Osten und Westen
Ich bin ein Mädchen aus dem Westen. Ich bin im Westen geboren, bin im Westen aufgewachsen - habe mein Leben lang im Westen gelebt. Als die Mauer fiel war ich noch ein kleines Kind. Über "die von drüben" dachte ich nie sehr viel nach. Meine Meinung war klar: Die sind rückständig und haben nicht so einen hohen Lebensstandard wie wir. Und nicht nur ich dachte so: Mein gesamter Freundeskreis (alles Wessis) sah das so wie ich. Aber eines Tages sollte sich meine Meinung ändern...
Es war an einem warmen Sommertag im Juli. Da meine Familie nicht das Geld hatte, Urlaub im Ausland zu machen, sollten wir zu Bekannten nach Brandenburg fahren. Wir fuhren an einen See in einem kleinen Örtchen namens Halbe. Da der Strand für meine Verhältnisse viel zu überfüllt war, legt ich mich auf einen Steg ein Stückchen weiter weg.
Nach einer Weile kam ein Junge zu dem Steg, drehte sich eine Zigarette und wir kamen ins Gespräch. Was mir zuerst einmal auffiel, war sein Dialekt. Ich hatte noch nie zuvor einen Jungen so krass berlinern hören. Ich fragte ihn, woher er kam. Er kam aus dem Osten. Die Art, wie er redete, die Art wie er sich verhielt und seine Ansichten bestätigten meine Vorurteile über Ossis.
Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass er ganz Ähnliche Vorurteile über Wessis, also damit auch über mich, hatte. Wessis - die sind eingebildet und halten sich für was besseres. Und da ich Hochdeutsch sprach, bestätigte ich ihm den Eindruck eines arroganten Snobs. Und auch seine Eltern sahen mich so - wie ich später erfuhr.
Im Laufe der nächsten Wochen freundeten wir uns an. Zwar bemerkte ich immer wieder Dinge an ihm, die mich stutzig machten, so benutze er zum Beispiel Worte, die ich noch nie zuvor im Leben gehört hatte. Aber trotzdem war er im Grunde genommen ein Mensch wie jeder andere.
Als ich ihn dann später meinen Freunden vorstellen wollte, empfingen sie ihn mit denselben Vorurteilen wie ich es einst tat. Und da sie ihn nur oberflächlich kennen lernten, dachten sie nicht daran ihre Meinung zu ändern. Statt dessen war ich nun diejenige, die zum Außenseiter wurde. "Die hat 'ne Schwäche für Ossis", hieß es plötzlich. Dabei versuchte ich nur, ihnen klar zu machen, dass eine Menge von ihren Vorurteilen nicht stimmten. So war die Familie meines Freundes zum Beispiel keineswegs arm, im Gegenteil: Sie besaßen ein eigenes Grundstück und ihre Wohnung war sehr geschmackvoll eingerichtet.
Und auch obwohl unsere Generation mit der eigentlichen Teilung Deutschland nichts mehr zu tun hatte, so halten sich doch die Vorurteile hartnäckig. Ich denke, dass es noch eine sehr lange Weile dauern wird, bis Deutschland wirklich wieder eins ist. Denn nur wenn wir unsere vorgefertigte Meinung über die jeweils anderen ablegen, kann Deutschland wieder das werden, was es einst war.