Mitglied
- Beitritt
- 22.08.2018
- Beiträge
- 6
O'Seares' letzte Botschaft
Sir Montgomery O'Seares war das Epitom des Philanthropen.
Als letztes von vielen Kindern eines anglikanischen Priesters wurde O'Seares in die finalen Züge des neunzehnten Jahrhunderts hineingeboren, verarztete als Jugendlicher in den Gräben des ersten Weltkriegs die englischen Soldaten, und musste trotz Granatsplittern im Bein und mindestens einer Kugel in seiner Lunge von seinen Kameraden vom Schlachtfeld gezerrt werden (so wurde es zumindest in der kurz nach seinem dahinscheiden erschienenen Biografie beschrieben, er selbst sprach Zeit seines Lebens nie über seine Kriegserlebnisse).
Kaum erholt verdingte er sich als Kriegsreporter, berichtete über die Ruhrbesetzung und den Krieg in Anatolien. Seine Fotografien sind noch immer in jedem Werk zu diesen Konflikten zu finden; ein Vermächtnis, für das er sich weigerte je auch nur einen Penny entgegenzunehmen.
Auch 1939 war er an der französischen Front zu finden, leistete bei der Evakuierung aus Dunkerque seinen Beitrag, und seine Spuren sollen es gewesen sein, die die Deutschen als letzte im von ihnen umzingelten Strand vorfanden. In Nordafrika war er Teil der Offensive gegen Rommel gewesen und soll dort weitere Heldentaten vollbracht haben – dass er sich während seiner gesamten militärischen Karriere geweigert haben soll, auch nur einen Schuss abzufeuern, löst bei den meisten ernsthaften Historikern zwar Stirnrunzeln aus, setzt seinem Mythos aber wohl die Krone auf.
Mit allen Ehren und einem Ritterschlag wurde O'Seares aus dem Militär entlassen, kaufte sich einen Bescheidenen Landsitz in seiner Heimat, heiratete, und hatte nie Kinder. Das mag daher rühren, dass er bis ins hohe Alter als angesehener Diplomat, Reporter und Aktivist an jedem Ort abgesehen von seinem Zuhause anzufinden war. Dort hin zog es ihn erst wieder, als ihm im Alter von achtundsiebzig ein unheilbarer Darmkrebs diagnostiziert wurde, und er von seinem Umfeld quasi in seine eigenen vier Wände verbannt wurde, wo er seine letzten Jahre doch in aller Ruhe genießen sollte.
Ich möchte hier nicht noch weiter über das Leben O'Seares’ ausschweifen, gerade wenn mehrere um einiges ausführlicher und besser recherchierte Zusammenfassungen seines Lebens auf dem Markt kursieren, die die Neugier jedes interessierten Hobbyhistorikers zu genüge befriedigen sollten.
Stattdessen will ich über seinen Tod berichten – und über die Ereignisse, die dieser in Gang setzte.
Als O'Seares nur wenige Monate nach seiner unfreiwilligen Rückkehr in die Heimat die Pläne für seine letzte große Tat publik machte, hatte ich gerade erst meinen ersten Job im Journalismus angetreten. Als Lokalreporter des Willow Creek Daily konnte ich kaum hoffen, ein interview mit der Sagengestalt Montgomery O'Seares zu ergattern, als dieser verkünden ließ, er wolle auch seine letzte Reise noch dem Wohle der Gesellschaft verschreiben: O'Seares, der als gläubiger Christ selbst nie Zweifel an einem Leben nach dem Tod hatte, wolle dazu die angesehensten Wissenschaftler unserer Zeit zu Rate ziehen, und mit den modernsten Wissenschaftlichen Methoden den unwiderlegbaren Beweis für die Existenz eines Jenseits generieren.
Ich erinnere mich gut an den Tag, an dem der in die Jahre gekommene Abenteurer dies verkünden ließ, denn die Redaktion unseres verschlafenen Lokalblattes glich an diesem Morgen mehr einem überfüllten Hühnerstall; nie zuvor, und auch seit diesem Tag nie wieder, hatte dort eine solche Aufregung geherrscht. Ich erinnere mich ebenso gut an die fünfstündige Autofahrt zu O'Seares Anwesen, wo ich mich zusammen mit drei anderen Mitarbeitern der Zeitung in das unter der Sommersonne dampfende Meer aus Reportern stürzte, das die Tore des bescheidenen, aber stattlichen englischen Landhauses seit den dunklen Morgenstunden belagerte. Ich erhaschte nicht mehr als einen kurzen Blick auf O'Seares, der sich nur ein einziges Mal hinter den Vorhängen im ersten Stock hervortrat, um einen einen missbilligenden Blick auf das grenzenlose Getümmel vor seinem Haus zu werfen.
Er war kleiner als ich erwartet hatte; sein dichtes, weiße Haar stand in starkem Kontrast zu der wettergegerbten, von tiefen Furchen durchzogenen Haut, und obwohl er sich auf einen Stock stützte, strahlte seine Haltung solche Stärke und Kontrolle aus, dass die erdrückende Menschenmenge um mich zum ersten und einzigen Mal an diesem Tag zu verstummen schien.
Die verwackelte, unscharfe Gestalt, die auf der von mir an diesem Tag geschossenen Fotografie zu sehen war, konnte nichts von der einnehmenden Präsenz des Mannes einfangen – dennoch wurde ich damit beauftragt, einen Artikel über seinen Werdegang zu verfassen, der als Begleitartikel zu der Titelseitenstory über “O'Seares letzte Heldentat” erscheinen sollte. Um mich von den Lobeshymnen auf seine Lebensgeschichte, die in den folgenden Tagen wie erwartet in allen relevanten Zeitungen zu lesen waren, abzugrenzen, versuchte ich stattdessen, aus einer objektiveren Perspektive den Mensch hinter dem Mythos zu beschreiben – sehr zum Missfallen meiner Vorgesetzten und der allgemeinen Öffentlichkeit. In der Abteilung für Todesanzeigen, in die ich von da an bis zu meiner Kündigung kurze Zeit später verbannt wurde, hatte ich genug Zeit meinen journalistischen Ambitionismus zu bereuen.
Scheinbar hatte O'Seares aus seiner letzten Ankündigung gelernt, und wollte die Arbeiten an seinem Projekt nicht durch den Medienrummel beeinträchtigen lassen, denn eineinhalb Jahre sollte ich – und auch sonst niemand – nichts mehr von seinem Vorhaben mitbekommen. Und dennoch fand ich mich an einem von Nieselschauern durchzogenen Herbstmorgen des darauffolgenden Jahres wieder vor demselben gusseisernen Tor ein, durch dessen Stäbe ich damals das verwackelte Porträt dieses sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogenen Pioniers geschossen hatte. Ein Dienstbote eilte herbei, erkannte mich und öffnete mir.
“Sie werden bereits erwartet”, wies mich der Bote auf meine Verspätung hin, während er mich im Laufschritt zum Eingang des Hauses führte. Ich nickte abwesend, kramte in meiner Tasche nach meinem Aufnahmegerät, nur um es wieder in ihr verschwinden zu lassen. Ich war nervös, fühlte mich unvorbereitet.
Als ich zwei Wochen zuvor ein Brief mit O'Seares’ Adresse in der Absenderzeile aus meinem Briefkasten gefischt hatte, war ich ähnlich nervös gewesen. Tagelang starrte mich der Umschlag aus dickem, pergamentartigem Papier von meinem Küchentisch aus an, während ich eine Kanne Tee nach der anderen leerte. Seitdem ich meine Stelle im Willow Creek Daily verlassen hatte, war meine Karriere als freischaffender Journalist nicht von vielen Erfolgen gekrönt gewesen, und ich wusste, dass was sich auch immer auf diesem Stück Papier stand, sie entweder retten oder endgültig begraben würde.
“Mr. Webber, nehme ich an?”
Aus der geöffneten Haustür schritt eine Frau in Schwarz auf die Veranda. Sie war groß und schlank, hatte ihre Arme vor dem Bauch übereinandergelegt und wirkte trotz ihrer grau melierten, halblangen Haare ähnlich wie O'Seares geradezu erhaben über die Auswirkungen des Alterns.
“Mrs. O'Seares?” Ich blieb am Fuße der Treppe zum Haus stehen und schloss den Verschluss meiner Tasche wieder.
“Ebenjene. Ich hatte schon befürchtet, sie kämen nicht mehr, nachdem sie mich auf eine Antwort auf meinen Brief so lange haben warten lassen.”
Ich blickte zu ihr hinauf, unsicher, ob es sich dabei um echten Tadel handelte, doch als ein müdes Lächeln über das Gesicht der Frau huschte entspannte ich mich ein wenig.
“Kommen sie herein, Mr. Webber. Trinken sie Tee?”
Das Haus war beinahe genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Nicht prunkvoll, und auch nicht besonders heimelig, aber eindrucksvoll in der Menge an Erinnerungsstücken an ein Leben von für Normalsterbliche unfassbaren Dimensionen. Fotografien und Schaukästen voller Medaillen und Verdienstorden zierten die Wände, ein Sortiment aus Möbeln und Teppichen aus allen Kulturen der Erde bildeten die Einrichtung und in einer Glasvitrine meinte ich sogar einen von Schrapnell zerfledderten Stiefel zu sehen. Diese Zurschaustellung von Memorabilia befremdete mich, da ich O'Seares immer für einen Mann gehalten hatte, der nicht viel auf das präsentieren seiner Erfolge gab, aber da er ohnehin fast nie jemanden in seine Privatgemächer einlud mochte dies vielleicht für keine Augen außer seine eigenen gedacht sein.
Mrs. O'Seares führte mich einen breiten Gang hinunter und in ein kleines Arbeitszimmer, wo bereits ein Tisch und zwei Stühle bereit standen. Hier sollte wohl das Interview stattfinden, zu dem ich hierher eingeladen worden war. Der an mich adressierte Brief hatte zwischen allen Höflichkeiten und Bitten zur Verschwiegenheit auch nicht viel mehr enthalten als dies: eine einfache Einladung, zu einem Interview mit Mrs. Helen O'Seares. Weitere Informationen würden vor Ort folgen.
Nachdem wir uns gesetzt hatten, wies Mrs. O'Seares den Dienstboten, der uns in einigem Abstand gefolgt war, an, Tee aufzusetzen. Dann wandte sie sich wieder an mich.
“Ich hoffe sie hatten eine angenehme Fahrt?”
“Ja, also, ich meine mit all dem Regen waren die Straßen hierher etwas unsicher, aber insgesamt…” Ihrem ausdruckslosen Lächeln entnahm ich, dass die Qualität meiner Anreise sie nicht wirklich beschäftigte. “Mrs. Sears, ohne ruppig wirken zu wollen, aber weshalb genau haben sie mich überhaupt eingeladen? Und werde ich ihren Gatten treffen?”
“Bitte, Mr. Webber. Nach dem Tee.”
Eine Belegtheit hatte sich in ihre Stimme geschlichen, und erst jetzt, da ich sie aus der Nähe sehen konnte, wurde mir bewusst, dass die Jahre keineswegs Spurlos an ihr vorübergezogen waren. Unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab, und im gedämpften Licht des Arbeitszimmers wirkte sie unnatürlich blass und… müde.
“Gewiss, entschuldigen sie meine Forschheit”, antwortete ich, und ließ das Gespräch fürs erste wieder auf das Wetter und ähnlich harmlose Themen abdriften.
“Mein Mann trank nie Tee.” Mrs. O'Seares blickte nachdenklich auf den Teesatz in ihrer Tasse. “Dazu fehlte ihm die Geduld.” Als sie aufblickte und meine greunzelte Stirn sah, richtete sie sich in ihrem Stuhl auf und wies ein Dienstmädchen, dass neben der Tür gewartet hatte an, das Geschirr abzuräumen und die Tür hinter sich zu schließen.
“Ich denke, Mr. Webber, es wird Zeit, dass sie den Grund ihrer Anwesenheit erfahren.”
Ich richtete mich ebenfalls auf, von der Hoffnung auf Antworten aus dem lähmenden Stupor des Geplänkels gerissen.
“Wollen sie sich das nicht notieren?”
“Ah, ja. Ich habe ein Aufnahmegerät dabei.” Ich kramte in meiner Tasche nach dem neumodischen Kassettenrekorder, den ich extra für diesen Anlass gekauft hatte. Mrs. O'Seares betrachtete die Apparatur mit mäßigem Interesse, und als ich mich davon vergewissert hatte, dass die Kassette unser Gespräch aufnahm, bedeutete ich ihr mit ihrer Erzählung zu beginnen.
“Mein Mann, Montgomery O’Seares, erlag vor vier Wochen, am neunzehnten Oktober, seiner schweren Erkrankung.”
Als Mrs. O’Seares diese Wort sprach stieß ich beinahe den Rekorder vom Tisch, an dem ich noch immer herumwerkelte. Ich hatte bereits etwas ähnliches erwartet, hatte die Zeichen erkannt, aber es tatsächlich aus ihrem Mund zu hören – vielleicht sogar der erste Außenstehende zu sein, der davon erfuhr – ließ meine Hände zittern. Unfähig, eine Antwort auf diese Offenbarung zu finden, nickte ich nur mitleidsbekundend, doch Mrs. O’Seares Blick war auf das Fenster neben ihr gerichtet.
“Wie ihnen sicherlich bekannt ist, hatte er vor seinem Tod allerlei Vorkehrungen treffen lassen, für ein… Experiment, welches er tatsächlich bereits lange vor seiner Diagnose ersonnen hatte. Obwohl er die strengläubbigkeit seines Vaters nicht geerbt hatte, war er immer überzeugt davon gewesen, dass der Tod nicht das Ende aller Dinge ist. Mag sein, dass er deswegen nie davor zurückschrak sich für die Dinge, an die er glaubte, in Lebensgefahr zu stürzen… Nun, für ihn stand jedenfalls nie in Frage, ob es ein Jenseits gäbe oder nicht – das Problem sah er darin, dessen Existenz zu beweisen. Die Kommunikation mit dem Diesseits aufzunehmen. Während seinen Reisen nahm er wo er nur konnte Kontakt mit Geistlichen aller Kulturen auf, machte die Bekanntschaft von Wissenschaftlern aller Schulen; er sammelte Mythen und Legenden, Philosophien und Thesen und beschäftigte sich mit allerlei mehr oder weniger wissenschaftlichen Methoden, von denen er glaubte, sie könnten ihm beim erreichen seines großen Ziels behilflich sein. Er investierte so viel seiner Lebenszeit damit, uns nach dem Tod noch immer von seinen Erlebnissen berichten zu können… ironisch, nicht?”
Ein gewissen bitterkeit war in ihrer Stimme zu hören. Sie machte eine kurze Pause, ließ den Blick über den Wolkenhimmel draußen wandern. Ich schluckte schwer.
“Als ich ihn heiratete, war mir klar, dass ich ihn nie für mich haben würde; dass er der Welt mehr gehört als sich selbst, aber dennoch… Nun, ich drifte ab. Montgomery Sammelte Methoden, und Menschen. Über all die Jahre stellte er ein Team zusammen, das unter seiner Führung – so glaubte er – unseren Blick über die Schwelle des Todes hinaus erweitern konnten. Dass es sein eigener Tod sein würde, der dies ermöglichen sollte… ich möchte nicht glauben, dass er das geplant hatte, aber wie ich bereits erwähnte: Montgomery war immer sehr aufopferungsbereit.
Als der Krebs schließlich diagnostiziert wurde, fand er es an de Zeit, sein Vorhaben in gang zu bringen. Er ließ alle Kontakte spielen die er über die Jahre aufgebaut hatte, holte alle Gefallen ein, die ihm versprochen wurden – und begann, seine Methode zu entwickeln. Eigentlich, müssen sie wissen, ist es vor allem dieses eine Gerät. Er konnte das im voraus nicht sicher wissen, weshalb er dutzende verschiedene Herangehensweisen vorbereitete; aber tief im inneren hatte er, das spürte ich, immer am meisten Hoffnung in dieses Gerät gesetzt.
Sie müssen wissen, Montgomery war davon überzeugt, dass die Seele – an deren Existenz er selbstverständlich glaubte – eine ebenso physische Form hat wie alles andere zwischen Himmel und Erde. Mein Gott, die Theologischen Diskussionen die er darüber mit seinem Vater geführt hatte… Er jedenfalls meinte, diese These ließe sich einwandfrei mit anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte in Einklang bringen. Er glaubte zudem, dass ein Aufnahmegerät mit der Richtigen Frequenz, dass nicht nach Schallwellen sondern elektromagnetischen Schwingungen spürt, die Interaktionen einer solchen körperlosen Präsenz mit unserer Welt aufzeichnen könne. Dass ihm dies im Feldversuch nie gelang, schrieb er lediglich dem unwillen dieser Seelen, mit uns zu interagieren, zu. Und ein ebensolches Gerät ließ er entwickeln.”
Sie legte eine weitere Pause ein. Ihre Stimme klang nun etwas heiser, aber in ihrem Gesicht war keine Trauer zu sehen. Aus ihren wasserblauen Augen, die nun zum ersten Mal direkt in meine blickten, sprach nicht das Leid einer Witwe. Helen O’Seares Augen waren weit vor Furcht.
“Mr. Webber, ich möchte, dass sie sich diese Aufnahmen anhören.”
Ich schluckte schwer.
Eine Apparatur wurde in das Arbeitszimmer geschoben. Sie maß in Länge und Höhe wohl etwa zwei Meter, und auf den ersten Blick sah sie einem Mischpult, wie sie neuerdings für Audioaufnahmen eingesetzt wurden, nicht unähnlich; auf dem zweiten erkannte ich sogar parallelen zu meinem eigenen Aufnahmegerät – beim genauen hinsehen verlor sie jedoch jegliche Ähnlichkeit mit allem, dem ich vertraut war. Der Zweck von unzähligen in ihr verbauten Messgeräten, Anzeigen, Hebeln und Spulen entzog sich völlig meinem Verständnis.
Als sie die Maschine erblickte, schien auch der letzte Tropfen Farbe schien aus Mrs. Seares Gesicht zu weichen. Sie gab einem der Angestellten, die die Gerätschaft hereingebracht hatten ein Zeichen, und kurze Zeit später kam er mit einem Feuer und einer Zigarettenschatulle wieder. Mit zittrigen Händen nahm sie eine der Zigaretten heraus, ließ sie sich anzünden und inhalierte den dicken, weißen Qualm tief. Ihr blick war noch immer auf das Gerät gebannt, welches nun, da es von einem weiteren ungesehen Dienstboten angestellt worden war, leise zu Summen begann.
“Wissen sie, mein Mann hat gelitten. Sehr sogar. Deswegen wollte er sich nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, vor der Welt Schwäche zu zeigen – und nachdem er endlichen willens war die Schmerzmittel, die ihm von allen von ihm konsultierten Ärzten aufgedrängt wurden, einzunehmen war er irgendwie… nicht mehr er selbst. Besiegt fühle er sich. Als er schließlich – ich möchte ‘endlich’ sagen, aber das wäre unangemessen – als er schließlich starb, wollte ich die Maschine zuerst gar nicht anschalten. Ich wollte sie rauswerfen, zusammen mit all seinen Wissenschaftlern und Scharlatanen, aber Montgomery hatte einen solch starken Willen, selbst nachdem er gegangen war, dass ich nie wirklich in betracht zog.”
Sie nahm einen weiteren Zug, zögerte kurz und schritt dann, als hätte sie eine innere Barriere überwunden, auf die monströse Apparatur zu.
“Legen sie bitte das erste Band ein, Damian.”
Der junge Mann, der eben noch die Zigaretten hereingebracht hatte, zog jetzt eine merkwürdig Aussehende Kassette aus einer Schublade. Sie war groß, sicher dreißig Zentimeter lang, und aus glänzendem Metall. Er verschwand wieder hinter der Maschine. Einige seltsame Geräusche ertönten aus dem Herzen des monolithischen Geräts, und das Surren wich einem monotonen Dröhnen. Mrs. Seares machte einen letzten Schritt auf den Armaturenbewehrten Kasten zu und drehte langsam an einem untertellergroßen Regler. Rauschen durchflutete den holzbetäfelten Raum, ließ mich in meinem Stuhl zusammenzucken und meine Ohren pfeifen. Mrs. Seares paffte geistesabwesend ihre Zigarette.
“Das war alles, was sie für die ersten zwei Tage aufnahmen. Ich hatte die Hoffnung, es würde alles bleiben”, erklärte sie leise, nachdem sie den Regler wieder zurückgedreht hatte.
Meine Ohren pfiffen noch immer, und so äußerte ich meine Frage vielleicht lauter als beabsichtigt.
“Was soll… soll das heißen, sie haben etwas aufgenommen? Sie haben etwas empfangen, eine… eine Nachricht aus dem… Jenseits?!” Ich fuhr mir durch die Haare, begeistert, schockiert, ungläubig, doch Mrs. Seares schüttelte den Kopf.
“Nein. Keine Nachricht aus dem Jenseits. Und bitte… hören sie einfach nur zu.”
Ein weiteres Band wurde eingelegt, und ich konnte auf ihm die Aufschrift ‘Tag 3’ erkennen, bevor es in der Maschine verschwand. Das Rauschen erklang, wie beim ersten Mal, und ich war kurz davor mir die Ohren zuzuhalten als ich durch das Getöse eine dünne… Stimme zu hören meinte. Ich konnte keine Worte ausmachen, nicht einmal wirkliche Töne, aber etwas war dort, inmitten dieses Unwetters aus totem Hintergundgeräusch. Etwas lebendiges. Ich konnte nicht anders als laut zu lachen, erfüllt von Entdeckergeist, begeistert von der menschlichen Findigkeit. Ich sah zu Mrs. Seares hinüber, um ihr meine Glückwünsche über diese Wissenschaftliche Meisterleistung mitzuteilen, doch jegliche Euphorie wurde aus dem Raum gesaugt, als ich ihre Gestalt erblickte.
Totenblass, die Hände vor dem Gesicht geknüllt und zitternd wie Espenlaub hatte sie sich halb auf den Boden gekauert. Damian, der Dienstbote mit den Kassetten eilte zu ihr und sprach mit sanfter Stimme einige Worte, doch noch bevor er fertig gesprochen hatte schnitt ihre Stimme, kalt und bestimmt, durch die vom Gerät verursachte Geräuschkulisse.
“Nein. NEIN, sage ich. Er muss es hören, jemand muss es hören. Leg das nächste Band ein. Das nächste Band!”
Damian verharrte einen Moment unsicher, halb über sie gebeugt, dann richtete er sich wieder auf, und seine dunkelgrünen Augen durchbohrten mich mit einem vorwurfsvollen Blick.
Auf der nächsten Kassette war das Rauschen zunächst leiser als zuvor, und die Stimme dafür lauter. Ein leiser Singsang, der in Höhe und Lautstärke variierte. Noch immer konnte ich keine Wörter ausmachen, und ich erkannte keinen wirklichen Sprachrhythmus, doch es war nun kein Zweifel mehr daran, dass es sich um eine menschliche Stimme handelte.
Ich wagte es nicht, mich nach Mrs. O’Seares umzublicken. Mit jedem Schluchzer, der zwischen den vor den Mund geschlagenen Fingern hervor drang verhärtete sich ein unwohlsein in meinen Eingeweiden – ihre Qual war nicht die eines Liebenden, der die Stimme eines verstorbenen wieder hörte. Zusammen mit dem Rauschen der Maschine hatte Grauen den Raum erfüllt, sich langsam in meinen Verstand geschlichen, lähmte mir die Glieder und fesselte mich in meinen Stuhl.
“Mrs. O’Seares, ich… ich verstehe nicht. Bitte, Mrs. O’Seares, lassen sie uns das abstellen und reden. Bitte.”
Sie zog die Hände von ihrem Gesicht. Ihre blauen Augen schienen nun weiß wie Eis, die Höhlen in denen sie saßen schwarz und tief wie Kohleschächte.
“Nein, sie… sie müssen es hören.” Ihr blickt wanderte fahrig durch den Raum. “Lauter, Damian. LAUTER.”
Der Junge atmete schwer, wagte es nicht die Hausherrin anzublicken und drehte mit angespannten Kaumuskeln weiter an dem großen Regler. Ich kniff die Augen zusammen und widerstand dem Drang, mir die Hände auf die Ohren zu drücken als ein Welle aus blendend weißem Rauschen mich vollends überwältigte, mir die Sinne raubte. Und inmitten dieses explodierenden Sturms von Geräuschen erklang nun vollkommen klar die Stimme Montgomery O’Seares’. Doch Montgomery O’Seares, der furchtlose Abenteurer, der Philantrop, der Held, sprach nicht. Er schrie nicht mal. Er wimmerte.
“Bittebittebitteneinbittebittelassmichrausneinbittebitte…”
Obwohl viel leiser als das Rauschen um sie herum hallte dieses endlose, klägliche Jammern in meinem inneren wieder lauter wieder als jeder Schrei. Mir wurde schlecht. Ich versuchte mich aus dem Stuhl zu reißen, fiel auf die Knie, übermannt vom Dröhnen der Maschine und vom Grauen der letzten Botschaft Montgomerys.
“OhgottbitteneinohgottichkannichtmehrbittebitteneinohgottOHGOTT…”
Blind und am Boden kriechend zog ich mich zum Gerät, bekam eines ihrer schweren Kabel zwischen die Finger und zog an ihm, mit allen verbliebenen Kräften, bis mit einem Donnern die Welt um mich herum vollkommen verstummte.
Ich sah Mrs. O’Sears an diesem Tag nicht mehr. Nachdem die Maschine verstummt war, hatte sie sich zurückgezogen, von Damian gestützt den Raum verlassen, und mir wurde angewiesen ich solle im Salon warten. Immerhin wurde mir Montgomerys Hausbar zur verfügung gestellt – in meinem Leben hatte ich einen Drink nie so nötig gehabt wie zu diesem Moment.
Als ich das Landhaus an diesem Abend verließ, ohne noch einmal mit Ihr gesprochen zu haben, schien draußen die Abendsonne müde durch die aufbrechenden Wolken. Sie tauchte die regennasse Landschaft in warmes rot, und obwohl ich mich an jedem anderen Tag von diesen idyllischen Anblick getröstet gefühlt hätte, erschien sie mir wie der ultimative Hohn einer Welt, die mir nun ihr hässliches, wahres Gesicht gezeigt hatte.
Die finale, und nötige unterredung mit Mrs. O’Seares fand einige Tage später statt, in einem langen und recht einseitigen Telefonat – ich fragte viel, und sie gab mir ebenso wenige Antworten.
“Aber was… was hat das nun zu bedeuten? Wieso… war er so?” Ich bereute meine flapsige Formulierung, doch für alles andere war ich zu müde. Es half nichts mehr, die Fassade von professionalität aufrecht zu halten im Angesicht der vergangenen Ereignisse.
“Ich kann es nicht sagen, Mr. Webber. Alles, was ich weiß ist, dass auf den Aufnahmen nie etwas anderes zu hören war.” Mrs. O’Seares’ klang wieder ebenso sicher und unbeeindruckt wie das erste Mal, als ich sie sah, und dennoch konnte ich die neuen Falten, die ihr unser Interview beschert hatte, nahezu durch das Telefon hören.
“Die sterblichen überreste meines Mannes wurden für eine Woche in unserem Haus aufbewahrt, unter der Obhut seiner Wissenschaftler. Erst, als sie zur Beerdigung abtransportiert wurde, zeichnete die Maschine wieder nichts als Rauschen auf.”
“Er… er war noch dort drin, nicht? Ich habe darüber nachgedacht, was ich auf den Bändern gehört habe… Er war noch immer dort, in seinem Körper, nicht?” Meine Hand zitterte ebenso sehr wie meine Stimme, als ich diese Frage, auf die ich keine Antwort erwartete, in den Hörer flüsterte. Mrs. O’Seares enttäuschte mich nicht, und schwieg.
“Eine letzte Frage habe ich noch, wenn sie gestatten.”
Immer noch Schweigen am anderen Ende.
“Wieso Ich?”
Mit einem müden Seufzen erwachte die Leitung wieder zum Leben.
“Ich habe ihren Artikel gelesen, damals. Über meinen Mann, als er sein Vorhaben verkündete. Sie hatten sich als einziger nicht von seinem Ruf, seiner verklärten Lebensgeschichte mitreißen lassen. Ich hatte gehofft – hoffe noch immer – dass sie eine ebenso besonnen über seine Tod berichten können. Und alles andere.”
Ich nickte, wohl wissend, dass sie das nicht sehen konnte; die Bestätigung war einzig mir selbst zugedacht.
Wie Sie sicher wissen sind nun schon sechs Jahre seit diesen Vorkommnissen vergangen. Nachdem Mrs. O’Seares für eine außerordentlich höfliche Dauer auf die Veröffentlichung unseres Interviews gewartet hatte, ließ sie die Kunde über das dahinscheiden ihres Mannes schließlich auf anderem Wege an die Öffentlichkeit gelangen. Sein Experiment war ein ergebnisloser Fehlschlag gewesen, und Niemand erfuhr je etwas gegenteiliges von ihr oder den an Montgomery O’Seares’ Projekt beteiligten Wissenschaftlern. Ich selbst war endlich von der Last befreit, mich entscheiden zu müssen, ob ich das Grauen der Geschehnisse dieses trüben Herbsttages auf die Welt loslassen sollte, und schaffte es schließlich sogar, einzusehen, dass es für alles geschehene eine andere, rationale Erklärung geben musste, die mit meinem vorherigen Weltbild übereinstimmte und mich wieder eine ganze Nacht durchschlafen ließ.
Vor einigen Tagen gelangte die Nachricht über Helen O’Seares’ Verschieden an mich, und mit ihm eine überraschende Einladung zu ihrer Beisetzung. Mir war nicht bewusst gewesen, dass je Jemand außer Mrs. O’Seares selbst von unserem einmaligen Treffen gewusst hatte, und ich konnte mir nicht erklären, weshalb ihre Angehörigen es für nötig gehalten hätten die Anwesenheit eines gescheiterten Journalisten auf ihrer Beerdigung zu garantieren. Es war mir noch immer unklar, als ich im Salon des Landhauses der O’Seares, wie schon damals, mit einem halbvollen Glas Scotch am Fenster zwischen den schweren Brokatvorhängen lehnte und meinen Blick über die Beerdigungsgesellschaft schweifen ließ; als ich ein mir bekanntes Gesicht in der Menge erkannte, das mit angespannten Kiefermuskeln auf das in seinen Händen balancierte Silbertablett mit Schnapsgläsern stierte. Und es wurde mir schlagartig klar, als mich die tiefgrünen Augen anblickten, in denen ich das gleiche entsetzen wieder erkannte, welches mir schon damals an diesem Ort begegnete.
Ich verstand, als Damians Blick von mir zur Tür wanderte, hinter dem sich das Arbeitszimmer verbarg. Das Zimmer, in dem noch immer die Maschine stehen musste. Die Maschine, die er vor wenigen Tagen zum ersten Mal seit Jahren wieder angestellt hatte, weil er, ebenso wie ich und wie Mrs. O’Sears Gewissheit haben musste. Gewissheit, die ihm zuteil wurde, als er durch das tosende Rauschen die letzten verzweifelten Schluchzer seiner Herrin vernommen hatte.