Orientexpress
Das Telefon klingelt, ich nehme ab, höre nicht wer dran ist, sage nur: „Ja, kein Problem, bis zum nächsten Mal.“ Mir fallen die Augen wieder zu. Es ist 21:32 Uhr. Ich gehe ins Bett.
„Beim nächsten Ton ist es vier Uhr, sie sind guter Dinge und freuen sich auf den Tag. Also, keine Müdigkeit vorschützen und aufwachen, man kann ja nicht das ganze Leben verpennen, ne!?!“ PLING! „Es ist jetzt vier Uhr, also raus aus den Feder und rein in den Tag!“ Ich schaue zwar leicht verschlafen drein, aber bedanke mich höflich bei dem Mann im Radio für seine außerordentlich detaillierte Beschreibung meines Gemütszustandes und seine wirklich passende Erkenntnis, dass der Tag schon um vier Uhr Morgens beginnen sollte. Er sieht das genau so. Sein Dankeschön an mich ist ein Lied von Modern Talking! Und das um diese Zeit, der Tag kann ja nur gut werden.
Also erst mal das tun, was ich jeden Morgen tue: Wecker aus, und eine viertel Stunde später stellen! „Viertel fünf müsste passen, dann kann ich zwar keine Zeitung mehr lesen, bevor ich zur Arbeit fahre, aber was soll’s, die rennt nicht weg und ich hab ja irgendwann auch mal Pause.“ Eigentlich komme ich gar nicht mehr dazu, diese Gedanken zu Ende zu führen, sonder schlummere fast augenblicklich wieder ein. Man kann diesen Zustand ja eigentlich nicht schlafend nennen, oder? Ich bezeichne es als verlängertes Aufwachen, mit kleinen Phasen voller wirrer Gedanken, die man aber schnell mit Träumen verwechseln kann. Oder ist es nur der Backflash? Nennen wir es an dieser Stelle dösen.
Nun ja, auch um viertel fünf bin ich natürlich wieder guter Dinge und freue mich wieder mal ganz doll auf den Tag, nur leider ist mein Körper auf diesen Ansturm der Freude und des Wohlbefindens nicht vorbereitet, er rächt sich mit einem Kreislaufzusammenbruch, also Wecker auf halb fünf stellen und noch ein wenig weiter dösen. „Dann kann ich zwar nicht mehr Frühstücken, aber es gibt ja noch die Cafeteria“, schießt es mir durch den Kopf. „Also, was soll’s!?“
Halb fünf: Ich pelle mich mit einem Bein aus dem Bett und nehme mir fest vor, nun endlich den Gang unter die Dusche anzutreten. Ich will es wirklich, aus tiefstem Herzen! Obwohl; eigentlich habe ich ja am Abend zuvor geduscht, also könnte ich es ja heute beim Haarwaschen und Achselnreinigen belassen. Eine der besten Ideen, die ich diesen Morgen habe! Eigentlich die beste Idee, die ich jeden Morgen habe. Ich argumentiere mein Hygienebewusstsein in Grund und Boden, sage ihm, dass ich an einem normalen Tag ja auch nur einmal Dusche und somit auch immer einen Abstand von 24 Stunden zwischen zwei Duschen habe. Bedeutet, da ich am Abend zuvor geduscht habe, dass ich heute auf Wasser verzichten und es auf später verschieben kann. Verstanden? Das dachte ich mir. Mein Hygienebewusstsein auch nicht, und so verschwindet es dann auch langsam im Hintergrund meines starken, aber vom schwachen Körper geleiteten Geistes.
Also, noch mal kurz hinlegen, bis drei viertel fünf geht schon klar. „Wann kommt eigentlich meine S-Bahn?“ frage ich mich beiläufig. „Hmm, ist ja nicht so wichtig, wenn ich sie verpassen könnte, würde ich mich ja nicht noch mal hinlegen!?“ Klingt logisch! Überzeugt von meiner eigenen Argumentation schließe ich die Augen ein letztes Mal.
Keine Angst, dass wird jetzt keine Suizidgeschichte, ich will an dieser Stelle nicht sterben, kann ich ja auch gar nicht, denn sonst würde ich hier nicht schreiben können. Ich mache sie sofort wieder auf.
Genau jetzt: Ich öffne die Augen, sehe, dass ich noch eine Viertelstunde Zeit habe, bis der Zug Richtung Alltag in den Bahnhof einfahren wird. Ich sollte lossprinten, aber ich diskutiere das ganze erst einmal in Ruhe mit der faulen Seite meines noch nicht ganz zum Aufstehen bereiten Geistes aus.
Noch 14 Minuten.
Ich überlege mir, was jetzt der klügste Weg wäre, der Situation noch was gutes abzugewinnen. Fassen wir einmal zusammen: Ich bin ungeduscht, unrasiert, habe mir die Zähne nicht geputzt und auch nicht gefrühstückt. Sehe also aus wie ein Penner. Also bleiben mir zwei Möglichkeiten, ich springe auf, renne los und gehe so wie ich bin zur Arbeit oder ich bleibe noch ein wenig liegen, Dusche, putze mir die Zähne und Frühstücke. Ich stehe vor einer Sackgasse, einem Scheideweg, bin sozusagen in der Zwickmühle zwischen Pflicht und Wohlbefinden! Warum ist das Leben nur so hart zu mir?
Noch neun Minuten.
Ich bräuchte nur zwei Minuten zur Bahn, könnte mich also noch mal sieben Minuten hinlegen. In diesen Momenten erstarre ich immer vor meiner Fähigkeit, logisch zu denken. Es raubt mir den Atem. Ich lache mir noch ein wenig ins Fäustchen, da ich der Meinung bin, dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen zu haben, entschließe mich dann aber doch Kurzerhand mit einem Anflug von Pflichtgefühl dazu, aufzuspringen, mich anzuziehen und zum Bahnhof zu rennen.
Kaum angekommen, die Meldung in den Lautsprechern: „Die S-Bahn Richtung Westerbauer hat 15 Minuten Verspätung! Ich fluche einmal laut und trete gegen eine der Mülltonnen, die prompt den Dienst verweigert, umkippt und ihren Inhalt fein säuberlich auf meiner, wie ich anmerken muss, gerade frisch gewaschenen Hose kippt. Was ich noch anmerken sollte, es ist meine einzige Hose. Das war’s dann wohl auch mit dem einzigen nicht nach Schweiß duftenden Kleidungsstück. Lecker, jetzt stinke ich auch noch nach Müll und Babywindeln! „Moment,“ ich fasse es nicht, „Babywindeln? Was zum Teufel machen Windeln in einem Bahnhofsmülleimer?“ Ich unterbinde den Versuch meinen Gehirns, bei dieser Tatsache nach der Logik zu suchen. Ist eh unlogisch, also was soll’s, feuern können sie mich nicht, ich bin ja unkündbar! Zivisein hat auch was für sich. Nun ja, die S-Bahn lässt sich dann doch noch eine geschlagene halbe Stunde Zeit, bevor sie im Bummeltempo in den Bahnhof einfährt. Kein Wunder dass sie Verspätung hat, bei dem Tempo. Mein Nase läuft! Ich döse ein wenig vor mich hin und stelle den mitgenommenen Wecker auf die voraussichtliche Ankunftszeit ein. „Schlaf ist Schlaf und Schlaf ist gut“, sag ich mir.
Kurz und gut, ich steige in meinen Zug ein, verpasse trotz der Uhr meine Haltestelle und muss nun 1,5 km durch den Wald zurück zur Dienstelle laufen. Auch nicht schlecht, werde ich wenigstens wach und frische Luft tut immer gut. Ich frage mich nur, warum die Stadt die Müllverbrennungsanlage direkt in das Waldgebiet bauen musste. Es riecht nach Plastik. Mein Puls schlägt mit 180 die Minute und ich sehe aus, als hätte ich einen riesen Sonnenbrand im Gesicht, als ich endlich, nach andertalbstündiger Odyssee meinen Arbeitsplatz erreiche.
Ich werde freundlich begrüßt: „Guten Morgen, haben sie es doch noch geschafft?!“ Verlegen murmle ich eine Ausrede in den Bart und wandere zur Stechuhr. Uhren! Ich hasse sie, habe das Gefühl, das sie mich verfolgen und mich dazu verleiten, dumme Dinge zu tun, z.B. verschlafen und richtige Arbeitzeiten einzutragen. Nun ja, jetzt bin ich schon mal da und dann kann ich mich auch erfassen lassen. „Big Brother is watching me.” Doch dieses Digitale scheißmoderne Teil, spuckt außer einem Piep und der Nachricht: „Sie haben heute keinen Dienst nichts“ wirklich wichtiges aus, also drehe ich um und will die Essenswagen voll packen!
Irgendwas stimmt nicht. Ich weiß nicht was es ist, aber irgendwas läuft gerade ziemlich falsch. Wo sind die Essenswagen? Wo ist das Essen, der Kaffee, die Brötchen, die alten Leute wollen doch frühstücken!? Die armen alten Schmarotzer müssen doch auch was essen. Nicht aus Nächstenliebe habe ich diese Gedanken, nur aus dem einfachen Grund, dass ich am Arsch bin, wenn jemand hier verhungert. Ich bin jetzt sicher, das eine Verschwörung gegen mich im Gange ist, kann nur nicht sagen, welcher Art. Ich spule im Geist zurück und suche nach einem Detail, das ich vielleicht übersehen haben könnte!
Ich weiß es, „Sie haben heute keinen Dienst“! NEIN, ich fange an zu heulen und verfluche alles, was mir über den Weg läuft. Aus Wut trete ich auf dem Weg zurück zur Haltestelle noch einer alten Dame die Gehhilfe weg und lache dabei wie wahnsinnig. Da ich gerade in gewaltbereiter Stimmung bin, schlitze ich den rumstehenden Rollstuhlfahrern noch schnell die Reifen auf und mache mich aus dem Staub. Die Faust gen Himmel streckend rufe ich ihnen noch ein „das habt ihr verdient, ihr Schweine“ hinterher. Ich liege zwei stunden später, gegen acht Uhr also, wieder in meinem Bett, habe meine Wut überwunden und freu mich einfach nur, das ich noch einmal richtig schlafen kann.
Das Telefon klingelt. Ich will nicht rangehen, doch eine unsichtbare Macht zwingt mich förmlich dazu, den Hörer abzunehmen, Das beschissene Pflichtbewusstsein gewinnt mal wieder. Die Stimme meiner Chefin dröhnt in meinem Ohr, wo zum Teufel ich sei und ob ich Lust auf ein Disziplinarverfahren hätte. Ich lehne dankend ab, mich im Recht fühlend. Ich stelle sie vor die Tatsache, dass ich ja da gewesen wäre und ich ja gar keinen Dienst habe und so weiter. Stille am anderen Ende. Der Sieg ist meiner. Ich höre ein klatschen. „Ist sie vom Stuhl gefallen, die fette Qualle?“ Anscheinend nicht, sie hat sich wohl nur gegen den Kopf geschlagen. Als meine Chefin mich dann mit seelenruhiger Stimme fragt, warum sie mich wohl vor ein paar Stunden angerufen hätte, fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
Ich weiß jetzt, dass das kein gutes Ende nehmen wird. Ich erkläre ihr, ich sein krank, meine Oma sei gestorben und unser Haus wäre abgebrannt. Dann packe ich meine Sachen, fahre zum Bahnhof und kaufe mir ein Ticket für den Orientexpress. Vielleicht finde ich ja dort meinen wohlverdienten Schlaf!?