Orangerote Rüben
„Einen Kaffee“, sagte der alte Mann mit dem Sack voll Rüben über der Schulter. Es war eigentlich kein Sack, sondern viel eher eine relativ dünne, durchsichtige Plastiktüte mit rotem Schnürrband. Doch der Alte trug die Tüte vom Biomarkt stolz über der Schulter wie ein Seemann der seinen Seesack etwas fester anpackt, da wo die Mädchen an den Hafenkanten sitzen, und platzierte dann ein halbes Gesäß auf dem hüfthohen Barhocker meiner Theke.
Ich nickte meiner Kollegin zu, weil ich heute allgemein zu sehr damit beschäftigt war, meinen Rausch von Gesternabend auszuatmen und Tanja schenkte dem alten einen Pott ein. Tanja hatte oft ein goldenes Händchen dafür, ob ein Kunde Pott oder Tasse brauchte, aber dieser Alte sagte sofort: „Ich will mich da nich' reinlegen, Mädchen. Der kleine Eimer bitte.“
Tanja sprach noch nicht so gut Deutsch, verstand aber die Anweisung des Alten und befüllte die Tasse.
Einige der Gäste drehten sich zu dem Mann mit den Rüben um. Eine Großmutter im selben Alter mit Brillengläsern so dick wie die Böden von den Gewürzgurkengläsern hinter mir im Regal fragte den Alten etwas, aber der Alte antwortete ihr nicht. Er sah stattdessen mich an. Deshalb drehte ich mich etwas mehr zur Spüle und rubbelte mit einem Lappen trockenes Geschirr noch trockener.
Als die Großmutter ein zweites Mal auf ihn einredete, unterbrach der Alte sie harsch mit den Worten: „Aus'm Garten sind die. Und nu' gib Ruhe.“
Ich musste schmunzeln, war jedoch von dem Fakt verunsichert, dass der Alte mich offensichtlich immer noch anstarrte. Seine Augen waren dunkel wie Muttererde und wenn er sie zu schmalen Schlitzen zusammenzog – wie eben in diesem Moment – glichen seine Pupillen verbranntem Mutterboden, was einen sehr bedrohlichen Eindruck machen konnte, wenn man zu lange hineinstarrte.
Er trank einen Schluck von seinem Kaffee und schob den Schluck dann langsam von einer in die andere Wange.
Dann kniff er die Augen ganz zu und sagte: „Mach 'n neuen Aufguss, Katinka. Der schmilzt, bevor ich ihn im Hals hab.“
Tanja schüttelte den Kopf und starrte mich verwirrt an.
„Die Kanne ist noch voll“, antwortete ich für sie. „Wir machen erst neuen, wenn der alte leer ist.“
Der Mann hustete und entledigte sich seiner Tüte Rüben, indem er sie auf die Theke warf.
„Himmel, was muss ich denn tun, um hier eine frische Tasse Kaffee trinken zu können?“
Ich begutachtete ausgiebig die volle Kanne der Maschine.
„Mindestens acht weitere bestellen.“
Der Alte hustete wieder und klopfte sich mit der Faust ans Herz.
„Katinka, neun Tassen Kaffee bitte.“
Tanja fragte den Mann, ob er sich denn sicher sei, dass er neun Tassen Kaffee vertragen konnte und er antwortete ihr: „Acht für das Spülbecken und den letzten reichst du mir, Katinka.“
„Tanja“, korrigierte Tanja.
„Nicht Tanja. Mir“, korrigierte der Alte.
„Tanja“ Meine ukrainische Saisonarbeiterin deutete mit beiden Händen auf ihr Dekolleté. „Ich. Tanja. Mich.“
Der Mann verdrehte die Augen und kramte seine Börse aus der hinteren Hosentasche. Er klatschte einen kleinen, roten Schein auf die Theke „Dann acht für die Spüle, einen für dich Mädchen und den letzten bringst du mir, ja?“
Tanja nahm das Geld entgegen und machte sich daran, die kalte Kanne Kaffee in den Ausguss zu entsorgen.
„Frauen“, sagte der Alte, in meine Richtung nickend. Ich zuckte mit den Schultern, als würde ich damit sagen wollen: Was will man machen.
Und als der alte Mann nach seiner Tasse Kaffee starb, behielt ich die Rüben. Die Chefin hatte nichts dagegen und die Notärzte hatten die Tüte nicht mitgenommen, als sie den Alten auf der Pritsche hinausgetragen hatten. Schon der Dritte diesen Monat. Und immer sind es orangerote Rüben. Irgendetwas stimmt nicht mit mir. Ich darf so nicht weitermachen. Aber jetzt gehe ich erst einmal nachhause, denn es ist Feierabend. Meine Zähne fahren durch das Fleisch der Karotte und es knackt mit jedem Biss, wie wenn Bäume umbrechen.