Mitglied
- Beitritt
- 29.08.2013
- Beiträge
- 15
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Opportunikus
Es war kurz vor 5, an einem Samstagmorgen, als Lehmann, träge und verschlafen, sein Haus verließ. Er trug einen zerrissenen, schwarzen Pullover, dessen Kapuze er sich tief ins gähnende Gesicht zog. Er zitterte vor Kälte und Müdigkeit. Lehmann war auf dem Weg zur Arbeit, die er vorwiegend am Wochenende, neben der Schule ausübte.
Er arbeitete in der Kantine des städtischen Krankenhauses und er hasste seinen Job seit dem ersten Tag, an dem er sich dazu gezwungen sah. Geistlose Bandarbeit hatte in seinen Augen nur einen entscheidenden Vorteil: Man musste sich keine Mühe geben. Man musste nicht um seinen Job bangen, da er ersetzbar war und schon gar nicht mitdenken. Mit diesen Gedanken holte er eine weiß glänzende Tüte hervor und zündete sie unter einer flackernden Straßenlaterne an. In ein paar Minuten übertönte die Müdigkeit alles andere und legte einen verträumt apathischen Schleier über die schlafende Stadt. Lehmann musste gähnen.
Würde er noch bei seiner Mutter leben, hätte er die Arbeit nicht nötig. Er müsste nicht jedes Wochenende dem Verdienst opfern und nicht wie so oft freitags oder montags ins Krankenhaus anstatt in die Schule gehen, um die Miete aufbringen zu können.
Und doch nahm Lehmann das alles bereitwillig in Kauf, büßte hier und da einen Schultag ein, an dem, wie so oft, eh nichts Sinnvolles passiert wäre um auf Biegen und Brechen selbstständig zu sein, auch wenn sein Alter etwas anderes vermuten ließ. Er hätte noch viel mehr in Kauf genommen, um von seiner Mutter Abstand zu nehmen, von den ständig wechselnden, nach Brand und Billigzigaretten stinkenden Versagern, die sie ihre Männer schimpfte und von der Notwendigkeit alle paar Wochen wie ein nasser Sack hinter ihr in die nächste Stadt, die nächste Wohnung und die nächste Schule geschliffen zu werden.
Dermaßen in Gedanken versunken, kam Lehmann erst am Eingang des Krankenhauses wieder zu sich und schmiss eilig den mittlerweile auf gerauchten Tütenstummel ins Gebüsch.
Die Kantine befand sich im Keller des Krankenhauses. Neben den Köchen waren hier vor allem Ausländer, Schüler oder behinderte Menschen beschäftigt. Jeder der sich nicht beschwerte angesichts eines Stundenlohns von sieben Euro fünfzig bei einer Arbeit, die oft genug in Akkord überging.
Quer durch die Großküche verlief ein Förderband, auf dem die einzelnen Essenstabletts an mehreren Posten vorbei gezogen wurden. Jeder Posten war von einem Arbeiter besetzt, der einen bestimmten Teil des Menüs abdeckte. Für die Angestellten bedeutete das ein Repertoire aus vier oder fünf Handbewegungen, die täglich bis zum Erbrechen wiederholt wurden.
Allein der Gedanke an den bevorstehenden Tag verdarb Lehmann die Laune.
*****
Die nächsten Stunden zogen sich endlos und träge, wie das langsam vor sich hinlaufende Kantinenband an Lehmann vorbei. Eine schier endlose Kette an Tabletts, dieselben verschlafenen Gesichter, dieselben Menüs und dieselben Handbewegungen. Pfefferminztee – ein Schritt nach links und ein Griff in den dafür vorgesehenen Behälter, dann die Tasse auf das Tablett stellen. Kaffee – eine Drehung um 180 grad und ein Griff in den dafür vorgesehenen Behälter, Päckchen aufreißen und in die Tasse kippen - Instantkaffee zum Aufgießen. Multivitaminsaft – machte irgendwer anders – ein paar Sekunden Pause.
Als Lehmann den Blick wieder einmal aus Langeweile durch die Küche schweifen ließ, blieb er unbeabsichtigt an einem Posten hängen.
Am Bandanfang, wo vor fünf Minuten noch eine ältere, bullige Frau mit russischem Akzent stand, stand nun jemand anderes. Sie war scheinbar aus dem nichts aufgetaucht. Vermutlich hatte Lehmann vor lauter Müdigkeit den Wechsel verpasst.
Sie war etwas kleiner als er und trug die blond gefärbten Haare in einem Zopf, der etwas schräg, vermutlich unbeabsichtigt, von ihrem Hinterkopf abstand. Sie hatte große verträumte Augen, die, etwas in die Länge gezogen, ihrem Gesicht ein leicht asiatisches aussehen verliehen. Sie bewegte sich langsam und unsicher, war offensichtlich noch nicht an die Arbeit gewohnt. In den weißen Arbeitsklamotten sah sie aus wie ein Vogel, der weder aller Logik in Papier gewickelt wurde.
Eine Weile starrte Lehmann nur verplant vor sich her, während die Tabletts unbeachtet an ihm vorbeizogen, dann trafen sich ihre Blicke. Sie lächelte und widmete sich wieder ihrer Arbeit, als Lehmann sich wieder fing und zögernd "Stopp, bitte" rief, damit die Vorarbeiterin das Band anhielt. Hastig holte er die verpassten Tabletts nach. Als er wieder hochschaute trafen sich ihre Blicke erneut und das Mädchen musste immer noch lächeln, wenigstens etwas.
"Weiter, bitte."
*****
Sie hatte sich als Sina vorgestellt und war ein Jahr jünger als Lehmann. Nach der Arbeit verließen sie zusammen das Krankenhaus und machten sich auf den Heimweg durch den anliegenden Park. Sie hatte mit ihrer verträumten Art von Anfang an einen bekannten Eindruck hinterlassen. Er fühlte sich von Anfang an zu ihr hingezogen. Mit ihr ließ sich wunderbar über die Arbeit lästern.
"Klar ist es mies, aber wieso arbeitest du dann gerade hier?" Sie zündete eine Kippe an und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Die Sonne blendete sie also musterte sie Lehmann mit leicht zugekniffenen Augen.
"Es ist schwer einen Job zu finden, solange man noch minderjährig ist, wenn man keine Zeitungen austragen oder Flyer verteilen will", er schaute sie an, "Muss ich dir glaub ich nicht erzählen."
"Nee ... ich hab nicht viel gesucht", nach einer kurzen Pause, "mein Onkel war hier mal, von dem weiß ich das."
Eine Weile liefen sie nur nebeneinander her. Sie hatte es nicht eilig und ließ den verträumten Blick durch den sonnigen Park schweifen. Ihre gemächliche Art war eine der vielen Kleinigkeiten, die Lehmann eine Kifferin in ihr vermuten ließen.
"Muss echt scheiße sein hier auch in der Woche hin zu müssen." Sie zog das "i" in scheiße in die länge, sodass ein ansonsten plattes Schimpfwort melodisch, wie gesungen klang. "Voll die Quälerei!"
"Muss aber sein, ich krieg sonst die Miete nicht zusammen."
"Scheiiiße ... ", sie schaute ihn fragend an, "gerade für junge Menschen gibt es Hilfe. Du könntest Zuschüsse kriegen."
"Ich will aber keine Zuschüsse. Ich bin 17 Jahre alt und kann für mich alleine sorgen, anstatt mein Harz 4 im betreuten Wohnen zu versaufen." Lehmann klang wütend, obwohl es gar nicht so gemeint war.
Sie erwiderte nichts und schaute nur geknickt nach unten. Mit einem Mal wirkte sie noch viel kleiner, beinahe hilfsbedürftig. Ihr bloßer Anblick weckte Mitleid und ließ ihn sich wundern, ob er etwas Falsches gesagt hatte. Er kam ins Stocken, suchte vergeblich nach Augenkontakt und versuchte sie schließlich wieder in ein Gespräch zu verwickeln: "Und ... wie kommst du zu den Tablettschiebern?"
Eine Weile sagte sie nichts, dann schaute sie ihn mit ihren großen, verwirrten Augen an und ließ ein kleinlautes "Mit dem Bus?" auf ihn los. Er musste grinsen, es steckte sie an.
"Nene ich meinte wieso. Also ob du hier rauf angewiesen bist oder nur etwas dazuverdienst."
"Ahso, ne. Ich verdien nur was für mich, das Taschengeld aufbessern." Sie blieb stehen und schaute ihn ernst an. Es kam unerwartet, der strenge Blick stand ihr nicht und wirkte beinahe albern. Lehmann blieb ebenfalls mit fragender Miene stehen. "Kann ich dich was fragen?"
Er hatte alles erwartet nur nicht diese Frage: "Wieso klaust du essen?" Sie deutete auf seinen Rucksack, darin ein viertel Liter Schlagsahne in 10g Päckchen und einige andere Lebensmittel aus dem Krankenhaus.
"Naja ich ... sorg halt für mich allein." Bei den Worten musste Lehmann lächeln und auch sie konnte nicht länger ernst bleiben und verfiel in ihr altbekanntes verstrahltes Grinsen.
Wieder schwiegen sie eine weile, bis Lehmann sagte: "Aber im Ernst ... ich koche eine tolle Tomatensuppe ..." Er machte eine kurze Pause und sagte es dann doch: "Sie besteht zwar fast nur aus Tomatenmark und Schlagsahne, aber die solltest du trotzdem unbedingt mal probieren ..."
*****
Es war Freitag. Fast eine Woche war vergangen. Nach der Arbeit drehte Lehmann eine Runde durch den Krankenhauspark um wie sooft auf Budi, einen Freund, zu treffen.
Als der Jugendliche, gemütlich auf einer Parkbank sitzend, Lehmann erblicke, lehnte er sich zügig vor und schickte ein lautes, heiteres "Moinsen!" durch den halben Park. "Sven war grad noch hier, hast ihn knapp verpasst." Budi trug eine neongelbe Basecap, verwaschene, schwarze Jeans und ein T-Shirt mit aufgedrucktem Simpsonsmotiv: Homer Simpson, wie er verträumt den Rand seines leeren Bierglases liebkoste.
"Kanns sein, dass du dich seit gestern nicht vom Fleck bewegt hast?" Lehmann hatte einen ehrlich fragenden Ausdruck im Gesicht, mit den Jahren war die Frage zum Running Gag geworden. "Joah ...", antwortete Budi mit verstellt hoher Stimme, der Stimme seiner Mathe-Lehrerin, "Schule kann schon ganz schön hart sein!" Lehmann musste lachen und Budi rief zufrieden: "Besonders, wenn so geiles Wetter ist!", und reichte ihm dabei eine halb aufgerauchte Tüte.
Sie saßen eine Weile lang da und unterhielten sich über Schule und Arbeit, Budis Stiefvater und Lehmanns Mutter, bis das Gespräch stockte.
Budi verfiel in unkontrolliertes Gelächter. Völlig losgelöst wieherte er durch den ganzen Park, während Lehmann missmutig versuchte Augenkontakt herzustellen. "Sina? Sina Neuhöffer?" Budi hatte Tränen in den Augen und musste sich sichtlich zusammenreißen.
"Jaja ... die arbeitet mit mir zusammen in der Kantine. Aber ich versteh nicht ganz was daran ... "
Energisch und mit tiefem Ernst in der Stimme rief Budi: "Junge, du hast dich an einem Krüppel vergriffen, du Arschloch!", musste aber wieder lachen, sobald er das Wort "Krüppel" ausgesprochen hatte und setzte noch einen drauf: "Ihre Mutter kennt meine Mom und ich sie auch n bisschen, war früher mit ihr auf einer Schule. Sie hat das Downsyndrom. Soll ja nicht allzu schlimm sein slightly retarded – bisschen Behindert halt, aber alter, das sieht man doch ... sie ist ein Spast."
Lehmann atmete laut aus und ließ ein gedämpftes "Als ob?" vernehmen. Er wirkte geknickt. Mit einem Mal bereute er das Gespräch. Nach einer kurzen Pause sagte er im gewohnten Ton: "Downsyndrom, ehrlich?"
"Einhundertprozentig, also, dass sie ganz offiziell behindert ist. Nicht einhundertprozentig schwerbehindert. Lass es 50% sein oder so, keine Ahnung. Hat auf jeden Fall einen ganz offiziellen Behindertenausweis ...", Budi schaute ihn eine weile lang belustigt an, "Spasti, halt ... schon echt brutal von dir, allein die Vorstellung dieses verpeilte, verwirrte Mädchen zu ..."
"Sie macht übrigens gerade ihr Abi.", Lehmann war sichtlich genervt, "Und wenn ich ihrer Zukunftsplanung glaube gibt es anscheinend auch Spastis, die auf Unis gehen. Du, mein Freund, bist ein Jahr älter und hinkst ihr trotzdem eine Klasse hinterher. Wie kann es sein, dass der Spasti besteht und du sitzen bleibst?"
"Vermutlich macht sie den ganzen Tag nix anderes als Lernen und schafft damit gerade so auf Biegen und Brechen ein voll beschissenes Abi ... mit Lernbegleitern ... beim dritten Versuch ...", Budi lachte wieder kurz auf, "... stell sie dir nur mal als Chirurgin vor ... oder Pilotin!"
"Ganz ehrlich sie ist nicht dumm. Naiv vielleicht, aber klüger als die meisten, klüger als du."
"Willst du sie im betreuten Wohnen besuchen und es ihr persönlich sagen? Wirkt dann gleich viel glaubwürdiger."
"Leck mich!"
"Spast!" Budi schnippte einen aufgerauchten Tütenstummel ins Gebüsch und stand auf. "Du kannst dich rechtfertigen solange du willst aber Spast ist nun mal Spast. Ich könnt den anderen danach nicht in die Augen sehen. Ich mein sie sieht ja schon halbwegs geil aus aber ... im Ernst. Du bist ein krasser Typ ... echt krass, was du da rausholst."
Er stellte sich grinsend vor Lehmann und reichte ihm die Hand "Echt heftigst tolerant, das muss man dir lassen. Ich schreib jetzt Sowi. Wünsch mir Glück. Und lass die Finger von den Spastis."
"Jaja ... verkacks nur nicht schon wieder."
Lehmann blieb noch lange nach dem Budi seine Klausur beendet hatte auf der Parkbank und dachte nach.
*****
Sina saß im Krankenhauspark. Es war kurz vor fünf an einem Samstagmorgen. Sie rauchte und wartete auf Lehmann, während sie nervös auf ihrer Unterlippe kaute. Als sie ihn erblickte, durchzuckte ein kurzes Funkeln den ansonsten so verträumten Blick.
"Hey Pfirsich" sie umarmte ihn und kniff dabei kurz die Augen zu. "Hab dich gestern vermisst, du wolltest anrufen", sie musterte ihn mit leicht geneigtem Kopf und wartendem Ausdruck. Lehmann stand nur da, unbeweglich wie eine Litfaßsäule. Sie hatte immer noch die Arme um ihn geschlungen.
"Ja ich konnte doch nicht." Die Worte klangen gedämpft und kamen wie von selber, ohne über sie nachzudenken.
"Wieso?" Sie lächelte und was gestern noch süß und naiv gewirkt hätte, war mit einem Mal plump und unbeholfen. Der verwirrte Blick, die tollpatschigen Bewegungen, die dünne, hohe Stimme, ihre langsame Art ...
"Hab mich mit einem Freund getroffen. Budi, der kennt dich noch von früher, du erinnerst dich vielleicht."
Sinas Hände glitten nach unten und der Blick wurde ernst, das Lächeln verging und ihre glasigen Augen blickten traurig in Lehmanns Gesicht. "Ja den kenn ich ... dass der Typ Freunde hat ..."
Lehmanns Mundwinkel verzogen sich zu einem gequälten lächeln, dann wurde seine Miene wieder ernst und ausdruckslos, während er über die richtigen Worte nachdachte. Anscheinend kam nichts dabei zustande, denn er hörte sich selbst nur "Wieso hast dus nicht erzählt?" sagen.
Zunächst brachte es sie durcheinander, dann verstand sie, ging einen Schritt zurück und sagte mit zittriger Stimme: "Soll ich alle vorwarnen?"
"Nein, aber mich ... zumindest ab einem bestimmten Punkt ... "
"Ist es denn so wichtig?" Sie klang wütend und musste aufschluchzen. Sie wirkte wie ein verstörtes Kind, mitleiderregend.
Es fiel Lehmann schwer Augenkontakt zu halten. Er schaute immer wieder nach unten bevor er "Ja ist es." sagte.
Sie blickte mit weit aufgerissenen Augen in sein Gesicht, dann fing sie an zu weinen. Als er das sah, kriegte er einen Kloß im Hals und wollte nur noch weg.
Lehmann ging nicht zur Arbeit und ließ das Mädchen im Park zurück, versuchte nicht einmal sie zu beruhigen. Er schämte sich dafür, nicht besser damit umgehen zu können, nicht einfach darüber hinwegzusehen, überhaupt darüber hinwegsehen zu müssen.
Die beiden sprechen seit dem nicht mehr miteinander.