Dann wiederum fühle ich Hände an meinem Rücken oder an meinem Arm, die mich fortdrücken. Ich werde mitgerissen, meine eigenen Hände um mich herum nach Halt suchend. Wenn ich meinen Stand wieder finde, dann suche ich nach Gleichgesinnten. Nach Mitspielern. Die Menge um uns weicht zurück. Hier verläuft unser Spielfeld. Bist du mutig genug? Dann trete ein. Wie eine lebendige Kugel werde ich durch den Ring geschossen, ich pralle an der Bande eines schmächtigen Jugendlichen ab, der sich zu weit in den Ring getraut hat. Ich reiße ihn mit, er schwankt nach hinten und platzt mitten durch eine kleinere Mädchengruppe, die sich ihr eigenes Revier abgesteckt haben. Er gibt ihnen zu verstehen, dass es keine Absicht sein sollte, sie stoßen ihn verächtlich zurück. Ein paar meiner Jungs stehen an meiner Seite. Sie spielen mit und sie spielen mit mir. Wiederum andere lassen sich zurückfallen und betrachten uns biertrinkend vom Rand der Tanzfläche. Von irgendwoher springt ein breitschultriger Hüne auf mich und reißt mich in der Menge mit zu Boden. Meine Jungs greifen nach ihm, andere kommen mir zu Hilfe. Kurz darauf stehen wir beide wieder. Ich sehe ihm in die Augen und nicke. Es ist OK. Das ist das Spiel. Erst er, dann ich, danach irgendjemand anderes. Ein junges Mädchen wird mir in den Rücken gestoßen. Ich ignoriere sie, versuche mich nach vorne zu legen, um ihr nicht zu nahe zu kommen. Sie gehört nicht dazu. Die Menge macht ein wenig Platz, damit sie ihren Weg durch die Halle fortsetzen kann.

Die Welt um mich herum ist klein geworden. Ich erkenne keine Melodie in den Tönen, nur Bässe und Schläge. Ich weiß nicht, welcher Song aufliegt. Die Stimmung schwankt zwischen ordinärer Leichtigkeit und metallener Mächtigkeit. Mein Rausch lässt mich alles vernebelt wahrnehmen. Oder ist es tatsächlich der Nebelwerfer? Die Beleuchtung schaltet zurück. Schwere Farben wandern über die Köpfe der Tanzenden. Rot und Orange. Ein helles, mattweißes Flutlicht wirft eine nüchterne Silhouette in mein Gesichtsfeld. Für einen kurzen Moment sehe ich klare Dinge. Ich sehe farbechte Bilder, erkenne den Rausch der Beteiligten. Ich fühle ihre Erschöpfung, aber niemand gibt auf. Es ist die Sucht nach verlorener Zeit. Was auch immer dies für Menschen sind, sie haben eines gemeinsam. Und das finden sie hier. Die Scheinwerfer zucken epileptisch auf und ab. Ich sehe in ihre betörenden, orangenen Augen.
Mit dem nächsten Taktwechsel taucht die ganze Szenerie in ein stroboskopisches Weiß ab. Ich sehe meine Arme im Zeitlupentempo. Alles um mich herum verlangsamt sich. Ich höre nichts mehr. Die Zeit hält den Atem an. Die Welt wird ausgebremst. Das Leben muss aber weitergehen. Der nächste Takt erlöst mich.

Es geht weiter. In einer ruhigen Sekunde sehe ich mich um. Ich betrachte meine Mitmenschen. Einige sind älter als ich, einige jünger. Ich sehe ein Mädchen mit dunklen Haaren, eine Haarspange hält ihr hübsches Gesicht von diesen frei. Sie trägt ein Nasenpiercing. Sie war bereits die ganze Zeit hier, wie mir jetzt auffällt. Es ist eine Lüge, zu behaupten, dass die Anonymität hier siegt. Man kann sich an jedes Gesicht erinnern, nur man will es nicht. Ich kenne sie, denke ich. Nein, kann nicht sein. Viele hier sehen aus wie sie. Aber sie erinnert mich. Und ich weiß gleich an wen.

Die Musik wechselt. Ich kann es hören, wie ruhigere Töne die Oberhand gewinnen. Das Licht schwankt zwischen Melancholie und Schwermütigkeit. Die Tanzfläche leert sich, neue Menschen strömen in die entstandenen Lücken. Die anderen laufen auf die Bar zu. Ich gehe ebenfalls. Das Mädchen bleibt stehen.

Ich schlucke ein halbes Glas Bier herunter. Ich muss wieder schwitzen. Die Stimmung kippt um. Alles wird schwerer. Keine zuckenden und springenden Körper. Stattdessen ein träges Wiegen. Die Menge drängt zusammen. Und das Mädchen in der Mitte.

Die Jungs prosten mir zu. Ich nicke zurück. Mein Mädchen ist nicht hier. Sie sagte, wir sollten alleine gehen. Ihr wäre es zu laut, nicht ihr Geschmack, kein Interesse. Und wir sind ohne sie gegangen.
Ich sehe das Mädchen vor mir auf der Tanzfläche. Andere Menschen tanzen um sie herum. Mal kann ich sie sehen, mal wieder nicht. Sie steht dort völlig allein. Niemand, außer mir, beachtet sie. Auch meine Jungs nicht. Ich bewege mich nicht mehr. Ich trinke einen weiteren Schluck Bier und starre sie fasziniert an. Sie tanzt gut, rhythmisch, sexy, wild.
Die Scheinwerfer strahlen mich an. Ich sehe an mir herunter und sehe tieforangene Leuchtpunkte über meinen Körper wischen. Die Nebelwerfer laufen auf Hochtouren. Der Bass dröhnt in mein Ohr. Ich kann mich nur auf ein permanentes hypnotisches Rauschen konzentrieren. Mir fällt der Song nicht ein, aber ich kenne ihn. Schön und ruhig.

“I'm on the outside
I'm looking in
I can see through you
See your true colors
Inside you’re ugly
Ugly like me
I can see through you
See to the real you.”

Es ist ihr Lied, es wurde für sie gesungen. Sie weiß es. Sie gehört dazu. Ich könnte mich in sie verlieben. Aber ich tue es nicht. Ich habe ein Mädchen. Aber sie ist nicht hier. Sie wollte ja nicht.

Mit meiner Ex bin ich oft hier gewesen. Lange ist es her, aber wir waren zusammen hier. Sie und ich. Und wir haben getanzt. Beide. Ich habe sie da draußen auf der Tanzfläche beschützt. Sie blieb bis zum Ende jedes Abends bei mir. Wir haben die Welt um uns herum vergessen können. Unsere Zuflucht war hier, dieser Ort. Jedes Mal.

Ich liebe meine Freundin doch nicht.

Mir ist schlecht. Ich will gehen. Ich verabschiede mich von den Jungs. Sie kennen das Spiel schon längst.

 

Hallo crashterpiece,

im Gegensatz zu einigen anderen Geschichten dieser Art in diesem Forum ist deine Version hier relativ erschwinglich. :engel:

Beinahe wollte ich schreiben, dass du vielleicht von der Kursiv-Funktion hättest Gebrauch machen sollen, um die Zeitensprünge besser zur Geltung zu bringen, doch die Absätze reichen völlig aus, sofern man achtsam liest. :)

Ich halte diese Geschichte hier insofern für "erschwinglich", da du gezielt "Eindrücke danach" und "Eindrücke vorher" ziemlich nüchtern wiedergibst. :engel:


Gruß, Hendek

 

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