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Opus Magnum
Wilde Bestien
Seit dem 23. Oktober 2005 hörte ich keine Musik mehr. Stattdessen lief ich jeden Morgen vor der Arbeit um die Außenalster, eine Strecke, die etwa siebeneinhalb Kilometer beträgt und gerade nachts von gleichmütiger Schönheit ist. Und ich las, so viele Romane, Gedichte und Erzählungen wie meine Zeit es mir erlaubte, in der U-Bahn, in der Mittagspause, manchmal sogar zu Fuß auf dem Weg Supermarkt.
Außerdem traf ich mich häufiger mit meiner Freundin, die mich, sooft wir uns nur sahen, so gründlich befriedigte wie sie es verstand.
Und als auch das nicht mehr genügte, besuchte ich die Kunsthalle und sah mir Bilder an. Bei dieser Gelegenheit lernte ich Yoshio kennen.
,,Sie mögen Andrè Derain?“, waren die Worte mit denen er mich ansprach.
Ich erwachte aus meinem Tagtraum, wandte mich um und erhaschte den flüchtigen ersten Eindruck eines adrett wirkenden Japaners.
,,Wie bitte?“
,,Andrè Derain. Landschaft bei Chatou. Sie starren darauf. Seit bestimmt zehn Minuten.“ .
Es nahm mich für ihn ein, dass er mich siezte, obwohl ich erst Anfang Zwanzig und er offensichtlich nur ein paar Jahre älter war. Es verlieh unserer Begegnung einen gewissen Glanz, als wären wir bereits gestandene Persönlichkeiten. Ich suchte nach der Bildunterschrift und trat einen Schritt näher heran, um sie entziffern zu können. Tatsächlich.
,,Ja…“
Noch einmal betrachtete ich das Ölgemälde. Es zeigte den Ausschnitt einer verschwommenen französischen Landschaft im Licht der Dämmerung. Einige weiße Häuser mit roten Dächern waren hineingewürfelt worden, zwei der größeren muteten wie kleine Dorfkirchen an. Seit zehn Minuten also malte ich mir aus dort einzuziehen.
,,Anscheinend mag ich Andrè Derain“.
Yoshio lächelte. Andrè Derain wäre einer der Hauptvertreter des Fauvismus gewesen, erklärte er mir, einer avantgardistischen Kunstbewegung Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, die ihren ganz und gar unpassenden Namen vom französischen Wort ,,Fauves“, ,,wilde Bestien“, ableitete.
,,Als Laie erkennt man sie vor allem an den leuchtenden Farben“, sagte Yoshio,
,,eine Art Tabubruch zur damaligen Zeit“.
Bis heute bin ich kein Kenner der bildenden Kunst und kaum in der Lage, ein Werk seiner Qualität nach zu beurteilen. Yoshio aber war Grafikdesigner, ein erfolgreicher sogar, und beschäftige sich den ganzen Tag mit Farben und Formen. Er hatte auf einer Privatuniversität in Österreich studiert und mit Auszeichnung abgeschlossen, nach nur einem Jahr Beschäftigung in einer Werbeagentur machte er sich selbstständig und bekam regelmäßig Aufträge, manchmal von größeren Firmen. Darüber hinaus liebte er die Malerei, so manches seiner Gemälde, die meisten waren im kubistischen Stil, verkaufte sich für einen ansehnlichen Preis an Kunstsammler, die ein Schnippchen schlagen wollten und in junge Künstler investierten, deren Bilder im Wert stiegen.
Sein leidenschaftliches, eloquentes Dozieren empfand ich schon damals als mitreißend, er besaß jenes Feuer von Begeisterung, dessen Funke sofort auf andere Menschen übersprang und sich dort entzündete. So ließ ich mich gern von ihm durch den Rest der Ausstellung führen; ich bemerkte sogar, dass andere Besucher sich unserem Tempo anglichen, um in Hörweite zu bleiben, und vor allem junge Frauen, häufig auch elegante Männer, ihm dabei ebenfalls sehr entzündliche Blicke zuwarfen. Yoshio sah gut aus, er war schlank und wohlproportioniert, hatte eine ausdrucksstarke Mimik, die er ausgesprochen fein justieren konnte, ein mutiges Kinn und blendend weiße Zähne. Seine Kleidung war sorgfältig ausgewählt und stand ihm ausgezeichnet, selbst in Trainingshose und abgewetzten Laufschuhen war er chic. Außerdem besaß er die Fähigkeit alle Tätigkeiten, die ihn begeisterten, in einen erotischen Sport zu verwandeln, seine Anleitung machte uns zwei Undercut- und Sakkoträger zur männlich-intellektuellen Avantgarde. Seltsamerweise schien er sich aus den schmachtenden Blicken nicht viel zu machen.
,,Ich bin wegen der Kunst hier“, echauffierte er sich einmal in der Nationalgalerie von Berlin über zwei Mädchen, die mit ihren allzu vordergründig kunstbezogenen Fragen seine Nerven strapaziert hatten,
,,nicht wegen der schönen Aussicht.“
Ich lachte über seine gespielte Empörung, auch wenn ich seine strikte Abweisung bedauerte, denn auch mir hatten die beiden hübschen Damen hoffnungsvolle Blicke zugeworfen.
An einem sonnigen Aprilnachmittag, an dem wir uns einstimmig gegen die Kunst entschieden hatten und stattdessen draußen in einem alsternahen Café saßen, fragte ich ihn beiläufig, ob er in festen Händen sei. Gedankenverloren starrte er in seinen Milchschaum und legte beide Hände um die gewaltige Tasse, als wollte er ihr die Ohren zuhalten. Dann schüttelte er den Kopf.
,,Nein“, sagte er, mehr zu seinem Cappuccino als zu mir,
,,es gibt keine sexuelle oder romantische Beziehung, die mich befriedigen könnte.“ Er blickte auf und schaute mich prüfend an, anscheinend erwartete er irgendeine Reaktion. Doch ich hielt schweigend seinem Blick stand und wartete darauf, dass er fortfuhr.
,,Techtelmechtel interessieren mich nicht mehr. Ich lebe vor allem für die Kunst und die Musik. Und dank dir, mein Lieber“, wieder sah er mir in die Augen,
,, seit einiger Zeit auch für die Literatur. Franz Kafka ist fabelhaft. Auch kaum berührte Natur macht mir Spaß, Island zum Beispiel ist atemberaubend, oder ein schönes Glas Chateau Pavie. Aber das Beste für mich ist, die schönen Dinge dieser Welt mit jemandem zu teilen, der sich auf seine Weise genauso nach ihnen verzehrt wie ich. Dass das auf dich zutrifft, habe ich sofort gesehen. Ich habe eine gute Intuition.“
Er lächelte und schenkte mir einen anerkennenden Blick.
,,Du bist nicht wie die anderen, Kindermenschen nennt Hermann Hesse sie, in Narziss und Goldmund glaube ich.“
Ich bestätigte nickend und trank einen Schluck Heineken.
,,Die ins Leben geworfen werden und sich anpassen, bis sie sterben, ohne einmal einen Blick hinter die Fassade geworfen zu haben, die Ich beneide und bemitleide. Du weißt doch, was ich meine?“
Ich glaubte es zu wissen und nickte erneut ab.
,,Ich meine, auch ich habe mich eingegliedert. Ich war schon immer beliebt, in der Schule, an der Uni, in meinem Job… aber in meinem Inneren wusste ich, dass sich eine wachsende Kluft zwischen mir und meinen Mitmenschen auftat. Sie hatten etwas, das mir fehlte, eine Selbstverständlichkeit, eine Unbefangenheit in ihrem Handeln, und überhaupt in ihrem ganzen Dasein, die sie selbstbewusst machte, häufig völlig ohne jede Berechtigung.“ Er verzog die Mundwinkel.
,,Aber der Zugang zu den wirklich bedeutsamen Dingen, die diese Welt hervorgebracht hat, dem Opus Magnum gewissermaßen, bleibt ihnen verwehrt, ohne dass sie das Gefühl haben, ihnen fehlte etwas.“
Er verstummte und nahm einen Schluck Kaffee. Dann wechselte er das Thema und fragte, ob ich die ,,Black Keys“ kennen würde, einer Zwei-Mann-Bluesrockband, die in diesem Jahr ihr bisher erfolgreichstes Album veröffentlicht hätten, die wohl beste Rockmusik die zur Zeit produziert werden würde.
,, Vage“, sagte ich.
,,Die solltest du dir unbedingt anhören“, sagte er,
,,vor allem bei dem ganzen Scheiß der gerade produziert wird ist es ganz besonders wichtig, ein wenig Energie auf die Suche nach guten, aktuellen Bands zu verwenden. Hört man nur alte Sachen, kippt man irgendwann aus der Welt, so geht’s zumindest mir. Man darf den Anschluss nicht verpassen, sonst lebt man irgendwann in seiner ganz eigenen Zeit und lässt niemanden mehr hinein.“
Er sah sich um, als wollte er sich vergewissern, dass wir noch in derselben Zeit lebten. Eine junge, gelockte Kellnerin kritzelte am Nachbartisch in anmutiger Pose eine Bestellung in ihren Block. Eine sanfte Brise ließ ihre gewaltigen Ohrringe schaukeln und die kurzen Hemdsärmel ihres Gastes flattern. Er war alt und verformt, die Zeit schien die Hälften seines Gesichts in unterschiedliche Richtungen zu treiben. Ich gab meinem Herzen einen Stoß.
,,Da magst du Recht haben“, sagte ich,
,,aber ich höre keine Musik.“
Yoshio, der gerade dabei war, den traditionell zum Kaffee servierten Keks aus seiner Plastikbehausung zu schälen, hielt inne und blickte mich irritiert an.
,,Was meinst du damit, du hörst keine Musik?“
,,Eben genau das. Ich höre keine Musik.“
Yoshios wohlgeformtes Gesicht kündete von totaler Konfusion.
,,Gar keine Musik? Ich meine, jeder hört doch irgendwas. Vor allem ein Schöngeist wie du“.
,,Nein, wirklich überhaupt gar keine Musik. Nicht einmal Radio.“
Und als die fassungslose Stille mir keinen Spaß mehr machte, fügte ich gnädig hinzu:
,,Nicht mehr“.
Yoshio musterte mich aufmerksam.
,,Seit wann nicht mehr?“
,,Seit dem 23. Oktober 2005“.
Die Genauigkeit meiner Antwort schien ihm, verständlicherweise, für einen Moment die Sprache zu verschlagen. Er begann, mit zwei Fingern auf der Tischplatte herum zu trommeln. Ich konnte seinen Verstand arbeiten hören.
,,Ich nehme an, dass an diesem Datum irgendetwas passiert ist, das auf welche Art auch immer einen Keil zwischen dich und die Musik getrieben hat?“
,,So könnte man es sagen.“
Ich überlegte. Yoshio war der erste, dem ich diese skurrile Angelegenheit anvertraute, und ich wollte sie möglichst authentisch schildern.
,,Aber du darfst nicht denken, ich hätte ich mich an diesem Tag bewusst gegen die Musik entschieden“, fügte ich hinzu,
,,die Wahrheit ist, dass ich seit diesem Tag keine Musik mehr mag. Sie gefällt mir einfach nicht mehr.“
Yoshio schien in meinem Gesicht nach einem versteckten Code zu suchen, ohne eine Variable zu finden.
,,Und was für Musik hast du vor diesem verhängnisvollen Tag gehört?“
,,Jede Menge.“
Ich begann aufzuzählen.
,,Folk, Rock und Blues aus den Sechzigern und Siebzigern, manchmal auch Indie und Britpop, ein bisschen New Wave, Punk und Grunge, und auch elektronische Musik, Triphop und so was. Hin und wieder auch Klassik oder Jazz.“
Yoshios Blick wurde noch bohrender und ließ dann nach.
,,Verstehe“, sagte er. Ruhig nahm er einen Schluck Kaffee, ohne mich aus den Augen zu lassen. Am Nebentisch wurde Rotwein serviert.
,,Ich wage es nicht, dich jetzt zu fragen. Ich spüre, dass dies noch nicht der richtige Zeitpunkt ist.“
Er machte eine Pause, wie um das Gewicht seiner Worte zu prüfen.
,,Aber wirst du mir vielleicht eines Tages erzählen, was an diesem 23. Oktober im Jahre 2005 passiert ist?“
,,Eines Tages bestimmt.“
Ich wurde kühn.
,,Sobald du mir erzählst, welches Verlangen du so schmerzlich mit den schönen, aber letztendlich sinnlosen Dingen dieser Welt zu begraben versuchst.“
Der Wind wurde heftiger und blies ihm das schwarze Haar aus der Stirn. Für einen Moment hatte er den Atem angehalten, seine Brust war plötzlich in der Bewegung erstarrt. Auch als er ausatmete, blieb sein Körper regungslos, seine Augen sahen nach wie vor in meine. Es war das erste Mal, dass ich ihn so ertappt vor mir sah, und Zuneigung ergriff mich mit sanften Fingern. Ich befürchtete schon, seine Schale zu forsch durchbrochen zu haben, als er langsam nickte.
,,Okay“, sagte er leise.
Obwohl er nie Zucker in seinen Kaffee tat, nahm er eines der länglichen Tütchen zwischen Daumen- und Zeigefinger und schüttelte es smart aus dem Handgelenk, solange bis die Bewegung allmählich an Finesse verlor und eher pathologisch wirkte, dann legte er sie ungeöffnet auf die Untertasse zurück. Stattdessen trank er einen großen Schluck Kaffee und nahm das eingeschweißte Plätzchen wieder zur Hand. Dann schien sich eine Rolle in ihm zu wechseln, und seine Haltung gewann an Spannkraft zurück.
,,Und du hörst wirklich niemals Musik?“, fragte er.
Das Fenster zu seinen Geheimnissen schien sich geschlossen zu haben, und ich war geduldig genug, es heute nicht mehr zu öffnen. Ich schüttelte den Kopf.
,,Nein, niemals, es sei denn, ich kann es nicht vermeiden. Ich besuche bevorzugt Cafés und Kneipen, in denen nur leise oder im besten Fall gar keine Musik gespielt wird, ein Radio besitze ich nicht, da ich kein Auto fahre ist das auch nicht notwendig. In Clubs gehe ich ohnehin nicht mehr, und auf Konzerte selbstredend auch nicht.“
,,Und wenn es sich einmal nicht vermeiden lässt und du dich irgendwo aufhalten musst, wo Musik gespielt wird? Ist es dann unerträglich für dich?“
Ich verneinte erneut.
,,Es ist eher wie bei störenden Umgebungsgeräuschen. Irgendwann gewöhnst du dich daran. Wer eine Weile in einer Großstadt wohnt, den wird der Lärm von Autos und Zügen bald auch nicht mehr stören. So ist es auch bei mir und der Musik.“
Yoshio machte ein Gesicht, als fiele ihm etwas Wichtiges ein.
,,Du hast dem Straßenmusiker auf dem Weg hierher ganze drei Euro in seinen Gitarrenkoffer geworfen, das habe ich gesehen“.
Lächelnd nickte ich.
,,Das mache ich immer. Aus Solidarität, ich habe früher selbst Gitarre in eine Band gespielt. Ich wollte sogar Berufsmusiker werden.“
Yoshio warf den Keks fort und holte eine Packung Benson & Hedges aus seiner Hosentasche.
,,Du bist wirklich verschroben“, sagte er und steckte sich eine an, ich schirmte sein Feuer mit den Händen ab. Er ließ den Rauch langsam durch die Nase entweichen, dann sagte er:
,,Das ist es, was feste Bindungen aus dir machen“.
Ich ließ ihm die Bemerkung durchgehen, lehnte mich in meinem Stuhl zurück und betrachtete die anderen Gäste. Der Mann am Nebentisch schien noch älter geworden zu sein. Vielleicht leben wir tatsächlich alle in verschiedenen Zeiten, dachte ich bei mir.