- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Originalversionen
„…bereits nach den ersten Absätzen hatte ich das Interesse verloren. Der Protagonist ist langweilig und deine Schreibweise macht die Geschichte auch nicht spannender: die Sätze sind zu lang und statt einen dramatischen Einstieg zu bieten, konzentrierst du dich auf die Beschreibung des Abendhimmels. Den kompletten Text zu lesen empfand ich als anstrengend… Viele Grüße, Thors_Hammer“.
Selbstzufrieden grinsend klickte Markus auf die „Absenden“-Taste und nahm einen großen Schluck aus der Bierflasche. „Genuss aus dem Freistaat Bayern“ stand auf dem Etikett – und in der Tat gab es nichts Köstlicheres, um den Abend nach getaner Arbeit ausklingen zu lassen. Im Fernsehen lief nebenbei „Game of Thrones“ und jemandem wurde gerade die Hand abgeschlagen.
„Immer diese jungen Möchtegern-Autoren… Aber das hat er oder sie nun davon! Wieder einer, der sich offensichtlich seiner ersten Idee hingab und nur unfertiges Zeug eingeklopft hat!“
Profildaten ansehen, um mehr über den Menschen herauszufinden? Die meisten Steckbriefe bestanden ohnehin nur aus unverständlichen Statements und seltsamen Offenbarungen. Nein - außerdem war es auch nicht seine Art: denn alles was zählte, war das Werk an sich. Denn Markus war schon ein alter Hase in diesem Geschäft und erkannte auf den ersten Blick alle Schwachstellen der eingestellten Texte im Forum für Hobby-Autoren. Seine Kritiken waren unter Mitgliedern gefürchtet und er genoss wiederum den Respekt seiner literarischen Mitstreiter.
„Schau, schau… Wahrscheinlich noch so einer!“, dachte sich Markus, als er zum wiederholten Male auf die „F5“-Taste drückte und nun endlich ein neuer Text auf der Seite erschien. Dann noch ein Text. Noch einer. Und schließlich wurde das Autoren-Forum von einer Unmenge an Beiträgen eines einzelnen Nutzers überflutet.
„Das ist eindeutig gegen die Regeln! Was denkt er sich eigentlich!? Er kann hier doch nicht sein ganzes Lebenswerk auf einmal veröffentlichen! Andere Leute wollen auch, dass ihre Texte gelesen werden! Dem werden ich was erzählen!“, tobte Markus, als er sich innerlich auf seinen größten verbalen Angriff seit seiner Registrierung auf dieser Seite vorbereitete. Noch ein Schluck Hopfensaft und dann würde es losgehen! Doch kaum hatte er die Bierflasche erneut angesetzt, verschluckte Markus sich daran und verteilte mit lautem Husten die Überreste des Getränks über den Monitor.
„Vanessa.Westermayer“ lautete der Name der Unruhestifterin.
Nein, das konnte nicht sein! Es konnte sich nur um einen dummen Zufall handeln!
Die Realität fing unaufhaltsam und erbarmungslos an, die von Markus über die Jahre hinweg so mühsam aufgebaute Distanz zu der anonymen und von ihm dominierten Welt zu verschlingen. Erinnerungen kamen bei dem Namen „Vanessa Westermayer“ auf und sein Herz fing an, wie wild zu pochen. Seine Adern schwollen an, das Gesicht brannte, die Hände zitterten. Die anfängliche Angriffslust wich der Unsicherheit.
„Genug für heute…“, sagte Markus zu sich, schaltete den Fernseher aus, klappte den Laptop zu und ging hinaus auf den Balkon. Draußen war nichts – nur der Regen, der auf das Geländer niederprasselte. Die Straßen waren menschenleer und das schwache Licht der Laternen leuchtete den nassen Asphalt aus und ließ ihn in hellen Flecken aus der Dunkelheit heraus auffunkeln. So verliehen die Lichter auch dem grauen Himmel über der Stadt einen violetten Schimmer. Diese Leere der Straßen und der Regen passten irgendwie auch zu seiner Stimmung. Denn er fühlte auch eine melancholische Leere in sich, als er auf dem Balkon stand und sich eine Zigarette anzündete. Der Frühsommerregen störte Markus nicht – in diesem Augenblick fand er die Tropfen sogar angenehm und erfrischend.
Um sich zu beruhigen, musste er vor dem Schlaf noch einen Blick in das neueste Meisterwerk seiner Lieblingsautorin werfen. Mary Sweeter war die Perfektion des Schreibens! Das, was sie vollbrachte, durfte einfach nicht kritisiert werden: ihre Charaktere, mit denen man sich nahezu immer identifizieren konnte, ihre Kulissen, welche sich im Geiste wie Urlaubseindrücke ausbreiteten und auch ihre Geschichten, die nie langweilig wurden! Und schlussendlich auch ihr Schreibstil, der all diese Komponenten perfekt zu Meisterwerken vereinte. Ja: so musste Literatur sein! Auch das Buch duftete nach frisch gedruckter Vollkommenheit des Erfolges.
„Es gibt einfach unglaubliche Ausnahmetalente auf dieser Welt… Sehr schön. Aber das, was ich schreibe, lässt sich nicht mit ihren Werken vergleichen. Wie Äpfel und Birnen eben… Außerdem will sie damit ja Geld verdienen!“, versuchte Markus eine Rechtfertigung für Marys offensichtliche Überlegenheit zu finden.
Unruhig schlief er ein und träumte von dem Fluch längst vergangener Tage, den er schon fast vergessen hatte: Vanessa.
Weitere Tage vergingen, doch immer noch traute sich Markus nicht, Vanessas Beiträge zu kommentieren. Indirekt hatte er jedoch mitgekriegt, dass die schiere Menge der Texte einen Shitstorm im Forum ausgelöst hatten.
Schlussendlich wollte er Gewissheit haben, ob es wirklich diese besagte Person war und fing an, die Geschichten zu lesen. Sie waren furchtbar geschrieben. Allesamt schienen sie die Erlebnisse und Wünsche einer jungen Frau wiederzugeben. Sie jagte in einer kitschigen, kleinen Welt der Sehnsucht der Liebe und einem schwächlichen, langweiligen Typen ihrer Träume nach. Doch es war nicht die Tatsache wie sie schrieb, die Markus so aufwühlte: es war der Inhalt der Geschichten selbst. Es waren seine Geschichten. Es war seine Vergangenheit!
Im Russischen gibt es einen Begriff, um den Zustand der Dauertrunkenheit zu beschreiben: „запой“ („Zapoy“). Zu Sowjetzeit war diese Lage sogar ein anerkannter und gesellschaftlich akzeptierter Grund dafür, der Arbeit und sonstigen sozialen Verpflichtungen fernzubleiben. Eine Art „Auszeit“, die man nur mit sich selbst verbringt – und Unmengen von Alkohol.
„Ein äußerst angenehmer Zustand…“, dachte sich Markus, als er sich am nächsten Tag, gleich nach dem Aufstehen ein Bier aufmachte und sich an diese Erzählungen seines russischstämmigen Kollegen erinnerte.
Weitere Flaschen folgten noch am selben Vormittag. Und dann verschwand Markus für einige Wochen von der Bildfläche.
…
„Wir müssen los, Mrs. Westermayer. Der Fahrer wartet bereits seit einer halben Stunde auf Sie.“, sagte die blonde Assistentin mit Hornbrille leicht entnervt.
Für sie sahen die alle gleich aus, jedoch musste es schon die dritte Neue in diesem Jahr gewesen sein – und es war noch nicht einmal zur Hälfte rum. Aber Vanessa konnte es ihnen nicht verübeln. Sie alle hatten sich auf die Stelle einer persönlichen Assistentin beworben und mussten ihre Arbeit zum größten Teil in der Krankenpflege ableisten…
„Hoffentlich ist es der Richtige… Bitte, lieber Gott – lass ihn meine Worte erreichen… Es darf noch nicht zu spät sein.“, flüsterte Vanessa, als sie die letzte Geschichte einstellte.
Sie drückte die Zigarette aus und machte die Internetseite für Hobby-Autoren zu. Das halb volle Rotweinglas ließ sie stehen. Die Fahrt ins Krankenhaus durch das nächtliche London empfand sie wie einen Gefangenentransport. Schon wieder werden sie ihren Körper untersuchen und auf sie einreden. Und schon wieder wird sie sich rechtfertigen müssen. Rechtfertigen, dass sie so lebte, wie sie es immer wollte – seit dem Augenblick, als sie Markus kennenlernte.
„Fahren Sie bitte etwas schneller, sonst sind wir vor morgen nicht da!“, schnauzte Vanessa den Fahrer an.
Nicht aus Boshaftigkeit – sie wollte diese Fahrt nur schnellstmöglich hinter sich bringen und doch war sie froh, einen Augenblick lang in Erinnerungen schwelgen zu können. Der Motor heulte auf und die Luxuslimousine machte einen Sprung nach vorne. Schneller in Richtung der unabwendbaren Zukunft. Doch egal, wie schnell sie fuhren - Vanessa sollte für immer eine Gefangene ihrer Vergangenheit bleiben.
Wie alle in diesem Alter, suchte sie - damals mit sechzehn - auch nach ihrem Platz in der Gesellschaft. Die Tage der unbeschwerten Kindheit waren nun vorbei und die ganze Welt stand ihr offen. Die Flasche Rotwein und die vorbeiziehenden Nebelschwaden verschlangen die Gegenwart und Vanessa fand sich wieder dort: vor sechzehn Jahren, auf einer Privatparty.
„Das ist Markus, mein bester Freund! Und von Vanessa habe ich dir ja schon oft erzählt!“, zwinkerte ihr damaliger Freund Dennis seinem Kumpel zu.
„Lass‘ uns auf unser Treffen anstoßen! Und wehe, ihr könnt‘ euch nicht vertragen!“, sagte Dennis und umarmte sie beide gleichzeitig im Alkoholrausch.
Markus war ein durchschnittlich aussehender, achtzehnjähriger junger Mann. Doch als Vanessa und er das erste Mal miteinander sprachen und sich ihre Blicke kreuzten, erkannte sie in seinen Augen eine bisher unbekannte Tiefe. Sie spürte es sofort: er war anders als die Anderen. Der Rest der Welt um sie herum versuchte, beliebt und angesagt zu sein. Aber er schien sich dafür nicht zu interessieren: er war gedankenverloren und doch allgegenwärtig geistig präsent. Witzig und tiefgründig analysierte er innerhalb von Sekundenbruchteilen jede Situation und jede Äußerung. Die ganze Welt schien Markus zu Füßen zu liegen. Bald sollte Vanessa auch dazugehören.
„Wonach suchst du im Leben?“, fragte er sie einige Wochen später, als er ihre Seele durchschaut hatte. An jenem Abend, an dem sich ihre Zukunft ändern sollte.
„Freiheit. Ich möchte frei sein. Für immer – bis zu meinem Tod.“, erwiderte Vanessa zögerlich.
Mit ihm konnte sie solche Gespräche führen. Zu Markus konnte sie ehrlich sein. Und sie wurde nicht enttäuscht: denn - wie immer – hatte er eine Lösung parat.
„Wenn ich frei sein will, schreibe ich Geschichten. Das solltest du auch machen. Schreiben kann jeder und es muss anfangs nichts Komplexes sein. Notiere, was dir in den Sinn kommt, denke dir fantastische Welten aus oder bringe Gedanken, die dich quälen aufs Papier… Mit der Zeit wirst du aber unweigerlich automatisch besser.“
Damals verliebte sie sich in ihn, denn er hatte ihr die Freiheit geschenkt. An diesem Abend hatten sie gesündigt – sie hatten ihre Freundschaft gegen Leidenschaft getauscht und sollten dafür für immer büßen. Doch sie konnte nicht mit ihm zusammen sein und Dennis konnte sie auch nicht verlassen. Dazu war sie zu feige…
Jahre vergingen und Vanessa ging nach England – es ließ sich damals nicht vermeiden. Kurz vor ihrer Abreise hatte sie Dennis ihre Liebe zu Markus gestanden.
Daraufhin hatte der eifersüchtige Dennis seinen besten Freund krankenhausreif verprügelt und ihm die Freundschaft gekündigt. Und wieder war sie zu feige gewesen, um Markus einen Krankenbesuch abzustatten oder sich auch nur einfach von ihm zu verabschieden…
„Verrecke und fahr‘ zur Hölle!“, waren die letzten Worte, die Dennis zu ihr sagte, als er sich umdrehte und für immer aus ihrem Leben verschwand.
„Lieber so, als gar nichts zu sagen…“, dachte sie sich im Nachhinein.
So verließ Vanessa Deutschland und schwor sich selbst, Markus eines Tages als eine andere – eine viel stärkere Person - gegenüberzustehen. Er würde ihr bestimmt verzeihen. Bei ihrer nächsten Begegnung würde er stolz auf sie sein!
Monate vergingen und Jahreszeiten zogen, wie in einem Karussell an Vanessa vorbei - und doch hatte sie nie wieder Kontakt zu den Freunden aus ihrer Heimat. Seit dem Tag ihrer Abreise waren nun weitere sechzehn Jahre vergangen – die andere Hälfte ihres Lebens. Und viel mehr Zeit blieb ihr nicht mehr. Mit Leukämie war eben nicht zu spaßen…
…
Hunderte Anfragen und Nachrichten stapelten sich im Posteingang, als sich „Thors_Hammer“ wieder im Forum anmeldete.
„Bist du noch da? Machst du Urlaub oder ist dir etwas passiert?“
Scheinheilige Floskeln von Menschen, die er nicht einmal persönlich kannte.
Die Auszeit hatte Markus gut getan. Die Unsicherheit war verschwunden und er war wütend. Wütend auf Vanessa, die nach fast eineinhalb Jahrzehnten sich auf diese Art erdreistete, wieder in sein Leben zu treten. Wütend auf sich selbst, weil es doch noch Gefühle in ihm ausgelöst hatte. Gefühle, die er längst verdrängt zu haben glaubte.
Wie im Rausch hämmerte Markus auf die Tasten ein und hinterließ bei Vanessas Geschichten eine niederschmetternde Kritik nach der anderen. So wie früher an der Tafel nach einer Schularbeit: „mangelhaft!“, „ungenügend!“ – jeder sollte es mitkriegen.
Es war seine Welt und sie hatte kein Recht darauf, dort zu sein. Diese Welt hatte sie damals verlassen, ohne sich zu verabschieden. Und nun durfte diese Verräterin sie nie wieder betreten! Wären der tippte, kullerten Tränen seine Wangen hinunter.
Denn es war sie, die vor sechzehn Jahren in dieser magischen Nacht, auf einer Parkbank leise in sein Ohr flüsterte: „Ab jetzt wirst du mich immer in deinem Herzen tragen und dich immer an mich erinnern…“, als er jeden Zentimeter ihres heißen und vor Lust bebenden Körpers berühren durfte. Wohl wissend, dass er damit alle hinterging: die Welt, seinen besten Freund Dennis und auch sich selbst.
„Schreib mir eine Geschichte mit diesen Worten!“, sagte sie danach lachend und überreichte Markus einen kleinen Zettel, auf dem die Begriffe „Bungee-Jumping“, „schnorcheln“ und „gelb“ standen.
Ja, damals hatte sie ihn verzaubert gehabt. Nur wegen ihr wollte er weitermachen: er wollte um jeden Preis besser werden! Doch über die Jahre wandelte sich dieser Zauber in einen bösen Fluch und erst jetzt begriff Markus, dass er bisher – tief in seinem Herzen - nur für Vanessa gelebt hatte, in der Hoffnung, sie eines Tages wieder zutreffen.
…
Erst Wochen später erreichte die Antwort der Autorin das Forum. Die bisher abgegebenen Kommentare ließ sie unbeachtet.
„…ich möchte mich aufrichtig entschuldigen, doch leider bliebt mir keine andere Möglichkeit die Person zu kontaktieren, nach der ich schon so lange suche. Lieber Markus, diese Geschichten sind nur für Dich bestimmt. Wenn Du Dich noch an meinen Namen erinnerst und sie liest, wirst Du ganz bestimmt an diese vergangenen Tage zurückdenken... Mein größter Traum war es, Dich wiederzufinden. Freunde vom Verlag gaben mir den Tipp, es hier zu versuchen – angeblich gibt es auf dieser Seite einen „Markus“, auf den Deine Beschreibung passt. Das ist meine letzte Hoffnung, Dich zu finden. Ich wäre gerne persönlich gekommen und hätte mit Dir gesprochen… Doch mein Zustand lässt es nicht zu. Ich hoffe, dass Du mir alles, was vorgefallen ist, doch noch verzeihen konntest und nun glücklich bist. Ich habe immer an Dich gedacht: denn Du hast mir den Schlüssel zu meiner Freiheit in diesem Leben geschenkt, obwohl du – wie ich Dich kenne – bisher wahrscheinlich immer auf der Suche nach der Perfektion warst. Hoffentlich hast Du sie gefunden und schreibst noch – ich fand Deine Geschichten immer toll. Meine Texte hier - in diesem Forum – sind Originalversionen meiner Gedanken und Gefühle, welche ich nach meiner Abreise niedergeschrieben hatte. Sie sind nicht perfekt, jedoch allesamt Dir gewidmet. Bitte nehme sie an – als einen Teil von mir, der Dich für immer begleiten wird. Es ist schade, dass wir uns nicht mehr begegnet sind. Denke bitte nichts Böses von mir. Deine Vanessa.“
Statt „Game of Thrones“ liefen im Fernsehen nun die Nachrichten. Eines der Hauptthemen war der Tod der beliebten englischen Autorin Mary Sweeter – bürgerlich: Vanessa Westermayer.
„Thors_Hammer“ starrte geistesabwesend auf den Monitor. Am Bildschirmrand klebte ein vergilbter Zettel mit Worten „Bungee-Jumping“, „schnorcheln“ und „gelb“. Neben der Tastatur lag Mary Sweeters letztes Buch.