Ophelia
Der Himmel weint und weint.
Er weint sich die Dunkelheit aus dem Herzen - in unzähligen grauen Wasserfäden.
Aber was geht mich der Himmel an? Soll er doch sich die Seele aus dem Leib heulen - meinetwegen kann er auch schreien. Das läßt mich völlig unberührt.
Doch ich sollte mich eigentlich von der himmlischen Traurigkeit berühren lassen - entdeckte ich doch im Laufe der Regentage, die ich nicht mehr zählen kann - gleich den aneinandergereihten Perlen einer Kette - entdeckte ich doch einen Fleck an der rechten Ecke, oben an der Decke meines Zimmers, direkt über dem Kachelofen. Langsam bildete sich dort ein Tropfen. Später viel er schwer hinunter. Ich meinte, ein Geräusch des Zerreißens von Molekülketten zu hören. Kaum war der eine Tropfen fort, wurde auch schon ein neuer geboren.
Nun, seit kurzem, weint der Himmel auch in meinem Zimmer. die Tränen fange ich in einer Schale ein und gieße damit meine Blumen. Doch diese lassen seitdem die Köpfe hängen und haben sich gelb verfärbt.
Ich träume die letzten Nächte fürchterliche Bilder. In all diesen Träumen regnet es in meiner Wohnung, während draußen die Sonne von einem klaren, hellblauen Himmel herabscheint. Meine Zimmer sind von einem feuchten Nebel eingenommen worden. In meinem schwarznassen Haar hängen Wassertropfen. Auch die Scheiben sind von innen beschlagen. Ich sinke in die Auslegware ein, als liefe ich über eine regennasse Wiese. Pfützen stehen im Badezimmer und spiegeln das Deckenlicht wider.
Ich weiß nicht, ob ich in Anbetracht meiner Situation geweint habe - kann ich doch die Tränen des Himmels nicht von den meinigen unterscheiden.
Meine Finger, meine Zehen, ja, mein gesamter Körper quillt bei der beständigen Feuchtigkeit auf. Seit kurzem auch mein Hirn. Das ist gut so, denn dies läßt mich hinter einem Schleier der Gleichgültigkeit verschwinden.
Nur manchmal noch stellt sich mir die Frage, was die tiefe Trauer des Himmels verursacht haben mag, so daß er unaufhörlich weinen muß.
Morgen müßten meine ersten Seerosen erblühen. Ich lege mich in das Wasser und schlafe zufrieden ein...
Rostock, den 27. Mai 1996