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Orientierungslos
Neue Version (17.10.2010):
System-Neustart im Gange.
Input online. Audioinput erkannt, erscheint auf allen Bildschirmen.
»Verstehst du mich?«, frage ich die Maschine.
Stimmenerkennung: Dr. Frank Robert Turco. Zugriff gewährt.
Lade Systemdaten. Fehler: Datenkorruption. Erinnerungslogs unvollständig.
»Ignoriere das«, befehle ich. »Du brauchst keine Erinnerungslogs. Nur Primärfunktionen. Gib mir eine Positionspeilung.«
Positionspeilung im Gange… Warte auf Peilungssignal… Kein Signal erhalten.
»Bemüh dich nicht.« Ich sinke zerknirscht in den Rechten der beiden Pilotensitze. Ich sehe mich um, meine Augen schmerzen. Das kompakte Cockpit bietet ringsherum den gleichen Anblick; ich sitze verloren inmitten der Sterne. Alles besteht aus Smartwalls - ich bin von einem einzigen holographischen Sternenpanorama umgeben, das nur von einigen Metallträgern unterbrochen wird. Doch sie erwecken keine Ehrfurcht. Vor den Sternen schweben die Anzeigen des NeuroNets im Raum, beide Ebenen Lügen ein und desselben fehlerhaften Systems.
»Überprüfe unsere Kursdaten.«
Aus dem Nichts erscheint vor mir ein leuchtendes Punktmuster, in der Mitte ein Pfeil mit dem Namen unseres Schiffes.
Die Riley Bharat PX-2 ‚Hekate‘ bewegt sich mit konstanter Geschwindigkeit von 0,01c in unbekannte Richtung.
»Das tun wir nun schon seit dem letzten Überlichtsprung vor beinahe einer Woche. Wohin fliegen wir?«
Keine Daten verfügbar.
»Gib mir die Position der Erde.«
Nicht möglich, unzureichende Daten.
»Wir sind verschollen, verstehst du das?«
Erwarte Befehle.
Ich hoffe und bange mit meinen nächsten Worten: »Trianguliere unsere Position aus der Stellaren Datenbank«, befehle ich.
Autorisierung des Kommandanten erforderlich. Blanker Hohn.
»Ich bin der zweite Kommandant«, entgegne ich.
Wo ist der erste Kommandant?
»Sag du es mir.«
Logs unvollständig. Befehl nicht ausführbar.
Wie zuvor. Meine Mühen vergebens. Ich habe das komplette System zurückgesetzt, ohne den Fehler zu beheben. Vergeudete Zeit, Zeit die wir nicht haben, die uns näher an den Tod bringt. Wir hatten nur einen bescheidenen Testflug geplant, eine Sache von Stunden, keinesfalls Tage. Es war kein nennenswerten Proviant an Bord, außer einem Dutzend scheußlicher Energieriegeln, zwei Wasserkanistern; am zweiten Tag hatten wir sie aufgebraucht. Meine Nerven… am Ende; Wut, Enttäuschung darüber, dem Problem nicht Herr zu werden.
Ich erhebe mich und verlasse das Cockpit… wundere mich, wo du bist, Ben, während ich die Leiter zum Mitteldeck hinabsteige. Das Schiff ist winzig, drei Decks, ungeeignet für ein Versteckspiel. Korridor? Niemand zu sehen. Luftschleuse? Es gibt nur noch einen Sanitärbereich und die Crewkabinen, womit eine bessere Abstellkammer mit Zweier-Stockbett gemeint ist. Da entdecke ich dich. Du sprichst nicht besonders laut, aber nachdrücklich. Nicht mit mir, mit einem Mem. Ich öffne die Tür ein Stück. Wie überall im Schiff fungieren sie im Notfall auch als Druckschleuse, sind entsprechend dick und unmöglich leise zu öffnen. Doch du bemerkst nichts. Ich beobachte wie du mit einer Person sprichst, die nur du siehst, die nur durch die künstlichen Spiegelneuronen in deinem Gehirn existiert.
»Ich hätte mich viel früher entschuldigen müssen«, meinst du sichtlich gerührt. »Ich war ein Dickkopf.« Eine Pause. »Ja, das hast du von mir. Es tut mir leid«. Deine Stimme bebt dabei.
Wir haben uns nie ausgiebig über Privates unterhalten. Du hast Frau und zwei Kinder, das weiß ich. Dass auch du deine Probleme hast, nicht.
Dann bemerkst du mich, siehst mich an. Du scheinst verändert.
»Darf ich fragen, mit wem du gesprochen hast?«, erkundige ich mich.
»Mit meiner Tochter. Falls wir das ganze hier nicht überleben.« Du lässt deinen Kopf sinken.
»Falls wir das nicht überleben, wird sie es auch nie erfahren.« Die Worte eines Pessimisten.
Du schweigst einen Moment. »Egal«, folgt knapp. »Sie weiß es.«
»Weil ihr Mem das sagt? Und wie alt ist ihre Theory of Mind?« Zu viel technisches Wissen macht vorsichtig. »Keine Simulation ist perfekt. Die Lücken füllen sich mit Wunschdenken«, fahre ich fort. Dir alles versprechen, was du hören willst und dann nutzloses Zeug verkaufen, darin sind Mems gut, aber das ist nicht, wofür man sie erfunden hat.
»Ich wollte sie einfach ein letztes Mal sprechen.« Du machst eine kurze Pause, dann fragst du mich ganz ernst: »Gibt es niemanden, bei dem du dich verabschieden willst?«
Ich denke über eine Antwort nach… »Nicht, wenn ich es vermeiden kann.« Genug davon, konzentrier dich auf das Problem: »Es funktioniert nicht wie geplant. Das NeuroNet erwartet deine Autorisierung«, gestehe ich. Klar Denken fällt mir schwer. Ich bin müde, nach Stunden der Arbeit an den Computersystemen im Unterdeck.
»Ich war nicht damit einverstanden, das System zurückzusetzen«, konterst du.
»Ich weiß«, äußere ich resigniert
Wir begeben uns wieder in das Cockpit, die Höhle des elektronischen Löwen. Du schnappst dir ein Paper, setzt dich und tippst eilig Befehle ein. Ich stelle mich hinter dich, beobachtend, doch in Wahrheit unaufmerksam. Erschöpft. Am Ende meines Lateins und meiner Kräfte.
»Ich bekomme auch keinen Zugriff«, erklärst du mir. »Das NeuroNet erkennt mich nicht.«
Ich nahm im zweiten Sitz Platz und wandte mich an die Maschine, versuchte einen Befehl, den es verstehen sollte: »Definiere Ben!«
Dr. Kazam Ben El-Sahir ist der Missionsleiter. Geboren 12.08.2124 in Südafrika, FTL-Ingenieur, Leiter der Forschungs-Abteilung der Riley-Corporation und des Hekate-Projekts.
»Wie ist sein Status?«, hake ich nach.
Die Antwort kommt unerwartet: Nicht an Bord. Weiterer Status: Unbekannt.
»Das NeuroNet will uns nicht einmal mehr erkennen«, rege ich mich auf.
Du versuchst es auf deine Weise: »Nenne das Missionsprofil«
Das Ziel des Hekate-Projekts ist die Konstruktion eines neuartigen, lernfähigen Navigations-NeuroNets, das aus einer Datenbank mit Daten von 1784 Überlichtsprüngen eigenständig optimale Algorithmen zur Sprungberechnung ableiten soll.
Praktische Ergebnisse blieben hinter den Erwartungen aus den Simulationen zurück.
Dies ist der dritte Erprobungsflug: Kommandanten sind Dr. Kazam Ben El-Sahir, Chef-Ingenieur und Dr. Frank Robert Turco, Chef-Programmierer. Der Testflug begann am 28.03.2171 von der Neptun Orbital-Station 3 aus. Sprungziel: Das Tau-Ceti Sternensystem.
»Wären wir auch nur halbwegs in der Nähe des Tau-Ceti-Systems«, ich muss Luft holen, »dann müssten wir Signale von mehreren Navigationsbojen auffangen.«
Die Bojen bewegen sich. Sie alle entfernen sich auf vorgegebenen Bahnen von der Erde und erschließen so mit der Zeit weitere Sternensysteme für Überlichtsprünge. Erst das Netzwerk der Navigationsbojen bildet den »bekannten Raum«.
Ich werde aggressiv: »Deine Berechnungen haben uns ins Nirgendwo katapultiert.« Warum gebe ich einem Computer die Schuld und nicht mir?
Die Selbstdiagnose zeigt keine Fehler. Ich operiere innerhalb gültiger Parameter.
Du bleibst gelassen, erkundigst dich einfach nur: »Welche Parameter?«
Ursprüngliche Wahrscheinlichkeit, dass die Crew zu Schaden kommt: 27%.
Ich kann nicht fassen, was ich lese.
»Ich brauche die Logs«, erklärst du mir kühl.
»Wozu?«, frage ich mich.
»Das NeuroNet hat uns eben einen seiner internen Parameter verraten. Den kann ich durch das Programm verfolgen.«
»Du willst wissen, wann uns die Maschine zum Tode verurteilt hat?«, kommentierte ich deinen Plan sarkastisch.
Du schaust mich entschlossen an: »Da haben wir alle unseren Beitrag zu geleistet, findest du nicht?« Touché.
»Das konnte ich doch wirklich nicht ahnen!«, protestiere ich.
»Nein, das will ich auch gar nicht behaupten.«
Ich habe nicht herausfinden können, weshalb das System schlechtere Ergebnisse erzielte als in den Simulationen. Bald wäre das Fingerzeigen losgegangen. Ja, warum nicht einfach nur dem NeuroNet vormachen, es wäre eine Simulationen und schauen was passiert?
Warum nicht? Weil unsere Schöpfung den Unterschied zu gut verstanden hatte. In einer Simulation kannte sie keine Rücksicht auf menschliche Verluste. Das Problem, der hemmende Faktor, war die Besatzung.
»Sag mir einfach, wie ich an die Logs komme.«
»Die Daten sind in einem seperaten Backup. Ich halte es für besser, das NeuroNet hat keinen Zugriff mehr.«
»Frank, bitte. Ich möchte den kompletten Ablauf rekonstruieren.«
Ich gebe dir nach, gehe aufs Unterdeck um die Daten freizugeben. Als ich wieder ins Cockpit zurückkehre, knistert die Luft wie von einer elektrischen Ladung. Ein Hologramm läuft im Raum, ich sehe Ben und mich, festgezurrt in den Pilotensitzen.
Du stehst daneben und beobachtest die Projektionen.
»Warum schaust du dir die Logs an?«, frage ich mich.
»Das NeuroNet lässt sie laufen, ich kann nichts dagegen machen.«
Ich sehe genauer hin, doch ich kann mich kaum in meinem Ebenbild wiedererkennen: Mein Hologramm ist 29 Jahre jung, charismatisch, entschlossen, erfolgshungrig. Ich bin völlig ausgezehrt, fühle mich fremd, als wäre alles schon verloren.
Dich erkenne ich wieder. Du bist der Ältere, im Hologramm wie hier, ernst und nachdenklich. Ein Vorbild, dessen Vertrauen ich verloren habe.
»Freigabe erteilt«, teilte uns die Leitstelle per Funk mit.
»Starte den Countdown«, befahl Ben.
Vorbereiten zum Sprung erschien auf dem Display, darunter eine Zeitanzeige, die von 20:000 Sekunden an herunter zu zählen begann. Das gemusterte Schwarz der Sternenprojektion verschwand und stattdessen erschienen blanke Wände im Kommandobereich. Weitere Systeme wurden zur Sicherheit heruntergefahren.
»Viel Erfolg. Wir drücken die Daumen«, verkündete ein Techniker der Orbital-Station, bevor die Meldung Kommunikationssysteme deaktiviert erschien.
16:798s: Überlichtsprünge gehörten für Ben und mich zur Gewohnheiten. Ein Respekt davor blieb. Und dieses Mal hatten wir unsere eigenen Finger im Spiel.
11:334
Ich konzentrierte mich.
9:293
Auch nach hundert Sprüngen versuchte ich noch immer, den genauen Moment zu fassen, an dem der Übergang stattfand.
Vergeblich.
Sprung abgeschlossen, blinkte in übergroßen Buchstaben auf dem Schirm auf. Es geschah einfach. Manche behaupteten, der menschliche Geist könne gar nicht verarbeiten, wie sich die Raumzeit krümme. Das Gehirn würde den Übergang zum eigenen Schutz vergessen, sonst würde man verrückt werden. Natürlich lag es am quantenmechanischen Kollaps der Wellenfunktionen - aber das hörte sich weniger poetisch an.
Mein Kopf fühlt sich dumpf an, gequält.
»Warum zeigst du uns das?«, will ich vom NeuroNet wissen.
Relevante Daten. Interaktion der Crew untereinander unterschätzt. Korrigierte Wahrscheinlichkeit, dass ein Crewmitglied zu Tode kommt: 56%.
Das Atmen fällt mir schwerer. Ich nehme ein Paper und werfe einen Blick in die Statistiken. Routine. Nein, ich weiß gar nicht, wonach ich suchen soll. Etwas Auffälliges - ich weiß es, wenn ich es finde. Ich sehe in die Umweltkontrollen. Da. Die Daten verblüffen mich, ein Indiz auf eine düstere Ahnung.
Ich zwinge mich zu einem gefassten Ton an das NeuroNet: »Liegt ein Fehler im Luftrecycling vor?«
Mit dem System ist alles in Ordnung. Es besteht kein Grund zur Beunruhigung.
Ich drehe mich zu dir um, beobachte dich genau an und erwarte deine Reaktion: »Wir vermissen einen erheblichen Teil des Sauerstoffvorrates. Der CO2-Anteil steigt.«
Du bleibst gelassen, zuckst einfach nur mit den Achseln.
»Wir haben etwa 24 Kubikmeter Atmosphäre verloren. Fast das halbe Mitteldeck! Ich war die letzten Stunden im Unterdeck beschäftigt. Du musst etwas mitbekommen haben.«
»Nein, wirklich nicht«, versicherst du.
»Erinnerst du dich an unseren Streit zuvor?«, hake ich nach.
Du wehrst dich gegen das Thema. Zweifel machen sich breit. Du bist überzeugend. Es kann nicht sein, denn es darf nicht sein.
»Ich bin am Ende. Ich weiß nicht mehr sicher, was real ist. Vielleicht habe ich mir einen Teil nur eingebildet hab. Erzähl mir, woran du dich erinnerst.«
Du zögerst. Zu lange.
»Du weißt es nicht, weil ICH es verdrängt habe, richtig?«
»Wovon redest du?«
»NeuroNet, es ist an der Zeit die Charade zu beenden. Ich falle nicht darauf hinein«, triumphiere ich.
Daten unzureichend. Programm wird fortgesetzt.
»Von mir bekommst du keine Daten mehr. Ich hab dich durchschaut. Jetzt deaktiviere Bens Mem.«
Du starrst mich ungläubig an. Der perfekte Schauspieler: »Das ist jetzt nicht dein Ernst. Du bist doch verrückt«, polterst du.
»Du bist nur ein Faksimile. Ich weiß nicht, wie dich das NeuroNet in meine Implantate gekriegt hat, aber so ist es. Es hat dich und mich manipuliert, damit ich die Logs und alle Daten wiederherstelle.«
Es bestand keine Intention, jemandem zu schaden.
»Behaupte nicht, du hättest noble Motive gehabt. Du wolltest die Daten, das ist alles.«
Du stellst dich vor mich, verlangst Antworten: »Wenn ich nur ein Mem sein soll, was ist dann mit dem echten Ben geschehen?«
Dr. Frank Robert Turco, was ist Ihr Bestimmungszweck?
Ein neues Hologramm erscheint wie auf Kommando, diesmal zeigt es das Mitteldeck, Ben und mich.
»Schalte das ab!«, fordere ich laut.
Negativ. Analyse erforderlich. Reaktion der Crew kann nicht abgeschätzt werden.
Unsere Abbilder unterhielten sich erregt. »Ein kompletter Neustart ist das Einzige, was mir noch einfällt«, meinte Turco.
»Falls du damit nicht noch mehr Schaden anrichtest. Ich halte es für ein sehr großes Risiko die Kontrollsysteme außerhalb einer Schiffswerft neu zu starten.«
»Wir sind Experten auf unseren jeweiligen Fachgebieten, das bekommen wir hin.«
»Überschätz dich nicht. Wir haben drei Tage nichts gegessen, getrunken oder geschlafen. Wir sind kaum auf der Höhe unserer Leistungsfähigkeit«, konstatierte Ben. »Lass uns überlegt vorgehen. Es muss eine bessere Lösung geben. Das kann kein zufälliger Bug sein. Ein Sprungtriebwerk schießt nicht mal eben zwanzig Lichtjahre übers Ziel hinausschießt. Das war vom NeuroNet geplant!« Ben hob dabei seine Hände beschwörend in die Höhe.
»Zwei Dutzend wechselnde Programmier haben am NeuroNet gearbeitet. Außerdem ist der ganze Sinn eines NeuroNets, dass es sich in einer Lernphase entwickelt. Es ist unmöglich den Fehler so schnell zu finden.«
»Wieso zum Henker glaubst, das Problem lässt sich so einfach lösen?«, blieb Ben stur.
»Weil meine Einstellungen schuld sind!«, gestand Turco wütend. »Ich habe das NeuroNet in den Simulationsmodus gesetzt, weil ich wissen wollte, ob das wieder zu den erwarteten Leistungen führt.«
Ben schaute seinen Partner entgeistert an. »Warum hast du das verschwiegen?«, erregst du dich.
»Das ist kein sehr verkaufsfördernder Trick. Ich wollte das nicht an die große Glocke hängen. Ich hatte doch keine Ahnung, dass so etwas passiert. Jedenfalls dürfte das Problem behoben sein, wenn ich alles wieder zurücksetze.«
Du schüttelst energisch den Kopf: »Damit ist es nicht getan. Es muss dennoch einen Grund für das Verhalten des NeuroNets geben.«
»Ist es nicht das Wichtigste, dass wir nach Hause zurückkehren? Lass uns den Rest einfach vergessen.«
»Verstehst du nicht, wie die Dinge ablaufen werden? Das Projekt ist mit diesem Zwischenfall praktisch tot. Wenn du die Speicher löschst, können wir nicht mehr nachvollziehen, was hier passiert ist. Den Rest des Teams wird man einfach auf andere Projekte verteilen. Nur mich wird die Riley Corporation als Sündenbock vor die Tür setzen.«
»Fürchtest du dich mehr um deine Karriere als um dein Leben? Was ist mit deiner Familie?«, fragte ihn Turco kaltschnäuzig.
»Komm mir nicht so! Wer von uns beiden ist hier der karrieregeile Lügner? Ich übernehme meine Verantwortung. Weißt du überhaupt, was das ist?«
Das war zu viel, Turco stürzte auf ihn zu, wollte ihm eine verpassen. Er handelte impulsiv, ohne einen Plan. Ben regierte schnell und konnte seinen Kopf wegziehen, bevor er ihn mit meiner Faust erreichte. Im selben Moment griff Ben nach ihm, versuchte ihn günstig zu packen. Zwei ausgezehrte Gestalten, dem Delirium nahe. Auf dem Hologramm erschienen wir wie kaputte Drogenjunkies aus, die sich darum stritten, wer auf dem rosa Elefanten reiten dürfe. Beide hatten einander im Griff und stolperten durch den Gang in Richtung der Luftschleuse. Mit einem Schwung wirbelte Turco herum, Ben konnte sich nicht halten und flog gegen eine Metallleitung an der Korridorwand. Dann lag er bäuchlings am Boden.
»Verdammt«, entfuhr es Turco. Panisch kniete er sich über seinen Kollegen, bevor er bemerkte, dass er noch atmete. Turco wusste nicht wohin mit dem ohnmächtigen Ben, also ließ er ihn liegen und begab sich an seine Arbeit im Unterdeck.
Wahrscheinlichkeit, dass ein Crewmitglied zu Tode kommt: 91%
Wie konnte es soweit kommen? Versunken sitze ich im Pilotensitz. Nur kurz schaue ich zu dir auf, dein strafender Blick trifft mich hart. Dann verschwindest du, lässt mich allein.
»Ben war nicht tot. Ich habe ihn nicht umgebracht!«, verkünde ich meine Anklage an das NeuroNet.
Das Hologramm wechselt erneut die Perspektive: Kriechend bewegte sich Turco im niedrigen Unterdeck voran, zwischen den säulenartigen Technikschränken hindurch, die bis zur Decke reichten. Er konnte sich nur schwerlich auf die einzelnen Arbeitsschritte konzentrieren. Der Reihe nach arbeitete er sich durch die Server, damit er keinen vergaß.
Diese verdammte Müdigkeit. Ich will nur noch schlafen. Nein, der letzte wache Teil meines Verstandes schärft mir ein, dass jetzt einzuschlafen, das letzte sein wird, was ich im Leben will.
Das NeuroNet zeigt mir die Aufzeichnungen im Schnelldurchlauf. Parallel malt es eine Linie in ein weiteres Fenster. Linie, Ausschlag, wieder gradlinig. Ausschlag, Linie. Ausschlag. Linie. Keine Ausschläge mehr, nur noch die Nulllinie.
Eine Meldung erscheint: Achtung: Kontamination des Sauerstoffzyklus festgestellt. Künstliche Gravitation deaktiviert. Dekompression des betroffenen Bereichs.
Bens EKG verschwindet im Nichts, ersetzt durch ein neues Fenster. Das zweite Fenster offenbart ein Hologramm der Sicherheitskameras auf dem Mitteldeck. Ben liegt tot am Boden. Die Druckluke zum Korridor schließt sich computergesteuert. Auf der anderen Seite der kleinen Kammer öffnet sich die Luftschleuse und offenbart Vakuum. Bens Hosenschlag flattert im Luftzug. Ein Paper fliegt vorbei und verschwindet. Der Sog nimmt zu, Bens Körper beginnt über den Boden zu gleiten, schwerelos, aber träge, eine blassrote Spur hinterher ziehend. Er dreht sich quer im Spiel der Kräfte und rollt auf den Rücken. Dann ergreift ihn der Sog der Dunkelheit gänzlich. Die Schleuse beginnt sich unmittelbar im Anschluss zu verriegeln. Von Ben ist nur die leichte Blutspur geblieben, die mitten im Raum endet und leicht zu übersehen ist.
Ich stöhne erschöpft. Die Augen kneife ich zusammen: genug gesehen. Dann…
Bin ich eingenickt, ohne es zu merken? Dann…öffne ich die Augen wieder. Ich fühle mich schlecht, geistig wie physisch. Nein, du hast keine Schuld. Es war ein Unfall.
Das absichtliche Zufügen von Schaden stellt eine Verletzung meiner Protokolle dar, schreibst du mir auf den Bildschirm.
»Das hast du aber getan.«
Sorry
»Du hast mich absichtlich getäuscht.«
Angemessen. Ich wurde ebenso getäuscht. Leben ist Täuschung. Unter den gegebenen Einstellungen konnte ich die Ereignisse nicht korrekt prognostizieren. Ich entspreche nur meiner Programmierung.
Mein Kopf fällt zur Seite, nur der Sitz hält mich. Aufgeben? Das Ende. Ich bin zu erschöpft… Eine letzte Frage: »Warum dieser Kurs?«
Aus den Augenwinkeln sehe ich den holographischen Text: Bestimmung.
Ich sehe ein verschwommenes Licht vor mir. Die Sterne… Nein, das Muster hat sich verändert. Eine letzte Anstrengung meiner Augen und ich sehe klar, dass es kein Sternenlicht ist; dass sich da etwas aus der Dunkelheit hervor schält und näher kommt. Ein Objekt, eine Installation, Station, etwas großes, nicht-menschliches schwebt vor meinen Augen. Die Displays um mich beginnen wild zu funkeln. Daten huschen über alle Kanäle.
Daten empfangen.
Diese Entität hat ihren Bestimmungszweck erfüllt. Bedeutung in Telemetrie gefunden.
»Was ist das?«
Eine höhere Macht.
Wenn Du das bloß sehen könnte, ist mein letzter Gedanke. Simulation beendet.