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Opportunikus

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29.08.2013
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Opportunikus

Es war kurz vor 5, an einem Samstagmorgen, als Lehmann, träge und verschlafen, sein Haus verließ. Er trug einen zerrissenen, schwarzen Pullover, dessen Kapuze er sich tief ins gähnende Gesicht zog. Er zitterte vor Kälte und Müdigkeit. Lehmann war auf dem Weg zur Arbeit, die er vorwiegend am Wochenende, neben der Schule ausübte.

Er arbeitete in der Kantine des städtischen Krankenhauses und er hasste seinen Job seit dem ersten Tag, an dem er sich dazu gezwungen sah. Geistlose Bandarbeit hatte in seinen Augen nur einen entscheidenden Vorteil: Man musste sich keine Mühe geben. Man musste nicht um seinen Job bangen, da er ersetzbar war und schon gar nicht mitdenken. Mit diesen Gedanken holte er eine weiß glänzende Tüte hervor und zündete sie unter einer flackernden Straßenlaterne an. In ein paar Minuten übertönte die Müdigkeit alles andere und legte einen verträumt apathischen Schleier über die schlafende Stadt. Lehmann musste gähnen.

Würde er noch bei seiner Mutter leben, hätte er die Arbeit nicht nötig. Er müsste nicht jedes Wochenende dem Verdienst opfern und nicht wie so oft freitags oder montags ins Krankenhaus anstatt in die Schule gehen, um die Miete aufbringen zu können.

Und doch nahm Lehmann das alles bereitwillig in Kauf, büßte hier und da einen Schultag ein, an dem, wie so oft, eh nichts Sinnvolles passiert wäre um auf Biegen und Brechen selbstständig zu sein, auch wenn sein Alter etwas anderes vermuten ließ. Er hätte noch viel mehr in Kauf genommen, um von seiner Mutter Abstand zu nehmen, von den ständig wechselnden, nach Brand und Billigzigaretten stinkenden Versagern, die sie ihre Männer schimpfte und von der Notwendigkeit alle paar Wochen wie ein nasser Sack hinter ihr in die nächste Stadt, die nächste Wohnung und die nächste Schule geschliffen zu werden.

Dermaßen in Gedanken versunken, kam Lehmann erst am Eingang des Krankenhauses wieder zu sich und schmiss eilig den mittlerweile auf gerauchten Tütenstummel ins Gebüsch.

Die Kantine befand sich im Keller des Krankenhauses. Neben den Köchen waren hier vor allem Ausländer, Schüler oder behinderte Menschen beschäftigt. Jeder der sich nicht beschwerte angesichts eines Stundenlohns von sieben Euro fünfzig bei einer Arbeit, die oft genug in Akkord überging.

Quer durch die Großküche verlief ein Förderband, auf dem die einzelnen Essenstabletts an mehreren Posten vorbei gezogen wurden. Jeder Posten war von einem Arbeiter besetzt, der einen bestimmten Teil des Menüs abdeckte. Für die Angestellten bedeutete das ein Repertoire aus vier oder fünf Handbewegungen, die täglich bis zum Erbrechen wiederholt wurden.

Allein der Gedanke an den bevorstehenden Tag verdarb Lehmann die Laune.


*****


Die nächsten Stunden zogen sich endlos und träge, wie das langsam vor sich hinlaufende Kantinenband an Lehmann vorbei. Eine schier endlose Kette an Tabletts, dieselben verschlafenen Gesichter, dieselben Menüs und dieselben Handbewegungen. Pfefferminztee – ein Schritt nach links und ein Griff in den dafür vorgesehenen Behälter, dann die Tasse auf das Tablett stellen. Kaffee – eine Drehung um 180 grad und ein Griff in den dafür vorgesehenen Behälter, Päckchen aufreißen und in die Tasse kippen - Instantkaffee zum Aufgießen. Multivitaminsaft – machte irgendwer anders – ein paar Sekunden Pause.

Als Lehmann den Blick wieder einmal aus Langeweile durch die Küche schweifen ließ, blieb er unbeabsichtigt an einem Posten hängen.

Am Bandanfang, wo vor fünf Minuten noch eine ältere, bullige Frau mit russischem Akzent stand, stand nun jemand anderes. Sie war scheinbar aus dem nichts aufgetaucht. Vermutlich hatte Lehmann vor lauter Müdigkeit den Wechsel verpasst.

Sie war etwas kleiner als er und trug die blond gefärbten Haare in einem Zopf, der etwas schräg, vermutlich unbeabsichtigt, von ihrem Hinterkopf abstand. Sie hatte große verträumte Augen, die, etwas in die Länge gezogen, ihrem Gesicht ein leicht asiatisches aussehen verliehen. Sie bewegte sich langsam und unsicher, war offensichtlich noch nicht an die Arbeit gewohnt. In den weißen Arbeitsklamotten sah sie aus wie ein Vogel, der weder aller Logik in Papier gewickelt wurde.

Eine Weile starrte Lehmann nur verplant vor sich her, während die Tabletts unbeachtet an ihm vorbeizogen, dann trafen sich ihre Blicke. Sie lächelte und widmete sich wieder ihrer Arbeit, als Lehmann sich wieder fing und zögernd "Stopp, bitte" rief, damit die Vorarbeiterin das Band anhielt. Hastig holte er die verpassten Tabletts nach. Als er wieder hochschaute trafen sich ihre Blicke erneut und das Mädchen musste immer noch lächeln, wenigstens etwas.

"Weiter, bitte."


*****


Sie hatte sich als Sina vorgestellt und war ein Jahr jünger als Lehmann. Nach der Arbeit verließen sie zusammen das Krankenhaus und machten sich auf den Heimweg durch den anliegenden Park. Sie hatte mit ihrer verträumten Art von Anfang an einen bekannten Eindruck hinterlassen. Er fühlte sich von Anfang an zu ihr hingezogen. Mit ihr ließ sich wunderbar über die Arbeit lästern.

"Klar ist es mies, aber wieso arbeitest du dann gerade hier?" Sie zündete eine Kippe an und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Die Sonne blendete sie also musterte sie Lehmann mit leicht zugekniffenen Augen.

"Es ist schwer einen Job zu finden, solange man noch minderjährig ist, wenn man keine Zeitungen austragen oder Flyer verteilen will", er schaute sie an, "Muss ich dir glaub ich nicht erzählen."

"Nee ... ich hab nicht viel gesucht", nach einer kurzen Pause, "mein Onkel war hier mal, von dem weiß ich das."

Eine Weile liefen sie nur nebeneinander her. Sie hatte es nicht eilig und ließ den verträumten Blick durch den sonnigen Park schweifen. Ihre gemächliche Art war eine der vielen Kleinigkeiten, die Lehmann eine Kifferin in ihr vermuten ließen.

"Muss echt scheiße sein hier auch in der Woche hin zu müssen." Sie zog das "i" in scheiße in die länge, sodass ein ansonsten plattes Schimpfwort melodisch, wie gesungen klang. "Voll die Quälerei!"

"Muss aber sein, ich krieg sonst die Miete nicht zusammen."

"Scheiiiße ... ", sie schaute ihn fragend an, "gerade für junge Menschen gibt es Hilfe. Du könntest Zuschüsse kriegen."

"Ich will aber keine Zuschüsse. Ich bin 17 Jahre alt und kann für mich alleine sorgen, anstatt mein Harz 4 im betreuten Wohnen zu versaufen." Lehmann klang wütend, obwohl es gar nicht so gemeint war.

Sie erwiderte nichts und schaute nur geknickt nach unten. Mit einem Mal wirkte sie noch viel kleiner, beinahe hilfsbedürftig. Ihr bloßer Anblick weckte Mitleid und ließ ihn sich wundern, ob er etwas Falsches gesagt hatte. Er kam ins Stocken, suchte vergeblich nach Augenkontakt und versuchte sie schließlich wieder in ein Gespräch zu verwickeln: "Und ... wie kommst du zu den Tablettschiebern?"

Eine Weile sagte sie nichts, dann schaute sie ihn mit ihren großen, verwirrten Augen an und ließ ein kleinlautes "Mit dem Bus?" auf ihn los. Er musste grinsen, es steckte sie an.

"Nene ich meinte wieso. Also ob du hier rauf angewiesen bist oder nur etwas dazuverdienst."

"Ahso, ne. Ich verdien nur was für mich, das Taschengeld aufbessern." Sie blieb stehen und schaute ihn ernst an. Es kam unerwartet, der strenge Blick stand ihr nicht und wirkte beinahe albern. Lehmann blieb ebenfalls mit fragender Miene stehen. "Kann ich dich was fragen?"

Er hatte alles erwartet nur nicht diese Frage: "Wieso klaust du essen?" Sie deutete auf seinen Rucksack, darin ein viertel Liter Schlagsahne in 10g Päckchen und einige andere Lebensmittel aus dem Krankenhaus.

"Naja ich ... sorg halt für mich allein." Bei den Worten musste Lehmann lächeln und auch sie konnte nicht länger ernst bleiben und verfiel in ihr altbekanntes verstrahltes Grinsen.

Wieder schwiegen sie eine weile, bis Lehmann sagte: "Aber im Ernst ... ich koche eine tolle Tomatensuppe ..." Er machte eine kurze Pause und sagte es dann doch: "Sie besteht zwar fast nur aus Tomatenmark und Schlagsahne, aber die solltest du trotzdem unbedingt mal probieren ..."


*****


Es war Freitag. Fast eine Woche war vergangen. Nach der Arbeit drehte Lehmann eine Runde durch den Krankenhauspark um wie sooft auf Budi, einen Freund, zu treffen.

Als der Jugendliche, gemütlich auf einer Parkbank sitzend, Lehmann erblicke, lehnte er sich zügig vor und schickte ein lautes, heiteres "Moinsen!" durch den halben Park. "Sven war grad noch hier, hast ihn knapp verpasst." Budi trug eine neongelbe Basecap, verwaschene, schwarze Jeans und ein T-Shirt mit aufgedrucktem Simpsonsmotiv: Homer Simpson, wie er verträumt den Rand seines leeren Bierglases liebkoste.

"Kanns sein, dass du dich seit gestern nicht vom Fleck bewegt hast?" Lehmann hatte einen ehrlich fragenden Ausdruck im Gesicht, mit den Jahren war die Frage zum Running Gag geworden. "Joah ...", antwortete Budi mit verstellt hoher Stimme, der Stimme seiner Mathe-Lehrerin, "Schule kann schon ganz schön hart sein!" Lehmann musste lachen und Budi rief zufrieden: "Besonders, wenn so geiles Wetter ist!", und reichte ihm dabei eine halb aufgerauchte Tüte.

Sie saßen eine Weile lang da und unterhielten sich über Schule und Arbeit, Budis Stiefvater und Lehmanns Mutter, bis das Gespräch stockte.

Budi verfiel in unkontrolliertes Gelächter. Völlig losgelöst wieherte er durch den ganzen Park, während Lehmann missmutig versuchte Augenkontakt herzustellen. "Sina? Sina Neuhöffer?" Budi hatte Tränen in den Augen und musste sich sichtlich zusammenreißen.

"Jaja ... die arbeitet mit mir zusammen in der Kantine. Aber ich versteh nicht ganz was daran ... "

Energisch und mit tiefem Ernst in der Stimme rief Budi: "Junge, du hast dich an einem Krüppel vergriffen, du Arschloch!", musste aber wieder lachen, sobald er das Wort "Krüppel" ausgesprochen hatte und setzte noch einen drauf: "Ihre Mutter kennt meine Mom und ich sie auch n bisschen, war früher mit ihr auf einer Schule. Sie hat das Downsyndrom. Soll ja nicht allzu schlimm sein slightly retarded – bisschen Behindert halt, aber alter, das sieht man doch ... sie ist ein Spast."

Lehmann atmete laut aus und ließ ein gedämpftes "Als ob?" vernehmen. Er wirkte geknickt. Mit einem Mal bereute er das Gespräch. Nach einer kurzen Pause sagte er im gewohnten Ton: "Downsyndrom, ehrlich?"

"Einhundertprozentig, also, dass sie ganz offiziell behindert ist. Nicht einhundertprozentig schwerbehindert. Lass es 50% sein oder so, keine Ahnung. Hat auf jeden Fall einen ganz offiziellen Behindertenausweis ...", Budi schaute ihn eine weile lang belustigt an, "Spasti, halt ... schon echt brutal von dir, allein die Vorstellung dieses verpeilte, verwirrte Mädchen zu ..."

"Sie macht übrigens gerade ihr Abi.", Lehmann war sichtlich genervt, "Und wenn ich ihrer Zukunftsplanung glaube gibt es anscheinend auch Spastis, die auf Unis gehen. Du, mein Freund, bist ein Jahr älter und hinkst ihr trotzdem eine Klasse hinterher. Wie kann es sein, dass der Spasti besteht und du sitzen bleibst?"

"Vermutlich macht sie den ganzen Tag nix anderes als Lernen und schafft damit gerade so auf Biegen und Brechen ein voll beschissenes Abi ... mit Lernbegleitern ... beim dritten Versuch ...", Budi lachte wieder kurz auf, "... stell sie dir nur mal als Chirurgin vor ... oder Pilotin!"

"Ganz ehrlich sie ist nicht dumm. Naiv vielleicht, aber klüger als die meisten, klüger als du."

"Willst du sie im betreuten Wohnen besuchen und es ihr persönlich sagen? Wirkt dann gleich viel glaubwürdiger."

"Leck mich!"

"Spast!" Budi schnippte einen aufgerauchten Tütenstummel ins Gebüsch und stand auf. "Du kannst dich rechtfertigen solange du willst aber Spast ist nun mal Spast. Ich könnt den anderen danach nicht in die Augen sehen. Ich mein sie sieht ja schon halbwegs geil aus aber ... im Ernst. Du bist ein krasser Typ ... echt krass, was du da rausholst."

Er stellte sich grinsend vor Lehmann und reichte ihm die Hand "Echt heftigst tolerant, das muss man dir lassen. Ich schreib jetzt Sowi. Wünsch mir Glück. Und lass die Finger von den Spastis."

"Jaja ... verkacks nur nicht schon wieder."

Lehmann blieb noch lange nach dem Budi seine Klausur beendet hatte auf der Parkbank und dachte nach.


*****


Sina saß im Krankenhauspark. Es war kurz vor fünf an einem Samstagmorgen. Sie rauchte und wartete auf Lehmann, während sie nervös auf ihrer Unterlippe kaute. Als sie ihn erblickte, durchzuckte ein kurzes Funkeln den ansonsten so verträumten Blick.

"Hey Pfirsich" sie umarmte ihn und kniff dabei kurz die Augen zu. "Hab dich gestern vermisst, du wolltest anrufen", sie musterte ihn mit leicht geneigtem Kopf und wartendem Ausdruck. Lehmann stand nur da, unbeweglich wie eine Litfaßsäule. Sie hatte immer noch die Arme um ihn geschlungen.

"Ja ich konnte doch nicht." Die Worte klangen gedämpft und kamen wie von selber, ohne über sie nachzudenken.

"Wieso?" Sie lächelte und was gestern noch süß und naiv gewirkt hätte, war mit einem Mal plump und unbeholfen. Der verwirrte Blick, die tollpatschigen Bewegungen, die dünne, hohe Stimme, ihre langsame Art ...

"Hab mich mit einem Freund getroffen. Budi, der kennt dich noch von früher, du erinnerst dich vielleicht."

Sinas Hände glitten nach unten und der Blick wurde ernst, das Lächeln verging und ihre glasigen Augen blickten traurig in Lehmanns Gesicht. "Ja den kenn ich ... dass der Typ Freunde hat ..."

Lehmanns Mundwinkel verzogen sich zu einem gequälten lächeln, dann wurde seine Miene wieder ernst und ausdruckslos, während er über die richtigen Worte nachdachte. Anscheinend kam nichts dabei zustande, denn er hörte sich selbst nur "Wieso hast dus nicht erzählt?" sagen.

Zunächst brachte es sie durcheinander, dann verstand sie, ging einen Schritt zurück und sagte mit zittriger Stimme: "Soll ich alle vorwarnen?"

"Nein, aber mich ... zumindest ab einem bestimmten Punkt ... "

"Ist es denn so wichtig?" Sie klang wütend und musste aufschluchzen. Sie wirkte wie ein verstörtes Kind, mitleiderregend.

Es fiel Lehmann schwer Augenkontakt zu halten. Er schaute immer wieder nach unten bevor er "Ja ist es." sagte.

Sie blickte mit weit aufgerissenen Augen in sein Gesicht, dann fing sie an zu weinen. Als er das sah, kriegte er einen Kloß im Hals und wollte nur noch weg.

Lehmann ging nicht zur Arbeit und ließ das Mädchen im Park zurück, versuchte nicht einmal sie zu beruhigen. Er schämte sich dafür, nicht besser damit umgehen zu können, nicht einfach darüber hinwegzusehen, überhaupt darüber hinwegsehen zu müssen.

Die beiden sprechen seit dem nicht mehr miteinander.

 
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Hallo,

ich schreibe dir mal mit, was der Text für einen Eindruck auf mich macht. Ich mache das sehr direkt, nehm das nicht persönlich, sondern sehe es als ehrliche Leserrückmeldung.

Es war kurz vor 5, an einem Samstagmorgen, als Lehmann, träge und verschlafen, sein Haus verließ.
Das ist jetzt von meinerseits die Latte hochgelegt, aber ich habe neulich mal gelesen: Der erste Satz soll den Leser ködern. Der soll irgendeine implizierte Frage aufwerfen, wo sich der Leser fragt: Wieso? Warum, und dann weiterlesen muss. Mir fällt da z.B. ein Romananfang von Suter ein, der geht: Etwas war anders, aber er wusste nicht was. Da fragt man sich doch: Was ist anders? Wieso weiß er es nicht? Ich hoffe, du weißt, worauf ich hinaus will. Würde deine Textqualität eben steigern.

Er zitterte, vermutlich vor Kälte, vielleicht vor Müdigkeit.
Das gefällt mir nicht. Ich würde den streichen; erstens: vor Müdigkeit zittern? Nee. Vermutlich, das Wort ist auch überflüssig, damit machst du dir eher deine Erzählperspektive kaputt. Allgemein bringt der Satz den Plot nicht voran, der ist eher Füllmaterial, ich würde ihn tatsächlich streichen, aber musst du wissen, your story.

Lehmann
Ach ja, zum Namen: erinnerte mich schon stark an Herr Lehmann irgendwie, ein wunderbares Buch! Absicht? Weil jemand, der zu Schule geht, den nennt man ja eigentlich eher bein Vor-/Spitznamen, und nicht beim Nachnamen, oder?

Er arbeitete in der Kantine des städtischen Krankenhauses und er hasste seinen Job seit dem ersten Tag, an dem er sich dazu gezwungen sah. Geistlose Bandarbeit hatte in seinen Augen nur einen entscheidenden Vorteil: Man musste sich keine Mühe geben. Man musste nicht um seinen Job bangen, da er ersetzbar war und schon gar nicht mitdenken.
show, don't tell: ich würde das szenisch verarbeiten, diese Info in eine Szene verpacken und so dem Leser unmittelbar zeigen; das macht Texte anschaulich und so werden Leser hineingezogen in die Story.

Er hätte noch viel mehr in Kauf genommen, um von seiner Mutter Abstand zu nehmen, von den ständig wechselnden, nach Brand und Billigzigaretten stinkenden Versagern, die sie ihre Männer schimpfte und von der Notwendigkeit alle paar Wochen wie ein nasser Sack hinter ihr in die nächste Stadt, die nächste Wohnung und die nächste Schule geschliffen zu werden.
Hier wieder, das ist sehr mittelbar, sprich nacherzählt; in einer Szene hätte mir die Info besser gefallen.

bis zum Erbrechen
wie ein nasser Sack
Was mir so auffällt: Du benutzt hier und da Floskeln, die, sagen wir mal, verbraucht sind: Als Autor ist es eine wichtige Aufgabe für dich, neue, unverbrauchte Bilder zu erfinden, und so dem Leser etwas zu bieten, einen Vergleich, den er so noch nie gesehen hat.

Allein der Gedanke an den bevorstehenden Tag verdarb Lehmann die Laune.
Ja ... also Zwischenfazit bis hier hin: Nehm's mir bitte nicht übel, aber es plätschert so vor sich hin. Weißt du, was Leser richtig interessiert, das sind Konflikte. Konflikte, die so aufgebaut sind, dass sich der Leser fragt: Oh Gott, wie schafft er das? Wie werden die das klären? Bis hier ist dein Grundkonflikt: Schüler mag seinen Nebenjob nicht. Mhm. Hat mich jetzt nicht so mitgerissen, muss ich dir gestehen. Da fällt dir bestimmt bei der nächsten Story was besseres ein. Und vom Erzählstil her: Du schweifst oft ab, in so Nebensächlichkeiten, was genau bei der Arbeit passiert und so; das könntest du noch knapper zusammenfassen, weil es den Leser eigentlich gar nicht interessiert; ich würde mich echt auf nur auf den Konflikt fokussieren: Schüler mag Job nicht. Oder meinetwegen, noch besser: Schüler läuft vor Mutter weg. Das its viel interessanter, dieser Konflikt. Nebensächlichkeiten nur kurz anreißen, verknappt darstellen, aber auf den Hauptkonflikt würde ich mich konzentrieren, das macht Texte dicht und intensiv.

Die nächsten Stunden zogen sich endlos und träge, wie das langsam vor sich hinlaufende Kantinenband an Lehmann vorbei. Eine schier endlose Kette an Tabletts, dieselben verschlafenen Gesichter, dieselben Menüs und dieselben Handbewegungen. Pfefferminztee – ein Schritt nach links und ein Griff in den dafür vorgesehenen Behälter, dann die Tasse auf das Tablett stellen. Kaffee – eine Drehung um 180 grad und ein Griff in den dafür vorgesehenen Behälter, Päckchen aufreißen und in die Tasse kippen - Instantkaffee zum Aufgießen. Multivitaminsaft – machte irgendwer anders – ein paar Sekunden Pause.
Puh, ja, hier verlierst du dich so langsam in Nebensächlichkeiten, und das macht den Text zäh ... dein Protagonist langweilt sich bei der Arbeit, und deine Leser leider mit ihm. Da muss bisschen Action kommen, Handlung, er muss rumlaufen, was erleben, gegen seinen Konflikt ankämpfen, Drama, sowas wollen die Leute lesen! Also das zweite Kapitel ist schon sehr zäh. Da werden dir leider viele Leser abspringen, sorry, ist die Wahrheit.

"Muss aber sein, ich krieg sonst die Miete nicht zusammen."

"Scheiiiße ... ", sie schaute ihn fragend an, "gerade für junge Menschen gibt es Hilfe. Du könntest Zuschüsse kriegen."

"Ich will aber keine Zuschüsse. Ich bin 17 Jahre alt und kann für mich alleine sorgen, anstatt mein Harz 4 im betreuten Wohnen zu versaufen." Lehmann klang wütend, obwohl es gar nicht so gemeint war.

Mhm ja, dann kommt Sina, ... leider spüre ich nicht so recht, was er an ihr findet; ich würde dir empfehlen, viele kleine Beobachtungen von dieser Situation einzubauen: Was machen ihre Augen, wie ist ihr Gang, wie lächelt sie, mag sie Kaffee oder Tee, hasst sie Katzen oder mag sie sie; solche kleinen Beobachtungen machen Erzählungen realistisch, da ist der Leser dabei.

Die beiden sprechen seit dem nicht mehr Miteinander.
miteinander

Ja mhm ... Fazit: Dein Text ist zu aufgedunsen von Nebensächlichkeiten. Ich würde dir stark empfehlen, dich auf einen Konflikt zu konzentrieren: Z.B. Sina und ihr Problem, die Mutter mit ihren Säuferfreunden, das Zusammenführen von Job und Schule. Wirklich nur auf einen fokussieren, die anderen vllt als Hintergrundinfo mal kurz anreißen, aber nicht mehr; und dann nur über diesen Konflikt schreiben, schön szenisch, ohne zehn Zeilen lang abzuschweifen, wie der Prot vor einer Maschine steht und sich langweilt, das interessiert keinen Leser, auch wenn du vllt das Bedürfnis hattest, diese Wirklichkeit dem Leser zu zeigen. Und dann führe eine originelle Lösung des Konfliktes auf, etwas, was den Leser überrascht. Das ist so meine Einschätzung. Hast bloß ein paar Rechtschreibfehler drin, das ist erfreunlich, bei den meisten Neuen scheitert viel daran. Bleib am Ball.

Grüße

 

Hey! Ich bin auch noch sehr neu hier und habe nicht viel Ahnung von Literatur und vom Schreiben, deshalb verzeih mir bitte die wenig ausführliche Reflexion des Textes.
Wie dem auch sei, ich mochte ihn jedenfalls sehr. Dein Stil ist sehr angenehm. Du beschreibst einige Details, die natürlich nicht wichtig sind, aber auch dafür sorgen, dass man trotz der Kürze der Geschichte eine gute Vorstellung von dem bekommt, was da eigentlich passiert. Noch besser finde ich den Inhalt. Großartiges Thema, sehr realitätsnahe und glaubwürdig und an keiner Stelle kitschig, belehrend oder ermüdend.
Ich persönlich hätte den letzten Satz weggelassen, der Leser weiß (oder ahnt sehr stark), dass es ihr letztes Gespräch gewesen sein wird. Ansonsten, klar, einige formelle Schwächen sind sicher zu entdecken, aber das würde ich mal denen überlassen, die sich besser auskennen, zigga hat ja schon sehr gute Arbeit geleistet. Bei einer Kleinigkeit muss ich ihm aber noch widersprechen - die Benutzung des Nachnamens finde ich irgendwie cool.

 

Hallo zigga, hallo gruenspan,
und vielen dank für die rasche rückmeldung! Natürlich werde ich auf keinen Fall etwas persönlicher nehmen als ich sollte, immerhin lieferst du (zigga) tonnenweise konstruktive kritik und die ist doch wohl immer für einen guten Zweck ;)
Ausserdem hast du wie immer einfach mal recht, denn es liest sich wirklich ziemlich zäh. Ich hatte selber ein problem damit, dass sina (die eigentliche haupthandlung) erst so spät auftaucht.
Nur wollte ich unbedingt einige themen angeschnitten haben um lehmanns motive zu verdeutlichen. Ich habe ihn als frustrierten mensch abbilden wollen. Er hat in seiner mutter genug von der frauenwelt erlebt um genügsam zu sein. Er sucht genau das was sina auf den ersten blick für ihn darstellt. Ein liebes, nettes, kleines ding, dass durch und durch harmlos scheint, das gegenteil seiner mutter. Er will es um jeden preis richtig machen und übersieht dabei das offensichtliche. Beim nächsten mal werde ich versuchen dass alles zu zeigen, anstatt davon zu erzählen (vllt als erinnerung des prots in einer seperaten szene?).
Das ende der geschichte würde ich lieber so lassen. Ich versuchte hier möglichst realistisch zu sein und ich glaube, dass es in echt leider genau so geendet hätte. totale überforderung und resignation...
Besonders interessant fand ich deinen rat mit den unverbrauchten floskeln, weil ich mir noch nie gedanken darüber gemacht habe, aber definitiv sollte...
Und dir (gruenspan) möchte ich auf jeden fall auch für die netten worte danken. schön zu wissen, dass jemand etwas mit meiner geschichte anfangen konnte und auch du hast einfach mal recht: nachnamen unter schülern zu benutzen ist cool :) und ausserdem nützlich. man stelle sich einfach mal eine klasse vor in der drei, vier schüler alex heissen.... true story! :D
ich werde versuchen möglichst viele der vorschläge in die nächste geschichte einfliessen zu lassen. bis dahin....

mfG
Gammler

 

so jetzt hoffentlich ohne rechtschreibfehler

Nee,

lieber Gammler –
ich galt übrigens für bestimmte Zeitgenossen in meiner Jugend als einer und erlebte live mit, wie der damalige Bundeskanzler Ludwig Erhard (nicht zu verwechseln mit Heinz Erhardt) beim Pfeifkonzert seines Publikums (er hat über die erste Wirtschaftskrise der noch jungen Republik vor Berg- und Stahlarbeitern referieren wollen) die einen mit den langen Haar Gammler und die schreibende Zunft Pinscher nannte –
und nach diesem kleinen Ausflug in die 1960-er Jahre erst einmal herzlich willkommen hierorts,
aber Rechtschreibfehler (und vor allem fehlerhafte Zeichensetzung!) sind noch vorhanden. Aber Deine kleine Geschichte, in der ziemlich viel geraucht wird, wie ich finde, dass es einem die Sicht vernebeln kann, versteh ich nicht den Sinn: Klagstu Deine eigene Generation an – ich tipp mal drauf, dass Du Schüler bist (war ich in der o. g. Anekdote auch, und als es 1967 f. richtig Stimmung gab, [erste GroKo mit einem Altnazi als BuKa] Lehrling)? Die Anklage gälte dann dem Opportunismus – der ja im Titel schon durchleuchtet.

Was zunächst auffällt: Du fürchtest Dich nicht vorm Komma, ohne dass es – wie bei Kleist an der Tagesordnung – ausufernde Sätze strukturieren und Regieanweisungen wären! Es sind Einschübe, die vom eigentlichen Satzinhalt getrennt werden und besondere Bedeutung als Einschub erstreben oder anzeigen sollen.

Es war kurz vor 5, an einem Samstagmorgen, als Lehmann, träge und verschlafen, sein Haus verließ.
( Nebenbei: Zahlen von eins bis zwölf werden üblicherweise ausgeschrieben.)

Aber beim vierten Satz geht’s erstmals daneben – oder Kleist setzt sich mit einer Regieanweisung durch (Atempause!)

Lehmann war auf dem Weg zur Arbeit, die er vorwiegend am Wochenende, neben der Schule ausübte.
Es fehlt formal das Komma, den Einschub („neben der Schule“) zu begrenzen (es könnten auch Gedankenstriche sein – aber Du hast Dich nun mal fürs Komma entschieden:
Lehmann war auf dem Weg zur Arbeit, die er vorwiegend am Wochenende, neben der Schule[,] ausübte.
Das Komma ließe sich – durch ein wenig Möbelrücken – vermeiden, denn die Ursache ist die schwache Klammer (am Wochenende … ausübte), also einfach
Lehmann war auf dem Weg zur Arbeit, die er vorwiegend am Wochenende [ausübte], neben der Schule […].
Ordentlich daneben geht’s dann, wenn Du ohne Not (oder doch?) von allen Kleistschen Geistern verlassen Dich an eine längere Konstruktion wagst:
Er hätte noch viel mehr in Kauf genommen, um von seiner Mutter Abstand zu nehmen, von den ständig wechselnden, nach Brand und Billigzigaretten stinkenden Versagern, die sie ihre Männer schimpfte und von der Notwendigkeit alle paar Wochen wie ein nasser Sack hinter ihr in die nächste Stadt, die nächste Wohnung und die nächste Schule geschliffen zu werden.
Ist zu Beginn noch alles richtig, der Infinitivsatz korrekt abgetrennt
Er hätte noch viel mehr in Kauf genommen, um von seiner Mutter Abstand zu nehmen, …
wird schon im nächsten Teil vergessen, dass ein Relativsatz (…, die sie …) auch ein Ende hat – wie im richtigen Leben halt:
…, von den ständig wechselnden, nach Brand und Billigzigaretten stinkenden Versagern, die sie ihre Männer schimpfte[,] und von …
Bis wieder ein Infinitivsatz fehlstartet
…, und von der Notwendigkeit[,] alle paar Wochen wie ein nasser Sack hinter ihr in die nächste Stadt, die nächste Wohnung und die nächste Schule geschliffen zu werden.
Aber der richtig dicke Hammer liegt in der Verwechselung von „schleifen“ und „schleifen“. Natürlich wird man in Erziheung, Ausbildung und vor allem beim Militär geschliffen, wie der Scherenschleifer das Messer schärft (schleifen – geschliffen). Aber hier wird ein nasser Sack hinter einem her „geschleift“ …

Wenigstens einmal wird’s Personalpronomen als Statthalter des altehrwürdigen Namen Lehmann missbraucht, von dem sich eine zumindest einsparen ließe

Er arbeitete in der Kantine des städtischen Krankenhauses und […] hasste seinen Job seit dem ersten Tag, an dem er sich dazu gezwungen sah.

Hier nun ein zunächst einmal ein zweideutiger Satz. An sich gefallen mir eindeutige Sätze gar nicht (schließlich schreiben wir keine Gebrauchsanweisungen und betreiben schon gar nicht Mathematik) – aber wer oder was ist da ersetzbar? Die Arschkarte ziehen i. a. R. die Beschäftigten
Man musste nicht um seinen Job bangen, da er ersetzbar war[,] und schon gar nicht mitdenken
.Wer oder was ist da „ersetzbar“ - Lehmann, der Jobber, oder der Job? Ach ja, das Komma hätt’ ich fast vergessen: Mit den Nebensätzen verhält es sich wie mit dem richtigen Leben: Sie haben Anfang und finden ihr Ende, denn die Konjunktion und bezieht sich zur Aufzählung innerhalb des Hauptsatzes
Man musste nicht um seinen Job bangen … und schon gar nicht mitdenken.
Mal gelingt die Zeichensetzung zu den Infinitsätzen, aber oft nicht – wie hier
… eh nichts Sinnvolles passiert wäre[,] um auf Biegen und Brechen selbstständig zu sein, …
Eine letzte Bemerkung (wobei die Länge natürlich anders aussieht als hier):
Sie zog das "i" in scheiße in die länge, …
Wie wäre das lautsprachlich darzustellen? Das „ei“ kann sie dehnen – ein „schei-iiiii“ – ich sag’s mal wohlwollend - gibt’s (noch) nicht.

Alles kein Beinbruch, find ich, geschieht halt, wie ich finde. Aber hier vor Ort und vor allem auf den ersten hundert Seiten des Rechtschreibduden wäre dergleichen er- und geklärt, und ich bin guter Dinge, dass Du am handwerklich Formalen genauso viel Interesse hast wie am Inhaltlichen. Im übrigen, wenn ich auch tatsächlich nur „gelegentlich“ hier bin: Ich lauf nicht weg, schon gar nicht vor Problemen und Fehlern. Schließlich sind die geschaffen worden, um bewältigt zu werden. Von Gammler zu Gammler: Sag einfach, wenn Du Hilfe brauchst!

Friedel

 

Lieber Friedrichard,

vielen dank für diese literarische klatsche! das meine ich ernst, immerhin hatte ich die geschichte schon lange begraben und kein feedback mehr erwartet.

ob dus glaubst oder nicht - das mit den Rechtschreibfehlern hatte ich ernst gemeint...

Anscheinen ist die Autokorrektur doch fürn A. - verblüffend, oder?

Erstmal möchte ich den "sinn" meiner geschichte klären:
Gesellschaftskritik überlasse ich denen, die sich mit unserer gesellschaft auskennen. Ich kritisiere hier nur den Lehmann an sich und sein verhalten innerhalb meiner kleinen geschichte. Er gibt das wohl wichtigste auf, dass es geben kann - einen menschen mit dem er sich auf anhieb versteht... die liebe halt.
er ist opportun, in dem sinne das er sein privatleben nach der meinung anderer ausrichtet, sein liebesleben von der meinung seiner freunde (oder noch schlimmer - unbeteidigter dritter) abhängig macht.
und tja... das wars auch schon.

Ein "problem" haben wir wohl doch, immerhin werde ich nach deinem kommentar das gefühl nicht los die deutsche sprache vergewaltigt zu haben (vor allem wenn ich mein altes deutschheft - und nein ich bin seit kurzem kein schüler mehr - durchblättere. fast jede klausur ist mit dem selben kommentar versehen: "achte auf die kommasetzung")

Als Beinbruch sehe ich es nicht. Man sollte schon wissen, wie die eigene sprache aufgebaut ist auch mit einem sogenannten "migrationshintergrund". So werde ich wohl oder übel meine verstaubte geschichte nochmal durchgehen müssen, allein der übung halber.

Hilfe? Gerne!

Wenn du wieder einmal hier vorbeischaust - so in zwei, vier tagen - wäre ich dir sehr verbunden, wenn du die kommasetzung nochmal prüfen könntest, bis dahin werde ich meinen duden maltretieren.

mfg
Gammler

(PS: an die kommasetzung und rechtschreibung dieses kommentares will ich nicht einmal denken - vielleicht ja doch gedankenstriche?)

 

Ich nehm Dich mit nach Haus und dieser Tage dann wieder zu hierher an den Ort der Söhne Osmans (hier vor Ort sind alle Internetcafés fest in der Hand von Türken),

lieber Gammler,

und dat bissken wer'n mer woll hinkriegn!

Bis denne, sacht'er

Friedel

 

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