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Ordnung
Wenn du dich wie ein Hammer fühlst, hatte er einmal irgendwo gelesen, fangen die Leute um dich herum an, wie Nägel auszusehen. Das war einleuchtend. Nur – Förster fühlte sich an manchen Tagen wie eine Axt, an anderen wie eine Damaszenerklinge und dann wieder wie ein komplettes Operationsbesteck.
An diesem Abend empfand er sich jedoch einfach nur als jemand, der mit seinem Hund Gassi geht. Als die Straßenlampen angingen, sah er gewohnheitsmäßig auf seine Uhr. Sekunden später schlug die Kirchenglocke.
Förster liebte die Regelmäßigkeit, und so bog er zufrieden in die Straße am Rathaus ein, die zur Uferpromenade führte. Er löste den Haken der Hundeleine, und der kleine weiße Pudel begann mit der Inspektion der Laternenmasten und Papierkörbe.
Die Luft war trotz der späten Stunde erstaunlich mild. Neben der geöffneten Tür eines Lokals stand ein kleines Mädchen und beobachtete die vorübergehenden Nachtschwärmer. Als es den Hund sah, hoben sich seine Augenbrauen.
„Der ist ja süß! Wie heißt der denn? Darf ich ihn mal streicheln?“
„Natürlich“, sagte Förster. „Er heißt Pille.“
„Pille? Das ist aber ein lustiger Name.“
„Und Du? Wie heißt Du?“
„Biggi. Warum willst Du das wissen?“
„Solltest Du nicht zu Hause sein um diese Zeit?“ Sein Blick glitt über ihren Kopf, über das blaue Seidenband, das ihren langen blonden Pferdeschwanz zusammenhielt.
Bevor das Mädchen antworten konnte, erklang in Försters Rücken das Geräusch eiliger Stöckelschuhe.
„Biggi, wat machs Du da? Hörn sie ma, wat fällt Ihnen ein, meine Tochter zu belästigen!“
Er wandte den Kopf und blickte in ein feistes, stark geschminktes Gesicht, das von offensichtlich gefärbtem Haar eingerahmt wurde, schwarz und stumpf wie Kohlenstaub. Ah … die sprichwörtliche Löwin, dachte er, und ohne etwas zu erwidern, sah er zu, wie die Frau das Mädchen an die Hand nahm und davon eilte.
„Die wär doch was für uns, Pille“, sagte er leise, „obwohl … zu fett eigentlich; und zu dumm. Andererseits – stell Dir bloß mal das Geschrei vor… Ich wette, die ist zäher als die letzte. Da hätten wir wochenlang was zum Spielen. Was meinst Du?“
Der kleine Hund sah ihn aufmerksam an und wedelte mit dem Schwanz.
Förster überquerte den abschüssigen Rasen hinunter zum Ufer und atmete die modrigen Ausdünstungen des Flusses ein. Ein Vergnügungsdampfer trieb vorbei, erleuchtet wie ein Christbaum und voller fröhlicher Menschen.
„Alle abgefüllt. Abgefüllt und glücklich. Ist das nicht schön, Pille?“ sagte er, setzte sich auf eine Bank und schloss für einen Moment die Augen. Er versuchte, die Schmerzen in seiner Hüfte auszublenden und dachte belustigt an die Einladung, die am Morgen in seinem Briefkasten gelegen hatte. Scheiss was auf die senilen Arschlöcher. Emeritierte grenzdebile Langweiler. Keine Ahnung von nichts. Die Gesichter seiner ehemaligen Partner, die Holzvertäfelungen und Parkettböden der Kanzlei erschienen vor seinem inneren Auge. Irene, seine Sekretärin … Blonde Knöchel, dachte er. Wer hat das noch gleich geschrieben?
Als er die Augen wieder aufschlug, war Pille verschwunden. Seine Hand tastete in der Manteltasche nach der Hundepfeife. Der Pudel war sein Partner, ein wahrer Freund; den Gedanken, ihn zu verlieren, konnte Förster nicht ertragen. Das Tier war seit Jahren Zeuge seiner Taten gewesen, hatte all die Experimente, zu denen ihn seine Leidenschaft angestachelt hatte, mit angesehen. Es war stets aufgeschlossen und neugierig, hatte mit großer Begeisterung alles, was Herrchen ihm in der letzten Nacht und den vielen Nächten davor hingeworfen hatte, verschlungen. Ohrläppchen, Augäpfel, Lippen, Zungenspitzen – der Alte wusste, was seinem kleinen Liebling mundete. Die Abneigung des Tieres gegen Innereien war für Förster ein Rätsel geblieben, eine Marotte, die er seinem Liebling aber gern zugestand.
Pille war der ideale Komplize, der mit der gleichen Begeisterung bei der Sache war, wie er selbst, und der ihn niemals verraten würde.
Als er das Tier wieder sehen konnte, holte er ein kleines Fernglas aus der Tasche und sah dem leuchtenden Schiff hinterher. Er empfand in diesem Moment nichts als Zuneigung zu den lachenden, tanzenden Menschen unter den bunten Laternen.
„Mach endlich Dein Ding, kleiner Mann.“
Eine halbe Stunde war vergangen, als der Hund schließlich ein paar erdnussgroße Häufchen in den Kies drückte. Förster stand auf, holte eine Plastiktüte aus der Manteltasche und stülpte sie sich über die rechte Hand. Als er sich bückte, um die Hinterlassenschaften des Pudels aufzunehmen, sah er im schwachen Licht der Straßenlampen auf der größten Erdnuss etwas glitzern. Er drückte mit der Fingerspitze darauf und wusste im gleichen Moment, was es war.
„Ein Ohrring – das tut mir leid, Pille. Ja, Herrchen hat wohl vergessen, den abzumachen.“
Er sah sich um und fand schließlich ein kleines Holzstück, mit dem er das billige Schmuckstück aus dem Hundekot puhlte. Für einen Moment blitzte in seinem Kopf ein Zitat des großen Balzac auf. Frau: ein gut gedeckter Tisch, den man vor und nach dem Mahl mit anderen Augen sieht.
Nachdem er den Ohrring in den Fluss geworfen hatte, entsorgte der Alte die Plastiktüte samt Inhalt im Papierkorb.
Ordnung musste sein.