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Osterferien
„So ein Arsch. Wieso knallt der uns ungefragt die Speisekarte auf Englisch hin?"
„Oh Clemens, jetzt mach bitte nicht wieder ein Fass auf. Du siehst halt nicht gerade wie ein Italiener aus."
„Wie sehe ich dann aus? Wohl kaum wie ein Engländer und noch weniger wie einer dieser fetten, degenerierten Amis. Wie ich es hasse, dass die alle über einen Kamm scheren. Am liebsten würde ich ihn nochmal herholen und mir eine italienische Karte bringen lassen. Scheiß Tourikaff."
„Es war deine Idee, in Sorrent zu übernachten. Ich wäre lieber nach Neapel ..."
„Ach ja? Zwischen Müllbergen und irgendwelchen Arabern, die dir nachts in einer Gasse die Uhr vom Handgelenk zerren?"
„Deine Swatch? Schon gut, was nimmst du?"
„Mhh...ich denke, ich nehme die Spaghetti alle Vongole."
„Die hattest du jetzt jeden Abend. Willst du nicht mal ein Fleisch probieren oder Risotto?"
„Wenn mir die Spaghetti eben schmecken...daheim isst man sowas ja nicht."
„Okay, wenn du meinst. Ich versuche heute mal den Sepia. Mit Ofenkartoffeln", sagte sie.
„Scusa", Clemens winkte den Kellner mit einer, wie sie fand, recht herrischen Geste heran, „possiamo ordinare?"
„Yes, of course. What would you like?"
„Per me Spaghetti alle vongole, un acqua con gas e una botella di vino bianco. Per favore." Der Kellner schien recht unbeeindruckt von Clemens' Volkshochschulitalienisch, was ihn offensichtlich wurmte.
„And for you, Signora?" Artig bestellte sie auf Englisch, deprimiert, dass die "Signorina-Zeiten“ wohl unwiderruflich passé waren. Ob es eine Altersgrenze gab, ab der man keine Signorina mehr war, sondern eine gesetzte Signora?
„Botella ist übrigens Spanisch", konnte sie sich nicht verkneifen, als der Kellner abgezogen war. Clemens grunzte etwas Unverständliches.
„Findest du, ich sehe aus wie vierzig?"
„Kris, du bist neununddreißig, keine Ahnung. Sehe ich aus wie zweiundvierzig?" Sie zuckte mit den Schultern. Manchmal schon, dachte sie. Sein dunkelbraunes Haar war in den letzten Jahren an den Schläfen grau geworden, die Falten um die Augen tiefer.
„Was willst du morgen machen? Ich würde mir doch noch gerne Herkulaneum ansehen."
Schon wieder Ruinen, ihr hatte der heutige Ausflug nach Pompeji völlig gereicht. Natürlich war es interessant gewesen, eine Stadt, die vor fast zweitausend Jahren verschüttet worden war, aber Clemens hatte nicht locker gelassen, bis sie auch die letzte Säule und das letzte nummerierte Mauerstück gesehen hatten. Sieben Stunden lang. Im Hotel hatte sie vor Erschöpfung erst einmal ein Schläfchen halten müssen.
„Also ich würde ehrlich gesagt lieber noch mal nach Neapel, ein bisschen bummeln."
„Bummeln! Manchmal bist du eine richtige Banausin. Hier liegt jahrtausendealte Geschichte vor deiner Nase und du willst bummeln. Wahrscheinlich zu H&M und Benetton, weil es das ja in Deutschland nicht gibt."
„Clemens, echt, ab und zu erinnerst du mich wirklich an deinen Vater." Und wenn sie ehrlich war, nicht nur ab und zu, gerade in letzter Zeit fiel ihr die frappierende Ähnlichkeit wie Schuppen von den Augen. Beim ersten Treffen hatte ihr der Senior, damals noch Rektor eines Gymnasiums, einen zweistündigen Vortrag über die Kolonialisierung Afrikas gehalten, nur weil sie erwähnt hatte, dass sie gerne nach Südafrika reisen würde. Hinterher wollte sie das nicht mehr.
Clemens war Gymnasiallehrer für Deutsch und Sport und sie fühlte sich manchmal wie eine seiner Schülerinnen und wollte heimlich die Augen verdrehen. Obwohl die Schüler hinter seinem Rücken bestimmt Schlimmeres taten, als die Augen zu verdrehen.
„Oder wir fahren nach Positano. Das soll allerdings sehr touristisch sein."
„Sind wir etwa keine Touristen? Manchmal kannst du echt ein richtiger Snob sein. Ich würde gerne nach Positano fahren."
„Okay." Er sah gekränkt aus, beinahe tat er ihr leid. Seit Wochen wälzte er drei verschiedene Reiseführer, um das Optimum für diese Osterreise an die Amalfiküste herauszuholen. Aber manchmal hatte sie einfach keine Lust mehr, sich die achte Kirche oder das dritte Museum für Stadtgeschichte anzusehen. Manchmal würde sie einfach gerne ein paar Stunden am Strand liegen. Und nichts tun.
Der Sepia war zäh und die Kartoffeln trocken, doch sie hielt den Mund, um Clemens, der sich seine öltriefenden Nudeln routiniert auf die Gabel wickelte, nicht zu einer selbstgefälligen Äußerung zu treiben. Oder schlimmer, er würde vor dem Kellner einen Aufstand machen und verlangen, dass sie ihr Essen zurückgehen ließ. Am Nebentisch saß eine italienische Großfamilie, Vater, Mutter, Opa, Oma und zwei Kleinkinder, die lautstark um ein Tablet und ein Smartphone stritten. Es war immerhin schon halb zehn, doch für Südländer schien das eine angemessene Zeit zu sein, um mit ihren Kindern essen zu gehen. Kristiane beneidete sie um diese Lässigkeit. Die Kinder ihrer Freundinnen mussten um Punkt halb acht im Bett liegen, und wenn das nicht klappte, würden sie die ganze Nacht Terror machen und morgens um fünf wach sein. Behaupteten die Freundinnen. Plötzlich gab es einen Tumult am Nebentisch. Eines der Kinder hatte im Eifer des Gefechts ein Glas Wein umgestoßen. Die Mutter sprang auf, doch es war schon zu spät, der Rotwein hatte einen hässlichen Fleck auf ihrem cremefarbenen Kleid hinterlassen. Es sah aus wie eine Schusswunde. Die Erwachsenen diskutierten wild durcheinander, die Kinder hatten beide zu heulen angefangen.
„Mein Gott“, sagte Clemens verächtlich, „ein gediegenes Abendessen ohne Kindergeschrei ist wohl zu viel verlangt in diesem Land.“
„Jetzt sei nicht so spießig. Sei doch froh, dass was geboten ist.“
„Na ja, ich weiß nur, dass meine Kinder um diese Zeit im Bett liegen würden.“
„So so“, sie sah in belustigt an, „du hast aber keine Kinder.“
„Ja, und das ist auch gut so. Wir können Gott jeden Tag dafür danken, dass wir unabhängig und frei sind. Ich würde mich erschießen, hätte ich solche verzogenen Gören, die mit zwei Jahren schon iPads bedienen, als wäre es ein Kinderspielzeug.“
„Ich könnte mir ehrlich gesagt schon vorstellen, welche zu haben.“ Sie hielt für einen Moment den Atem an und sah ihm in die Augen. Sie hatte es ausgesprochen. Der heimliche Kinderwunsch schwirrte seit geraumer Zeit in ihrem Kopf herum. Es war nie ein Thema gewesen, sie schienen sich beide einig zu sein, keine Kinder zu wollen.
„Was? Das ist doch nicht dein Ernst!“, er lachte laut auf.
„Doch Clemens, es ist mein Ernst. Es war mir noch nie so ernst. Ich will ein Kind. So schnell wie möglich, viel Zeit hab ich sowieso nicht mehr.“
„Du willst mich veräppeln. Du hast doch gerade erst die neue Abteilung übernommen. Du arbeitest fünfzig Stunden in der Woche, und jetzt willst du ein Kind? Das ist doch Quatsch.“ Sie sah ihn frustriert an. „Kris?“ Verunsichert fasste er nach ihrer Hand. Sie entzog sich ihm.
„Jetzt mal im Ernst, ich dachte wir wollen beide keine Kinder? Was ist denn plötzlich los mit dir? Midlife-Crisis, oder was?“
„Mensch Clemens, jetzt werd mal erwachsen! Midlife-Crisis oder was“, äffte sie ihn nach, „wann haben wir denn das letzte Mal ernsthaft über dieses Thema geredet? Ja, ich weiß, es war nie der richtige Zeitpunkt für Kinder. Aber jetzt merke ich, wie die Uhr tickt und …“
„Und was? Kris, ich will keine Kinder! Jeden Tag habe ich dreißig von diesen verzogenen Halbstarken in meiner Klasse sitzen! Sie popeln in der Nase und spielen unter dem Tisch mit ihrem Handy, oder mit ihrem Schwanz, die interessiert es einen Furz, wenn ich denen was von Goethe erzähle. Glaubst du, ich will selbst so ein Exemplar großziehen? Das mir dann mit fünfzehn den Stinkefinger zeigt und Komasaufen geht? Nein Kris, das kann nicht dein Ernst sein. Dafür gebe ich nicht alles auf.“
„Was gibst du denn auf?“
„Meine Freiheit, unsere Freiheit! Die Reisen, Städtetrips, Kinoabende…“, er machte eine ausholende Geste, „und denk an die schlaflosen Nächte, die verschissenen Windeln … du wirst auseinandergehen wie ein Hefekloß. Sieh dir Anette an, die hat immer noch einen Arsch wie ein Brauereigaul.“
„Gott Clemens, du solltest dich mal reden hören. Und ganz ehrlich, welche Städte gibt es denn überhaupt noch, die wir noch nicht gesehen haben? Ich fühle mich total leer, ich will so nicht mehr leben. Jeden Tag zehn Stunden arbeiten, nach Hause kommen, Abendessen, Fernsehschauen, einmal pro Woche ins Kino, ein Wochenendtrip nach Prag. Seit fünfzehn Jahren! Ich will einen neuen Sinn in meinem Leben, Verantwortung übernehmen. Ein Kind hält einen jung, ich fühle mich im Moment wie kurz vor der Rente. Und ich muss noch mindestens fünfundzwanzig Jahre so weitermachen! Das halte ich nicht aus.“ Sie konnte sehen, wie sich leichte Panik über sein Gesicht legte.
„Ok Schatz“, sagte er beschwichtigend, „sollen wir noch einen Wein bestellen, oder willst du woanders hin?“
„Keine Ahnung, lass uns zahlen, ich will hier raus.“ Sie schob abrupt den Stuhl zurück und stand auf, die Serviette fiel auf den Boden. Sie hatte keine Lust, sich zu bücken.
„Pagare, per favore!“
„Jetzt komm mal her.“ Er legte den Arm um ihre Schulter und wollte sie wie ein verständnisvoller Vater an sich ziehen. Und sie war das trotzige Kind. Der Himmel war sternenklar und sie fröstelte in ihrer dünnen Übergangsjacke. Genervt schüttelte sie ihn ab.
„Ist schon gut, lass mich einfach kurz in Ruhe.“ Sie marschierte los Richtung Hotel. In den Gassen trieben sich jede Menge Touristen herum, die Läden hatten immer noch geöffnet und die kitschigen Souvenirs waren gut beleuchtet davor ausgestellt. Handbemalte Keramik, bedruckte Schürzen, Seife aus Zitronen und Olivenöl. Sie fragte sich, wer diesen Mist eigentlich kaufte.
„Ich weiß gar nicht, was mit dir los ist, wie kommst du denn plötzlich auf diese Idee?“ Er konnte nicht ahnen, dass „diese Idee“ schon eine Weile in ihr herangereift war. Vielleicht war es zu dem Zeitpunkt gewesen, als ihr Susanne, die einzige noch kinderlose Freundin, freudestrahlend mitgeteilt hatte, dass sie schwanger sei. Kristiane hatte sich plötzlich ausgeschlossen gefühlt, wie damals im Sportunterricht, als sie immer die letzte war, die in die Mannschaft gewählt wurde. Eine übriggebliebene Außenseiterin.
„Weißt du eigentlich, dass ich die einzige in meinem Freundeskreis bin, die noch kein Kind hat?“ Sie standen jetzt vor dem Hotel.
„Na und? Und du bist auch die einzige, die frei über ihr Leben entscheiden kann, die spontane Trips nach … Budapest machen kann, wenn sie Bock darauf hat.“
„Wir reden anscheinend aneinander vorbei. Ich habe dir doch gerade klargemacht, dass ich die Schnauze voll habe von Städtetrips. Und so spontan sind wir weiß Gott nicht, du musst ja alles immer ein halbes Jahr im Voraus planen. Ich will ein Kind, Clemens!“
„Lass uns erst mal rein gehen, es ist ganz schön kalt hier draußen.“ Sie fuhren schweigend in dem winzigen Aufzug hinauf in den dritten Stock ihres Boutiquehotels. Clemens öffnete umständlich die Zimmertür.
„Ich kann ja verstehen, dass dir solche Gedanken kommen, ja, dass du Torschlusspanik bekommst. Aber wir führen doch ein angenehmes Leben, verdienen gutes Geld, können uns was leisten. Wir sind doch glücklich, so wie es ist!“
„Sind wir das?“ Sie ließ sich auf das Doppelbett fallen und streifte ihre Schuhe von den Füßen. „Jetzt sei doch mal ehrlich, wir leben wie ein altes Ehepaar, wie deine Eltern! Programmkino, Theaterabo, Kulturreisen. Das kann ich auch noch mit sechzig machen, dann sind die Kinder aus dem Haus. Unser Sexleben ist doch auch eingeschlafen. Routine. Begehrst du mich überhaupt noch, bist du scharf auf mich? Oder vergnügst du dich mit einer deiner strammen Sportkolleginnen? Ich will nicht in fünf Jahren dastehen und du erzählst mir, dass du eine fünfundzwanzigjährige Referendarin geschwängert hast. Dann ist es für mich zu spät.“
„Kristiane, du spinnst doch. Was soll denn das alles? Du willst wissen, ob ich fremd gehe, ist es das?“
„Und, tust du es? Betrügst du mich?“
„Natürlich nicht!“
„Ach komm, ich nehme dir nicht ab, dass du immer treu warst. Auf deinen Klassenfahrten geht es doch bestimmt mitunter auch heiß her. Ich hatte letztes Jahr auf der Tagung in Kopenhagen einen Onenightstand.“ Er sah sie an, als wäre sie ein Alien mit zwei Köpfen. Unwillkürlich musste sie lachen. „Du solltest dein Gesicht sehen, das hättest du mir wohl nicht zugetraut? Die biedere, kleine Kristiane. Na ja, es war auch nichts Überwältigendes, keine Sorge.“
„Gott, Kristiane, ich erkenne dich überhaupt nicht mehr. Du machst mir Angst. Und du glaubst, dass ich unter den Umständen ein Kind mit dir in die Welt setze?“
„Welche Umstände sollten es denn für dich sein, Clemens?“
„Gar keine. Ich will keine Kinder. Punkt. Ich dachte, wir wären uns einig. Und jetzt bin ich müde. Willst du zuerst ins Bad?“
„Weißt du was?“, sie sprang auf, „du kannst zuerst ins Bad und du kannst morgen nach Herkulaneum fahren und deine Ruinen anschauen. Bis zum Erbrechen. Und danach kannst du dir die drei Kirchen hier in Sorrent reinziehen, die wir noch nicht gesehen haben.“ Sie bückte sich und zog ihre Schuhe wieder an. „Ich geh noch mal los, ich habe keine Lust, hier in diesem Zimmer zu versauern. Gute Nacht, Clemens.“ Sie nahm den Schlüssel und zog die Tür hinter sich zu.
Sie trat auf die immer noch hell erleuchtete Straße, atmete die kühle Nachtluft ein und sie ließ sich mit dem Strom der anderen Nachtschwärmer treiben. Aus einer Bar drang laute Achtzigerjahre-Musik. Für einen Augenblick blieb sie stehen, dann schlenderte sie weiter.