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Ostern (am Strand)
Tom liegt entspannt am Strand. Auf einem weißen Handtuch verdaut er seit dem Mittag vor sich hin. Im Moment beobachtet er winzige Sandkörnchen, die der Wind in Kurven über den Boden treibt. Die Sonne scheint herrlich, während Katrin neben ihm schläft.
Ein paar Meter vor ihnen zieht sich eine Maorifrau unter einem flatternden Seidentuch um. Jedes Mal, wenn es ihr um den Kopf weht, wird offenbar, was sie so mühsam zu verstecken suchte. Mit verzweifelten Verrenkungen, probiert sie dem Malheur beizukommen. Ihr stämmiger Körper mit den fleischigen Hüften verleiht der Situation eine Slapsticknote. Tom muss sich beherrschen, um nicht vor Lachen zwischen den Sandkörnchen auf seinem Handtuch herum zu kugeln. ‚Schadenfreude schönst Freude‘ denkt er, als etwas Seltsames passiert.
Zwei der Sandkörner, die sich durch seine Sonnenbrille mit den Polfiltergläsern gut vom weißen Untergrund abheben, scheinen sich zu regen. Der Wind kommt als mögliche Ursache nicht in Betracht, da er im Augenblick ruht. ‚Was soll das denn jetzt?‘ fragt sich Tom. Die Teilchen stören sich offenbar nicht an der halblaut ausgesprochenen Frage. Sie bewegen sich von allein und er bemerkt, dass es sich bei den beiden Gesellen gar nicht um ordinäre Sandkörnchen handelt, sondern um mini-mini-mini menschenähnliche Geschöpfe. ‚Mann, mich hat‘s erwischt.‘ denkt er - dieses Mal wieder leise.
Beim genauen Hinschauen bestätigt sich das Unmögliche. Es sind zwei winzige Kerle im mittleren Alter, der eine mit Bart und Glatze, der andere mit wild-weißer Piratenmähne. Gekleidet sind sie in ausgewaschenes Ölzeug, wie es die Fischer hier am Meer tragen. Sie scheinen sich zu unterhalten. Beide gehören offenbar zu den Ureinwohnern, da ihre Haut eine dunkle Färbung aufweist.
Jetzt nimmt Tom ein seltsames Wispern wahr. Er kann nur vermuten, dass es sich dabei um die Laute seiner kleinen Handtuchbewohner handelt. Er nähert sich ihnen mit dem rechten Ohr, drückt den linken Zeigefinger in das andere und nutze die freie Hand um den Wind abzuschirmen. In dieser Stellung sieht er nicht mehr was passiert, aber er hört. Während er sich konzentriert, form sich das Säuseln zu Worten. Und plötzlich versteht er, was sie sagen. Sie sprechen Englisch mit dem spitzen Slang der einheimischen Maori und sie lachen, soviel bekommt er sofort mit. ‚Bestimmt amüsieren sich die beiden auch über ihre dicke Landsfrau, die nun endlich ihren Badeanzug gegen einen altrosa Schlüpfer mit grüngelbem Rock getauscht hat.‘
»Jeff« brüllt der eine, »hast du gestern das Rugbyspiel gesehen? Die Seahawks waren Scheiße! Sauschlecht wie schon vorige Woche.«
»Yiiiss!« so klingt das kiwienglische yes. »Die sollten zu Hause bleiben diese verdammten Bastarde.«
Von etwas weiter weg tönt auf einmal eine hohe Stimme »Macht‘s besser ihr beiden Saufsäcke und beschwert euch dann.«
"Halt's Maul Kathy und bring noch zwei Pints." ruft der Glatzkopf in die Richtung aus der die Stimme kam.
Vorsichtig nimmt Tom die Hand vom Ohr und richtet sich auf. Das muss er sehen.
Mehr und mehr von den Sandkörnchen scheinen sich zu bewegen. Seine Polfilterglassonnenbrille lässt ihn das deutlich erkennen. Und es sieht nicht nur so aus, nein, SIE LEBEN! Einige der Männlein und Weiblein stehen zusammen und diskutieren. ‚Wer zum Teufel sind die Seahawks?‘ fragt sich Tom. Noch nie hat er von einer Rugbymannschaft dieses Namens gehört. ‚Und überhaupt, seit wann reden Sandkörner, haben Arme und Beine und trinken Bier?‘ Langsam wird ihm mulmig. Ob etwas mit dem Wein gestern nicht in Ordnung war?
Auf seine Ellenbogen gestützt, den Blick starr auf das weiße Handtuch gerichtet, traut er seinen Augen kaum. Ein anderer Sandkornmann und eine hübsche Sandkornfrau machen es sich zwischen den weichen Fasern bequem. Sie scheinen ein angeregtes Gespräch zu führen. Wieder beugt sich Tom mit dem rechten Ohr nach unten und hält sich das Linke zu. Mit der freien Hand schirmt er den Wind ab.
»Es ist verrückt« zwitschert das kleine Sandkornpralinchen.
»Ach Ellen, du spinnst. Was erzählst du bloß wieder für nen Quatsch. Du solltest das aufschreiben, vielleicht zahlt dir ja einer Geld für die Hirngespinste. Es ist wirklich selten, dass sich jemand so viel Kokolores ausdenkt.«
»Ich weiß Dany. Aber ich kann doch nichts dafür. Immer erlebe ich diese irren Sachen. Manchmal denke ich ja selbst, dass ich nen Sprung in der Schüssel hab. Dann jedoch sehe ich die Dinge wieder ganz klar vor mir. Nix Fantasie, ehrlich.«
»Und du sagst, dass auf deinem Handtuch die Sandkörnchen anfingen zu reden?« fragt Sandkorndany.
Sie scheinen ein Paar zu sein. Tom findet, dass der Typ viel zu hässlich ist für das wirklich extrem hübsche Mädchen. Die Art aber auf die beide sich ansehen, lässt keinen Zweifel aufkommen. Entweder haben sie bereits was miteinander oder es wird bald passieren. ‚Moment mal‘ denkt es plötzlich in ihm. ‚Was hat Dany da eben gesagt? Was wollte er von der Kleinen wissen? Handtuch, Sandkörnchen, ... Das gibt‘s doch nicht.‘
»Genau« antwortet Sandkornellen auf Danys Frage. »Ich liege im Sand, auf meinem weißen Strandtuch und schaue durch meine neue Polfilterglassonnenbrille. Du weißt schon, die wo man alles ziemlich klar sieht, weil störende Reflexe ausgefiltert werden. Behauptet zumindest der Optiker.«
Der Sandkornmann schaut sie lieb lächelnd und auch ein wenig amüsiert an.
»Ja und da bemerke ich, wie sich einige der Sandkörner auf meinem Badetuch bewegen. Und wenn ich mit meinem Ohr ganz nah an sie herangehe, kann ich sogar hören, was sie sagen.«
»Sooooo?» fragt Dany mit leicht hochgezogenen Augenbrauen. »Und die beiden haben sich nicht von dir stören lassen?«
»Kein Ding. Im Gegenteil. Ich existierte nicht für sie. Und nach und nach fiel mir auf, dass auf meinem Handtuch alles am Leben war, verstehst du? Sie bewegten sich, redeten, stritten und alberten und ein kleiner Junge weinte.«
Toms Schulter, auf der er sich die ganze Zeit abstützt, verkrampft und er schnellt mit schmerzverzogenem Gesicht hoch. Die Spannung zieht sein Ohr jedoch sofort wieder nah an den Ort des Geschehens. Sein Herz klopft bis zum Hals.
»Ich fass es nicht.« meinte Sandkornmann Dany. »Die Sandkörnchen an unserem Strand haben mit dir gesprochen.«
»Nein! Hör doch zu, sie haben miteinander geredet und mich überhaupt nicht bemerkt. Und es waren nicht Sandkörner, sondern Menschen wie wir, nur viel kleiner.«
Das Sandkornfrauenstimmchen klingt aufgeregt »und genau das, was ich in diesem Moment vor mir sehe, erzählt einer der Winzlinge, die ich beobachte, seinem Kumpel. Verstehst du, ich meine, der hat das Gleiche erlebt, wie ich. Mein Sandkornkerlchen hat beobachtet, wie winzige Sandkornkerlchen sich auf seinem Handtuch tummelten.«
»Ellen!« will Sandkorndany seine Freundin beruhigen. »Wie bitte haben denn die Sandkörner gesprochen?«
»Na wie wir. Englisch. Und sogar mit Kiwiakzent. Ich glaub ich werd verrückt Dany.« Langsam zeigt ihr Gesicht Verzweiflung.
Tom kann nicht mehr zuhören. Auch seine linke Schulter fängt an zu krampfen. Er hat Schweiß auf der Oberlippe, seinen Herzschlag spürt er im Hals. Das muss er erst mal verdauen. Die von ihm gerade belauschte Sandkornellen hat ihrem Freund erzählt, dass sie winzige Sandkörnmännchen beobacht hat, die sich darüber unterhielten, dass sie Sandkornmännchen beobachtet haben. Winzig, winziger, noch winziger, das ist wie bei den russischen Matroschkas. Alles beginnt sich zu drehen. Ihm ist, als ob er in einen Schacht stürzt. Er möchte Schreien, sein Mund würgt aber nur Laute heraus, die am ehesten an Unterwasserschreie erinnern.
In diesem Moment rüttelt ihn etwas und je mehr er schreit desto kräftiger. Er öffnet die Augen und blickt auf einen Berg hellbrauner Haut, der dicht vor seinem Gesicht hin und her schwabbelt. Altrosa mischt sich mit Gelbgrün. Tom wird wach. Jemand grölt ihn an »Hey aufwachen, hören sie, AUFWACHEN!« und dabei schüttelt es ihn erneut. Langsam kommt er zu sich. Der Absturzstrudel ist weg, auch Sandkornellen und ihr Freund Dany sind verschwunden. Er liegt ein ganzes Stück neben seinem Handtuch im warmen Sand. Die dicke Maorifrau hält ihm eine Wasserflasche hin.
»Sie sollten nicht so lange in der Sonne schlafen junger Mann« belehrt sie ihn. »Es ist gefährlich, wissen sie. Hier in Neuseeland haben wir die höchste UV Einstrahlung der Welt.«
Tom schüttelt sich. Dann bedankt er sich artig und noch immer etwas benommen bei der Frau, die ihm vorkommt, als hätte er sie schon einmal gesehen - in seltsam verrenkter Haltung irgendwie. Aber so genau kann er sich im Moment nicht erinnern. ‚Das Bier zum Mittag‘ denkt er, ‚das wird‘s gewesen sein. Ich darf keinen Alkohol in der Sonne trinken.‘ Jetzt erst sieht er Katrin. Sie kommt von einem Strandspaziergang zurück.
»Du hast ausgeschlafen. Prima! Ich wollte dich nicht wecken mein Schatz.« sagt sie und setzt sich neben ihn.
»Du glaubst nicht, was mir eben passiert ist,« beginnt Tom zu erzählen, »vor mir auf dem Handtuch, habe ich winzige ...«. Plötzlich stockt er und überlegt. Sehr langsam dreht er sich um und schaut nach oben.
»Was ist denn?« will Katrin wissen.
»Ach, vergiss es.« erwidert Tom. Und irgendwie hat er das Gefühl, dass etwas ihn beobachtet.