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Oskar und Lientje
„Wie macht man das, dass jemand anfängt einen zu lieben?“, fragt Lientje Oskar.
„Nix macht man da“, sagt Oskar.
Lientje beißt in ihr Brot. Stinke-Limburger mit Erdbeermarmelade. Oskar schüttelt es jedes Mal, wenn sie das isst. Lientje sagt, es ist das Beste, was es gibt auf der Welt.
Überhaupt liebt Lientje Essen. Und Jacob. Lientje könnte immer nur essen und Jacob lieben.
„Meinst du, der liebt mich irgendwann auch mal?“
„Weiß man nicht“, sagt Oskar.
„Ich glaub schon“, sagt Lientje.
„Ich glaub auch“, sagt Oskar.
Sie liegen im Gras und gucken in den Himmel.
Oskar fragt sich, ob sich Jungs wie Jacob fragen, was andere von ihnen denken. Und ob die von sich selbst auch manchmal denken, dass sie nicht gut genug sind.
Wahrscheinlich nicht. Weil sie ja gut genug sind. Selbst wenn denen ein Bein abfallen würde, wären sie immer noch besser als Oskar.
An Oskar stimmt nix. Oskar hat sogar Füße wie ne alte Frau. Mit solchen Knubbeln am Ballen. Hallux vagus. Wird erst mal mit der Schiene korrigiert. Oskar hätte gerne Scheiß-Akne, wie alle anderen auch.
Lientje findet sich genau richtig.
Oskar und Lientje kennen sich seit der fünften Klasse. Sie haben sich nebeneinandergesetzt, weil neben den anderen schon wer anders gesessen hat.
Lientjes Eltern sind einfach nicht mehr aus dem Urlaub zurückgekommen.
Lientjes Opa ist fast verrückt geworden vor Sorgen, das Mädchen nicht vernünftig groß zu bekommen. Der Junge war schon elf, aber Lientje doch erst drei. Eine Puppe hatten sie ihr aus Rom mitgebracht. „Giulia“ hatte auf dem Karton gestanden, den sie im zerquetschten Auto gefunden hatten.
Das Jugendamt war oft da am Anfang. Aber alle fanden, dass Lientjes Opa das prima macht. Auch mit dem Mädchen. Und dass er sich gar nicht so verrückt vor Sorgen machen muss. Und wenn das Mädchen den Stinkekäse so nicht mag, hilft es vielleicht, wenn man ein bisschen Marmelade dran macht. So essen kleine Mädchen Stinkekäse manchmal lieber.
Manchmal hatten Lientjes Opa und der Bruder Fritz und Lientje dagesessen und zusammen überlegt, wie man kleine Mädchen vernünftig groß bekommt. Sie haben sich manchmal tagelang den Kopf zerbrochen. Sie haben geübt, wie man am besten mit kleinen Mädchen spricht. Und dann haben sie es gelassen und beschlossen, dass es reichen muss, wenn sie Lientje einfach liebhaben.
Außer einmal, als Lientje anfing, oft und laut zu singen, weil sie die Idee bekam, später einmal die Sängerin mit dem traurigsten Liebeslied der Welt zu werden. Da hatten der Opa und der Bruder ihr sagen müssen, dass das mit dem einfach nur Liebhaben schwierig werden könnte, wenn das traurigste Liebeslied der Welt immer so laut und so schräg gesungen werden muss.
Sie hören zusammen Musik von Kingfish. Oskar hat ihn gefunden. Kingfish singt, dass er Eine verzaubern wird, weil sie ihm gehört. Und dass er nicht lügt. Und dass er sie liebt sowieso. Es klingt traurig, weil es Blues ist.
Und dann singt Kingfish noch, dass die Leute sagen, dass er eine alte Seele hat. Und er noch nicht mal einundzwanzig ist. Und dass er noch zu jung ist, sich in dieses Loch zu legen, findet Kingfish. Und dass er nur versucht hochzufliegen und nicht zu sterben. Bevor er alt ist.
„Wenn du eine Sache im Leben bestimmen dürftest und alle müssten das machen. Was wär das?“ fragt Lientje.
„Keine Ahnung“, sagt Oskar.
„Denk halt nach.“
Oskar denkt nicht gerne nach. Es wird so schnell kompliziert in Oskars Kopf beim Denken.
Es fängt meistens klein an und dann ist es plötzlich so ein Riesending, aus dem man nur noch schwer herauskommt. Wie die Sache mit dem S. Er hat angefangen nachzudenken, ob es sein kann, dass er lispelt. Er hat eine Reportage über einen gesehen, bei dem das so war. Dann hat er sich verschiedene Sätze ausgedacht, bei denen er vielleicht lispeln würde. Dann hat er welche gesagt. Und plötzlich hat er´s gehört. Das S klingt scheiße. Und seitdem versucht er mit möglichst wenig S`s auszukommen.
Lientje sagt, sie hört nix.
Lientje kann sich gar nicht entscheiden, was sie bestimmen würde. Am besten findet sie eigentlich die Idee, dass ihr jeder einen Cent geben müsste. Damit würde niemandem groß was fehlen, aber sie hätte `nen richtig großen Batzen auf der hohen Kante.
Oskar ist sich nicht sicher, ob es okay wäre, das ganze Geld für sich zu behalten. Oder ob man es nicht spenden muss. Zumindest einen Teil davon.
„Okay. Dann teile ich es mit Jacob. Sobald der angefangen hat, mich zu lieben.“
„Okay“, sagt Oskar. „Das geht wahrscheinlich.“
Lientje schreibt später mal ein Buch. Entweder die traurigste Liebesgeschichte, die die Welt je gelesen hat. Oder die schlimmste Horrorgeschichte, die sich ein Mensch auch nur vorstellen kann. Wahrscheinlich schreibt sie beide.
„Was wäre die traurigste Liebesgeschichte für dich?“, fragt Lientje Oscar.
Oscar überlegt lange. Lientje wartet, bis er fertig überlegt hat.
„Wenn zwei es nicht merken. Das mit der Liebe. Und dann jeder ganz woanders hingeht. Der eine nach Basel und die andere nach Sri Lanka. Und keiner von denen weiß es. Das wär traurig.“
„Meinst du so was passiert?“
„Keine Ahnung“, sagt Oskar.
„Ich glaub nicht. Wenn das richtig Liebe ist, dann muss man das merken.“
„Und was ist der größte Horror, den du dir vorstellen kannst?“, fragt Lientje.
Oskar muss nicht überlegen.
„Dass die Einzelumkleide im Schwimmbad besetzt ist und ich mich mit den anderen umziehen muss. Oder dass ich beim Küssen rülpsen muss. Oder dass ich hinten im Bus sitzen muss, weil vorne nix mehr frei ist und ich dem vor mir auf die Schulter kotze.“
Lientje lacht und legt den Arm um Oskar: „Das ist wirklich Horror, wie ihn die Welt noch nicht gehört hat.“
Wenn das mit den Büchern nix wird, geht Lientje ins Bauhaus. In die Abteilung mit den Farben. Lientje ist ganz verrückt nach den Farbtonkarten mit den unterschiedlichen Farbtönen. Wie der Farbton am Anfang erst ganz zart durchschimmert und am Ende der Karte in all seiner Kräftigkeit knallt. Lientje mag alle Farben. Und die Namen der Farben im Bauhaus. Erde des Südens. Tanz der Sehnsucht. Ausklang des Sommers. Dächer von Paris. Wolken in rose. Sanfter Morgentau. Flügel in Smaragd. Nebel im November.
Lientje wird mal Farbpoetin im Bauhaus, wenn das mit den beiden anderen Büchern nix wird.
Oskar mag am liebsten grün.
Oskar wird wahrscheinlich mal Koch werden. Eigentlich wollte er eine Late-Night-Show haben. So `ne richtig geile in den USA. Wo die ganze Nation abends vor dem Fernseher sitzt und wartet, was er heute sagt.
Und die Leute würden sich gar nicht mehr beruhigen, wie witzig und intelligent und cool er ist. Und über Youtube würden sich das dann auch seine alten Klassenkameraden in Deutschland angucken. Und würden einfach mal die Fresse halten.
Aber das wird wahrscheinlich nix. In Englisch hat er meistens nur ´ne Zwei Minus.
Deshalb Koch. Das ist auch gut. Und wenn es mal so sein sollte, dass er und Lientje sich lieben, dann könnte er für sie kochen und Lientje würde sich freuen, wenn es richtig gut schmeckt.
Lientje sagt Oskar, dass sie glaubt, dass er mal der beste Koch überhaupt wird, bei dem man samstagsabends nur einen Tisch bekommt, wenn man sehr berühmt ist. Oskar freut sich sehr darüber und sagt, dass er Lientje samstags immer einen Notplatz bei den Toiletten freihalten kann, falls das mit dem Berühmtwerden bei Lientje nix wird.
Lientje in dünn ist keine gute Idee, glaubt Lientje jetzt.
Sie hat es mal probiert und ist dann ganz traurig geworden, weil sie den ganzen Tag an Sachen denken musste, die ab jetzt verboten sind.
Und der Opa und der Bruder Fritz waren auch ganz traurig, weil sie angefangen haben zu glauben, dass sie Lientje doch nicht vernünftig großbekommen.
Der Opa hat dann gemeint, dass es eigentlich eine Schande wäre, wenn ein Mädchen mit solch beneidenswerten Appetit wie Lientje, sich anfängt den zu vermiesen, weil ein Junge wie Jacob, vielleicht lieber Mädchen ganz ohne Appetit mag. Lientje weiß aber gar nicht, ob Jacob lieber Mädchen mit oder ohne Appetit mag, weil sie ihn das noch nicht fragen konnte.
Oskar mag Lientjes Appetit, weil sie sich so freut, wenn`s schmeckt. Und weil er`s beachtlich findet, wenn sie sich ganz viel auf einmal in den Mund stopft, wenn es ihr außerordentlich gut schmeckt. Damit sie außergewöhnlich viel schmecken kann.
Lientje hat manchmal Angst zu sterben. Eigentlich sogar oft. Da wird Lientje plötzlich ganz still. Es fällt ihr dann ein, dass man irgendwann plötzlich nicht mehr da ist.
„Wie soll man das denn aushalten, dass man das weiß?“, fragt sie Oskar dann.
Oskar denkt darüber nach, wie man das aushalten kann und Lientje wartet ab, bis Oskar was rausgefunden hat.
„Ich weiß aber nicht, ob das stimmt, was ich denke übers Sterben“, sagt Oskar.
„Macht nix“, sagt Lientje.
„Also ich glaub, wenn man gestorben ist, dann ist man immer noch wer. Aber keiner mehr, der seine Füße verstecken muss, oder der anderen aus Versehen über die Schulter kotzt. Aber man kann auch nicht mehr die besten Nudeln der Welt erfinden. Gut und blöd gleichzeitig. Für mich aber eher gut.“
Oskar weiß manchmal auch nicht, was er vom Leben halten soll. Erst ist man 300.000 Jahre nicht da, dann dreiundneunzig Jahre da und dann wahrscheinlich wieder 300.000 Jahre nicht da. Und in den dreiundneunzig Jahren soll man dann alles erledigen, wofür man vorher und hinterher kein bisschen Zeit hat.
Und es ist nicht gerade wenig, was man alles erledigen soll, findet Oskar, sagt Lientje aber nix davon.
Sie sitzen mit dem Rücken aneinander. Über schwierige Themen kann man am besten sprechen, wenn man woanders hingucken kann. Ganz weit weg am besten.
Lientje hat mal ein bisschen mit Paul rumprobiert. Weil sie mal was wissen wollte, von der Sache. Erst war sie froh, dass sie jetzt mal was weiß von der Sache. Dann war sie traurig, dass sie jetzt was weiß von der Sache. Und dann war sie sicher, dass sie nur traurig ist, weil es nur die Neugier und nicht die Liebe war.
Lientje hat es Oskar erzählt. Rücken an Rücken.
Oskar ist froh, dass er es nicht aus Neugier probieren will. Obwohl es dann nicht ganz so schlimm wäre mit dem Rülpsen.
Kingfish singt, dass er Eine verzaubern wird, weil sie ihm gehört. Und dass er nicht lügt. Und dass er sie liebt sowieso.