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Orangenfrau
Hinter dem Vorhang wartete das Modell.
Und den Moment, wenn der Vorhang zur Seite gezogen wurde, liebte Jan am meisten. Es war vielleicht nicht der beste Moment des Abends, aber immer der spannendste.
Eine Frau mit langen schwarzen Haaren kam jetzt auf ihn und die anderen Zeichner zu. Ein älteres Modell mit wimpernlosen Augen und weichen, schweren Brüsten. Jan wunderte sich über ihr spärliches Schamhaar. Vielleicht fiel im Alter selbst das Schamhaar aus.
Er fing an zu zeichnen. Bogen um Bogen von der großen grauen Zeitungspapierrolle. Er mochte die Frau, deren Alter er nicht schätzen konnte. Sie lächelte ihn an. Als ahnte sie seine Gedanken, als kannte sie das Spiel und als rate sie, zu welchem Ergebnis er käme: fünfundvierzig, Mitte fünfzig oder über sechzig.
Später in der Lithowerkstatt, während er sich tief über die Wasserbecken beugte, dachte er an ihr wunderbares Lächeln, ihre überraschend weißen Zähne und der Gedanke an sie machte ihn leichter. Steine vorbereiten war eine schwere, ermüdende Tätigkeit. Wuchten, drehen, paarweise schleifen.
„Was für eine Unverschämtheit, so ein altes Modell“, unterbrach Miriam seine Gedanken. Sie schliff am Nachbarbecken ihre Steine und ärgerte sich, dass niemand ihr Hilfe anbot. „Wie ein Michelinmännchen sah die aus.“
Miriam schüttelte sich, als würden Kakerlaken aus dem Ausguss krabbeln. Gleich würde sie ihren Stein fallen lassen. Jan schwieg und betrachtete Miriams knappe Jeans, ihren winzigen Hintern, der auf ihn keine Wirkung hatte.
„Wenn ich so aussähe, würde ich mich operieren lassen“, fuhr sie fort, „zumindest würde ich mich nirgendwo ausziehen.“ Miriam redete sich in Rage. „Und wie ihr Arsch aussah, wie eine alte Matratze!“
„Das kommt vom Kontrapost, von der Gewichtsverlagerung“, sagte Jan. Er wusste nicht, warum er das Modell verteidigte, „dann staut sich das Gewebe auf dem belasteten Bein und kommt matratzenartig heraus.“
Jan ärgerte sich über den dozierenden Ton, den er ungewollt angeschlagen hatte.
„Außerdem kriegt sie vielleicht mit, dass du dich beschwerst“, fügte er hinzu. „Bei Stress sieht die Haut noch schlechter aus.“ Aber Miriam verstand sowieso nichts.
Jan betrachtete seinen Litho-Stein. Die verblassenden Umrisse eines alten Entwurfs, vielleicht sollte er nicht alles wegschleifen. Die zartgelbe Lineatur wie Striae, wie die vielen Zeichen auf der hellen Haut des neuen Modells. Jan überlegte sich, wie er den Akt auf den Stein setzen könnte.
In der nächsten Zeichenstunde blieben seine Kommilitonen weg und Miriam schlich sich lieber nach draußen, um mit Blumenstrauß und empörtem Gesicht wieder aufzutauchen.
- Schau, was ich gefunden habe. Ein verlassener Garten mit den sonderlichsten Blumen.
Blumen wanderten in Marmeladegläser, in denen vorher Pinsel standen.
Sie zeichne lieber florale Schönheit.
Jan fand die Situation seltsam. Allein zwischen Frauen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Die eine nackt, die andere zeichnend. Miriam gab sich große Mühe, das Modell zu ignorieren, obwohl sie heimlich abschätzige Blicke zu ihm hinwarf, über die die Ältere großzügig hinweg sah. Jan fragte sich, ob sie wirklich so gelassen war.
In den nächsten Wochen gab es noch mehr Blumen im Atelier. Ein Blütenmeer und Miriam die Königin darin, Königin nicht nur über die Blumengläser. Miriam sonnte sich in Bewunderung, lauerte hinter ihrer Staffelei, großäugig, mit dichten, über den Augen zusammengewachsenen Augenbrauen, die sie beim Zeichnen noch strenger zusammenzog.
Jan dachte daran, wie Miriam auf dem Hochschulbalkon residierte und stets den einzigen Liegestuhl für sich beanspruchte. Und obwohl sich die anderen - eher unlustig - wieder am Aktzeichnen beteiligten, hatte Jan das Gefühl, dass auch sie das Modell nicht mochten. Und Miriam genoss die begehrlichen Blicke über ihren winzigen Hintern noch mehr als sonst.
Gerüche wie Sommer. Jan fiel Miriams Bemerkung ein. Dann würde es im Atelier duften. Nach Sommer und nicht nach Altenheim.
Die alten Modelle hätten Pippigeruch, meinte Miriam mit einem undefinierbaren Grinsen. Was bei den über Achtzigjährigen in Einzelfällen tatsächlich manchmal stimmte. Obwohl sich die Modelle, wie Jan wusste, vorher in der Hochschule duschten.
Miriam erzählte den anderen von einer Party. Das neue Modell sei plötzlich aufgetaucht, uneingeladen, mit ihrer blöden großen Tasche. Mit zwei komischen Zöpfen in ihrem schwarzen Indianerhaar und habe beinahe mit einem Mädchen geflirtet, dass den Zitronenduft, den die Alte über ihre Arme geschüttet hätte, nicht erkannt habe. Dabei war es nur Kölnisch Wasser.
Jan gefiel sie, diese riesige Rattantasche, aus der das Modell immer schöne Dinge zauberte, meist irgendwelche Esssachen, die sie in der Zeichen-Pause verteilte. Kekse, Orangen. Er freute sich schon immer darauf, stellte sie sich zuhause beim Backen vor. Die jungen Aktmodelle mochte er auch, sie waren quirlig, beweglich, hübsch, immer im Gespräch, immer eitel, was ihm durchaus gefiel. Aber die alte Indianerin hatte es ihm besonders angetan. Er fragte sich, was noch in ihrer Tasche war.
Jan tat es leid, dass die anderen später die Kekse in sich hineinstopften und über Miriams immer böser werdende Modellscherze lachten. Er wusste, dass Miriam sich schon beim Professor beschwert hatte über den „Pippigeruch“, aber eine Abfuhr erhalten hatte. Jan wusste, dass Miriam log.
Die Indianerin war anders, gepflegter als selbst die jungen Modelle. Wie gern würde er abends mit ihr ausgehen! Sie war nicht nur schön, sondern auch klug. Miriam ahnte, dass sie ihm nichts vormachen konnte und schaute ihn immer öfters warnend an. Er würde zum Präventivschlag ausholen müssen und er wusste, es gab genug, wovor sich Miriam fürchtete, nicht zu unrecht. Denn im Gegensatz zum Modell würde sie unschön altern.
Modellgespräche. In den Pausen bot er Angela, so hieß das Modell, Tee an, den sie meist dankbar annahm. Doch leider erfuhr er sonst nichts über sie. Er kannte jede Einzelheit ihres Körpers, liebte ihren schwarzen, schweren Zopf, der so aufreizend zwischen ihren Brüsten liegen konnte, als wollte sie ihn verlocken. Aber dennoch wusste er nicht, was sie sonst machte. Und vor allem nicht, wie alt sie war.
- Nein, sie würde ihr Alter nicht nennen, damals als Lehrerin hätte sie sich in einen jungen Mann verliebt, der auch mit ihr nach Hause gegangen wäre. Sie hätten miteinander geschlafen und alles wäre ganz wunderbar gewesen, er hätte aber in ihren Sachen gestöbert, Ausweise gefunden und wäre dann nie wieder zurückgekehrt.
Jan war es mittlerweile egal, wie alt sie war. Er fand sie einfach schön. Er mochte ihre Ruhe, ihre Weichheit, ihre Entspanntheit und wenn Miriam von der „schrecklichen“ Orangenhaut sprach, dachte er, wie wundervoll sich die so oft gezeichneten, kraftvollen Oberschenkel anfühlen mussten und Orangen waren ohnehin herrliche Früchte, süß, saftig, besonders die aus der großen Tasche.