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Oranienburg
Merkwürdigerweise machte ich mir als erstes Sorgen darüber, wie er den Fleck wieder aus dem Teppich rauskriegen will. Nie hätte ich vermutet, dass ein Faustschlag ins Gesicht so eine Wirkung haben kann. Man hätte ja direkt einen Wassereimer unter seine Nase stellen können. Er sitzt auf seinem Stuhl inmitten einer Blutpfütze, die immer größer wird und von der Auslegeware aufgesogen wird. Nelly und ich fragen ihn, ob wir ihm helfen können. Er verneint. Instinktiv spüre ich, dass wir hier überflüssig sind. Hier will jemand mit seinem Kummer allein bleiben. Wir gehen verstört aus der Wohnung, aber mir tut es leid. Eigentlich wäre ich lieber bei ihm geblieben. Der Abend hatte so gut angefangen.
Meine Freundin Nelly und ich hatten uns eine Flasche Whiskey gekauft und waren spontan in die S-Bahn gestiegen und nach Mönchmühle an den See gefahren. Mitten in der Woche, an einem Sommerabend war es hier relativ ruhig. Die Mücken waren sehr zudringlich. Das brachte uns auf die Idee, unsere Beine mit Whiskey einzureiben. Schade um den schönen Whiskey. Die Mücken störten sich nicht an dem Schnapsgeruch und stachen uns fleißig weiter.
Ein Stück weiter neckten ein paar Jugendliche, die eindeutig rechts waren, ihre Kumpeline, ein hübsches, sinnlich wirkendes Mädchen und bespritzten sie mit Wasser. Man sah ihr an, dass sie sich in ihrer Mitte pudelwohl fühlte. Ich überlegte, ob sie auch so dachte wie ihre Clique, oder ob sie sich darüber keine Gedanken machte. Als Nelly und ich zurück zur S-Bahn gingen, flog mit einem Mal eine Weinflasche haarscharf an meinem Kopf vorbei, und sie schrien uns etwas hinterher, wo das Wort Linke drin vorkam. Dazu waren sie wahrscheinlich durch meine hennaroten Haare inspiriert worden. Ich fühlte mich eigentlich sogar irgendwie geschmeichelt, dass ich für eine Linke gehalten wurde, denn in den coolen Hausbesetzerkneipen, von denen es in der Gegend, in der ich wohnte, jede Menge gab, wurden wir überhaupt nicht beachtet.
Auf dem Bahnsteig fuhr gerade die S-Bahn nach Oranienburg ein, und wir entschieden uns einzusteigen und nicht gleich nach Berlin zurückzufahren. Wir wussten eigentlich auch nicht, was wir in Oranienburg wollten. Nelly und ich waren beide aus der Provinz. Sie kam aus einem kleinen Dorf im Oderbruch und ich aus einem Dorf in Mecklenburg/Vorpommern. Vielleicht waren wir deshalb Freundinnen geworden.
Als wir in Oranienburg durch die Straßen schlenderten, staunte ich, dass sich hier überhaupt nichts verändert hat. Das ganze Graue, Triste, Bedrückende waren immer noch da, auch wenn jetzt Anfang der Neunziger kunterbunte Westwaren in den Schaufenstern lagen und überall Werbung für Coca-Cola klebte. Ich glaube, Oranienburg erinnerte Nelly an die Kleinstadt in Sachsen/Anhalt, wo sie ihre Lehre gemacht hatte und auch noch kurz gearbeitet hatte, bevor sie mit Anfang zwanzig nach Berlin ging. Wir bekamen Hunger. Auf dem Marktplatz gab es zum Glück noch die alte ostdeutsche Bratwurstbude. Mit Döner konnte ich mich nie so recht anfreunden. Nelly, die auch schon Erfahrungen mit Frauen gemacht hatte, fand die Imbissverkäufern niedlich. Ich hätte sie, mit ihrer Dauerwelle und ihrem Look, für eine junge Ehefrau und Mutter gehalten, und das war sie wahrscheinlich auch.
Langsam wurde es Nacht. Nelly steuerte die nächste Kneipe an. Es war ziemlich leer. Einen Tisch weiter, saßen ein paar Leute in unserem Alter, zwei Männer und eine junge Frau, alle so Mitte zwanzig, die sehr kontaktfreudig wirkten. Nelly war die jüngste von uns. Schon nach dem ersten Bier saßen wir mit bei ihnen am Tisch. Die anderen drei kannten sich schon jahrelang und freuten sich über die neue Bekanntschaft. Der eine, der sehr nach Knast aussah, kümmerte sich um Nelly, dagegen redete der andere, ein Typ mit langen Haaren, auf mich ein. Es stellte sich heraus, dass die beiden Männer erst vor kurzem von ihren Frauen verlassen worden waren. Der, der sich mit mir unterhielt, sah eigentlich ganz gut aus und war sympathisch, aber war mir trotzdem völlig gleichgültig. Wahrscheinlich merkt man instinktiv, wenn einer das nicht erst meint. Er war wohl noch lange nicht über seine Trennung hinweg. Die Kumpeline der beiden musste nach Hause, und wir restlichen vier kauften noch eine Flasche und gingen zu einem der beiden Männer in die Wohnung. Ich hatte dabei ein mulmiges Gefühl, aber Nelly wollte unbedingt. Der Grund dafür war, dass ich den einen der beiden, der wohl gerade aus dem Knast kam, für aggressiv und unberechenbar hielt. Aber Nelly wollte heute Abend unbedingt noch etwas erleben. Also musste ich mit. Ich hoffte, dass sie sich nicht mit ihm einlässt, denn ich hatte ein schlechtes Bauchgefühl. In der Wohnung, die ziemlich deprimierend wirkte, tranken alle, außer ich, weiter und Nelly unterhielt sich mit dem einen und auf mich redete der Langhaarige ein. Unsere Unterhaltung war aber nur freundschaftlich.
Langsam schlich sich bei mir das Gefühl ein, dass mir mein Gesprächspartner, der mir zu Anfang völlig gleichgültig gewesen war, gefällt. Er sah gut aus und war intelligent und sensibel. Auch imponierte mir, dass er kein oberflächlicher Typ war, sondern dass der Verlust seiner Freundin, die mit dem Kind zu einem anderen gezogen war, ihn extrem mitgenommen hat. Vielleicht war das ja hier in dieser tristen Stadt, in dieser tristen Wohnung, das, wonach man immer gesucht hatte. Auch Nelly und ihr Gesprächspartner lachten zusammen und unterhielten sich angeregt.
Plötzlich und unerwartet geschah das, womit ich ja von Anfang an gerechnet hatte, denn ich hatte seinen Kumpel vom Gefühl her immer für einen „Hauer“ gehalten. Eine Faust fuhr an mir vorbei und in das Gesicht meines Gegenübers. Bei dem Angreifer hatten wohl Kinderheime, Jugendwerkhöfe und Knäste ihre Wirkung hinterlassen. Schlagartig war alles anders. Nelly, die schon einiges getrunken hatte, wollte wohl die Heldin spielen und drängte sich zwischen die beiden. Ich sah sie schon im Koma liegen, denn der Schläger war ein sehniger, durchtrainierter Typ. Blutströme ergossen sich aus der Nase meines Gesprächspartners auf den Fußboden. Der andere verschwand in der Nacht, und wir drei blieben in der Wohnung zurück. Ich fühlte, dass er allein bleiben wollte mit seinem Schmerz, und dass ich ihm eigentlich nichts bedeutete. Beim Rausgehen hoffte ich noch, dass er mich zurückhalten würde, aber er saß bloß zusammengesunken auf seinem Stuhl und starrte vor sich hin. Erst hatte ihn seine Freundin verlassen, und jetzt war auch noch sein bester Kumpel, den er schon viele Jahre kannte, grundlos auf ihn losgegangen. Nelly und ich gingen zum Bahnhof. Der erste Zug nach Berlin stand schon da, und wir setzten uns in die S-Bahn, auch wenn sie erst in einer Stunde fuhr.