Opferung
"Wie war dein Tag heute, Martin?", fragte der Vater. Sie saßen gemeinsam am Essenstisch - gemeinsam, dass bedeutete, die ganze Famiele Kunert. Vater, Mutter, Sohn und Tochter.
Es war ein Dienstagabend, kurz nach 18 Uhr. Draußen war es bereits dunkel.
"Alles gut, Papa", antwortete Martin, der gerade dabei war, eine Scheibe Brot mit Magarine zu bestreichen. Wie eigentlich Alles, gelang ihm auch das nicht richtig. Martin war bereits 21, dennoch schaffte er es nicht, Magarine auf sein Brot zu bekommen, ohne das die Hälfte davon auf seinen Fingern landete. Doch keiner machte ihm deswegen einen Vorwurf, und das hatte einen einfachen Grund: Martin war kein normaler 21-jähriger; Martin hatte das Down-Syndrom.
"Das freut mich für dich, mein Sohn", sagte Gerhard. "Und bei der Arbeit? Hast du dort immer noch Probleme mit diesem Kilian?" Martin hatte Glück gehabt und war einer der wenigen Behinderten, die einen Job besaßen. Dort verdiente er zwar nur zwei Euro pro Stunde, aber auf das Geld kam es dabei sowieso nicht an, wie Kathrin zu wissen glaubte. Die Arbeit war wichtig für ihren Bruder, weil sie ihn (wenigsten etwas) Selbstständigkeit verschaffte und sein Selbstvertrauen stärkte. Früher war er in allen Dingen der Schlechteste gewesen; Nichts hatte so richtig klappen wollen, egal ob Schule oder das Fußballspielen. Bei seiner Arbeit konnte er nun beweißen, dass auch er fähig war, etwas zu leisten. Etwas, das sich sogar zu Geld machen ließ.
Dass er keinen normalen Beruf ausübte, sondern nur in einer Behinderten-Werkstatt Holzspielzeug zusammensetzte, spielte dabei keine Rolle.
"Kilian lässt mich jetzt in Ruhe. Er haut Daniela."
"Er haut Daniela? Die Süße mit den vielen Sommersprossen im Gesicht?", fragte Jutta ihren Sohn.
"Ja, die mit den Sommersprossen", nuschelte Martin, während er den ersten Bissen seines Brotes zerkaute.
"Und keiner der Betreuer sagt etwas?", hakte Jutta nach.
Martin schüttelte kurz den Kopf. Das Brot in seiner Hand schien ihn mehr zu interessieren, als die Worte seiner Mutter.
"Und du? Du tust auch nichts?" Natürlich tat Martin auch nichts, dachte Kathrin. Ihr Bruder war zwar kräftig gebaut, doch ging er Kontroversen grundsätzlich aus dem Weg. Aus Angst, wie sie vermutete. Kilian war dagegen aus anderem Holz geschnitzt. Er war boshaft und es machte ihm Spaß, anderen Schaden zuzufügen. Kathrin hatte einmal mitbekomen, welches Verhalten Kilian an den Tag legte, als sie ihren Bruder eines Mittags in der Werkstatt abgeholt hatte, um mit ihm in die Stadt zu gehen.
"Du weist doch, dass man anderen helfen muss", begann ihre Mutter, eine ihrer Moralpredigten.
"Schwächeren muss man immer beistehen, wenn sie geärgert werden!"
Martin nickte und schob den letzten Bissen seines Brotes in den Mund. Er gab schmatzende Geräusche von sich. Ihre Mutter beließ es dabei; sie wusste, wann es sich lohnte, Martin etwas zu erzählen, und wann es besser war zu schweigen. Dann nähmlich, wenn er Nebensächlichkeiten (wie z.B. einem Butterbrot) mehr Aufmerksamkeit schenkte.
So ging das Abendessen zu ende, und die Familie zersplitterte wieder in vier Teile. Jeder zog sich in sein privates "Reich" zurück. Im Falle ihres Vaters hieß das, er nahm im Sessel vor dem Fernseher platz, wo in wenigen Minuten die Zusammenfassung eines Golfturniers übertragen wurde. Mutter blieb in der Küche; nachdem sie den Tisch abgeräumt hatte, würde sie sich an den Tisch setzen und in Ruhe eine ihrer Frauenzeitschriften lesen. Martin und Kathrin hatten ihre Zimmer im oberen Stockwerk des Hauses.
Martin ging auf der Treppe vorraus. Kathrin musste auf seinen Hintern starren, der sich hin und her bewegte, wie bei einem Tänzer. Er war fett! Martin war überhaupt dick, aber sein Arsch war wirklich fett! Sie wollte nicht so denken, schämte sich sogar dafür, aber sie konnte nicht anders. Eigentlich sollte er ihr Leid tun. Er konnte schließlich nichts für seine Behinderung und somnit auch nichts für sein Aussehen, das damit zusammenhing. Doch noch mehr als Mitleid, empfand sie in diesem Moment Ekel und noch ein anderes Gefühl, das Hass ziemlich nahe kam.
Ihr Bruder erklomm nur langsam die Stufen. Es war ihm deutlich anzusehen, dass es ihn Anstrengung kostete. Bald würde sein schweres Atmen einsetzen, dachte Kathrin. Doch diesmal irrte sie. Martin schaffte es, dass Ende der Treppe zu erreichen, ohne nach Luft zu röcheln.
Ihre Zimmer lagen direkt nebeneinander, was Kathrin nicht sonderlich gefiel. Aber mit der Zeit hatte sie sich daran gewöhnen müssen. Trotzdem war es unangenehm für eine 16-Jährige, wenn ein erwachsener Mann einen Raum weiter schlief. Kathrin wusste nicht, ob man Martin wirklich als einen Mann bezeichnen konnte, aber körperlich kam er einem nahe. Es war kein gutes Gefühl, wenn sie am Abend ihre Kleider ablegte, oder Morgens ihre Unterwäsche wechselte, immer mit dem Bewusstsein, dass sich ihr älterer Bruder nur eine Wand weiter aufhielt.
Martin öffnete die Tür zu seinem Zimmer und verschwand darin. Kathrin fühlte sich von einer großen Last befreit. Es war ihr immer leicht unangenehm, sich in seiner Nähe aufzuhalten.
Sie konnte nicht genau sagen weshalb.
Von unten hörte sie die Stimme eines Moderators aus dem Fernsehen, als sie ihr geheiztes Zimmer betrat. Sie schaltete das Licht ein, und Gesichter starrten sie von Postern aus an.
Ihre Helden aus Musik und Film hingen an den Wänden; die meisten von ihnen lächelten.
Sie schaltete ihre Stereo-Anlage an und fuhr zusammen. Die Lautstärke!
Schnell drehte sie den Regler runter. Martin war wieder in ihrem Zimmer gewesen, und natürlich hatte er es sich nicht nehmen lassen, ihre Avril-Lavigne-Platte bei voller Lautstärke zu hören.
Es war mitten in der Nacht, als sie aufwachte. Zunächst fiel es ihr schwer, sich zurechtzufinden. Ihre Augen suchten panisch in der Dunkelheit. Sie hatte von einem seltsamen Ort geträumt und sie glaubte, sie befände sich noch immer dort. Ein eigenartiges Schnauben verstärkte den Eindruck des Unwirklichen. Sie wusste erst wieder, dass sie sich in ihrem Zimmer befand, als ihre Augen das Britney-Spears-Poster an der Wand fanden. Die gute alte Britney, in ihrem guten alten weißen Kostüm, das an Elvis Presley erinnerte...
Sie setzte sich auf. Die Wirklichkeit war zurückgekehrt, die Welt aus ihrem Traum (ob sie nun schön, oder angsteinflößend gewesen war, daran konnte sich Kathrin nicht mehr erinnern) war ausgelöscht und vielleicht würde sie kein Mensch in seinen Träumen mehr betreten. Doch das Schnauben war geblieben. Es war es, was sie aus ihrem Schlaf gerissen hatte, vermutete sie.
Doch eigentlich war es gar kein Schnauben. Sie glaubte, diese Art von Geräusch schon einmal gehört zu haben. Nein, schrie ihr Verstand plötzlich auf. Du hast es nicht nur einmal geghört! Du hast es jedesmal gehört, wenn du dir die Pornos an deinem Computer angeschaut hast, die dir Moni aus der Schule gebrannt hat. Ja richtig, es hörte sich an, wie das Stöhnen eines notgeilen Pornodarstellers.
Das Stöhnen wurde flacher und schneller: Das Geräusch eines Pornodarstellers, der kurz davor war, sein Sperma auf die Brüste seiner Partnerin zu verteilen. Kathrin bekam auf einmal Angst. Sie saß einfach nur so da und versuchte so leise wie möglich zu atmen. Sie hatte keine Ahnung, ob ihr das gelang; ihr Herz pochte auf jeden Fall so laut, dass sie befürchtete, es würde explodieren.
Das Stöhnen kam von der Tür. Sie war nur angelehnt und durch den Schlitz sah sie die Umrisse eines massigen Mannes.
Ihr Verstand überschlug sich, suchte fieberhaft nach einer Idee, nach einer Lösung für diese Situation, die so unwirklich war, wie die Welt, die sie in ihrem Traum aufgesucht hatte.
Sie fasste unter ihr Bett und ertastete dort die Hantel, mit der sie regelmäßig trainierte. Fünf Kilo, und sie war gewillt sie dem Typen vor ihrer Türe gegen den Kopf zu schmettern. Vorsichtig hob sie die Hantel. Sie umschloss das Metall fest mit der rechten Hand. Jetzt musste sie nur noch den Mut aufbringen, aufzustehen und zur Tür zu rennen. Sie würde den ungebetenen Besucher überraschen, und selbst wenn es ein kräftiger Mann war (sie ging fest davon aus, dass es sich um einen Mann handelte. Nicht nur wegen dem tiefen Stöhnen; warum sollte eine Frau ein kleines Mädchen beim Schlafen beobachten?), konnte sie ihm mit einem Schlag das Bewusstsein rauben.
In Gedanken zählte Kathrin langsam bis drei und versuchte sich währenddessen nicht vorzustellen, wer der Perverse war und ob er eine Waffe bei sich trug. Vielleicht ist er nicht nur gekommen, um dich zu beobachten, vielleicht will er dich vergewaltigen!
Sie verdrängte diesen Gedanken rasch und sprang auf, als sie bei drei angelangt war. Es lief alles perfekt: Sie stolperte nicht, oder ähnliches. Sie rannte zur Tür, riss diese auf, mit dem festen Entschluss den Mann dahinter niederszuschlagen und...
Sie erschrag. Ausdruckslos starrte sie in das Gesicht, das sie aus der Dunkelheit erwartete.
Die Hantel hielt sie in Kopfhöhe und ließ sie dort, trotz des enormen Gewichts, verweilen.
"Du?", fragte sie und war gleichzeitig überrascht, dass sie überhaupt in der Lage war zu sprechen.
"Du?" Dieses kleine Wort hatte etwas Unwirkliches in diesem Moment. Es klang wie aus einer anderen Sprache.
Ihr Bruder sah sie nur an, den Mund weit aufgerissen und mit einer Hand in seiner Jogging-Hose. Kathrin sah die Ausbuchtung in seinem Schritt. Als Martin bemerkte, worauf ihr Blick gefallen war, nahm er schnell seine Hand aus der Hose und rannte in sein Zimmer, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Er knallte die Tür hinter sich zu und ließ Kathrin verwirrt und überfordert auf dem Flur zurück.
Später in ihrem Bett dachte sie noch lange Zeit über ihr nächtliches Erlebnis nach. Zuerst war sie ins Untergeschoss geschlichen, um sich eine Flasche Cola zu holen und, um sich zu vergewissern, dass ihre Eltern nichts von dem ganzen Trouble mitbekommen hatten. Wie es aussah, hatten sie es nicht: Sie hörte nichts weiter, als das Schnarchen ihres Vaters.
Als sie sich wieder ins Bett gelegt hatte, lief die neue Shakira-Platte in ihrer Anlage. Überwiegend ruhige, fast schon schnulzige Lieder, die ihr beim Nachdenken halfen.
Kathrin ließ die Situation mehrere Male in ihrem Kopf ablaufen und versuchte eine Lösung zu finden. Eine Lösung für was? Sie wusste es nicht. Alles war zu verwirrend, zu abartig. Wusste Martin, was er getan hatte? Wusste er, dass es falsch und widerwertig war? Aber war es das überhaupt? Was war so falsch daran, dass sich ein Mann an einem Mädchen aufgeilte, um sich selbst zu... Verdammt, was dachte sie da? Er war ihr verdammter Bruder und außerdem... außerdem war er behindert. Kathrin überlegte, ob sie anders über die Sache denken würde, wenn er ein normaler Junge oder Mann wäre. Wahrscheinlich ja. Obwohl sie es sich nicht so recht vorstellen konnte, lautete die Antwort darauf ja. Und das ließ sie sich schuldig fühlen.
Doch er war es eigentlich, der sich schuldig fühlen musste, dachte sie. Er hatte etwas getan,
das unangenehm für sie beide war. Er, nicht sie. Warum lag sie dann in der Dunkelheit und schämte sich? Weil die Sache an sich verdammt unangenehm ist, sagte sie sich.
Es dauerte lange, bis die Müdigkeit wieder Besitz von ihr ergriff, und als das geschah, war sie unendlich dankbar dafür. Wie soll ich ihm Morgen wieder unter die Augen treten, war der letzte Gedanke, der sie in dieser Nacht quälte. Wie soll ich ihm jemals wieder unter die Augen treten?
"Hast du mal 'ne Zigarette für mich?", fragte Kathrin, als sich die Tür der Toilette hinter ihnen geschlossen hatte. Miriam kramte in den Taschen ihrer viel zu eng anliegenden Jeans und holte schließlich eine Schachtel Luckys heraus. Sie hielt sie Kathrin hin.
"Danke." Die Zigarette schmeckte gut. Unheimlich gut sogar.
"Hast nicht viel geschlafen, oder?", wollte Miriam wissen.
Kathrin schüttelte den Kopf, während sie an ihrer Kippe zog. Als sie den Rauch wieder ausgestoßen hatte, antwortete sie: "Nein, hab' ziemlich lange gebraucht, um endlich Schlaf zu finden. Tausend Gedanken, du verstehst?" Ihre Freundin nickte nur. Natürlich tausend Gedanken, was auch sonst? Auch sie rang um Antworten und um einen klaren Kopf, um die Geheimnisse des Lebens zu verstehen. In dieser Hinsicht waren die beiden das ideale Abbild von Teenagern.
Kathrin lehnte sich gegen den Heizkörper und rutschte langsam an ihm hinunter, bis sie auf dem Boden zum Sitzen kam. Sie schloss die Augen und vergrub ihr Gesicht unter ihrem Arm.
Sie hatte tatsächlich nicht mehr viel geschlafen, nach dem Schrecken, den sie erlitten hatte. Den Nachmittag würde sie damit verbringen, das Versäumte nachzuholen, auch wenn ihre Mutter schimpfen würde.
Es war die zweite große Pause an diesem, für sie entsetzlichen Schulttag, und bald würde es ein Ende haben. Sie fühlte sich dreckig, ungeliebt und... und irgendwie mochte sie dieses Gefühl.
Es gab normalerweise keine Gründe für dieses Empfinden, doch an vielen Tagen fühlte sie sich so. Dann versank sie in ihrem Schmerz, wurde ein Teil von ihm und lernte schließlich ihn zu genießen. Die Poesie des Schmerzes, dachte sie.
Plötzlich hörte sie, wie die Tür geöffnet wurde und machte sich bereit ihre Zigarette ins Klo zu schmeißen, falls es sich um einen Lehrer handeln sollte. An dieser Schule war es den Schülern nicht gestattet zu rauchen, selbst wenn man die glorreiche 18 erreicht hatte. Es war kein Lehrer. Nur zwei ihrer Klassenkamaradinnen.
Kim und Mia, eine Neue. Sie waren beide ziemlich nett, und Kathrin mochte ihre Anwesenheit.
"'ne nette kleine Versammlung, was?", fragte Kim, was zum ersten Mal an diesem Morgen ein Lächeln auf Kathrins Lippen zauberte.
Nachdem Kim und Miriam die Versammlung verlassen hatten, blieben Kathrin und Mia allein zurück. Kathrin hatte sich noch eine Zigarette von Miriam geschnorrt und zog genüsslich an ihr.
Mia stand in der Ecke und wirkte irgendwie verängstigt. Ihre Figur war so ein Mittelding zwischen schlank und dick, und die Körperstellen, die sie zur Schau stellte (sie trug Bauchfrei und ihr Top hatte einen großen Ausschnitt) waren vereinzelt mit Pickeln übersät. Sie sah nicht hässlich, aber auch nicht unbedingt schön aus; ein Junge würde es mit ihr treiben, sie aber nie als seine Traumfrau bezeichnen.
"Darf ich dir mal was erzählen?" Mia nickte. "Natürlich."
"Es muss aber unter uns bleiben", sagte Kathrin und sah das verunsicherte Mädchen eindringlich an.
"Ich meine wirklich..."
"Erzähl' schon!", forderte Mia sie auf. Und Kathrin bereute, dass sie diese Frage gestellt hatte. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Sie sollte es keinem erzählen, und wenn doch, dann bestimmt keinem Mädchen, das sie erst seit einem Monat kannte. Sie überlegte, wie sie sich rauswinden konnte, fand aber keinen Weg. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu Reden und so erzählte sie schließlich, was ihr in der gestrigen Nacht mit ihrem Bruder widerfahren war.
Sie redete ruhig und sachlich. Während den Sätzen nahm sie immer wieder einen Zug.
Den Rauch stieß sie dann in Ringen aus.
Kathrin schaute Mia in die Augen; würde sie in ihnen auch nur das kleinste Fünkchen Belustigung oder Abscheu lesen, so hatte Kathrin beschlossen, würde sie Mia einfach ins Gesicht schlagen und ihr sagen, dass das alles nur ein Witz gewesen war.
Doch sie lachte nicht, und schon gar nicht gab sie Kathrin ein Anzeichen dafür, dass sie dachte, sie hätte es hier mit einer Verrückten zu tun. Sie stand still da und schaute ernst, bedrückt, verständnisvoll zu gleich. Kathrin liebte sie dafür.
"Du fragst dich sicherlich, warum ich dir das erzähle?", fragte Kathrin, als die Schulglocke zum Ende der Pause schellte.
"Ehrlich gesagt, ja," antwortete Mia. "Aber ich glaube, dass du es einfach irgendjemandem erzählen musstest." Das traf es wahrscheinlich auf den Punkt, musste Kathrin gestehen.
Sie fragte Mia nicht weiter, wie sie sich verhalten sollte, oder was Mia davon hielt. Das Mädchen konnte keine passenden Antworten liefern (wahrscheinlich konnte das überhaupt niemand - nicht bei einem solchen Thema) und sie wollte Mia nicht zu irgendetwas zwingen. Sie verließen die Toilette, in der der Rauch die Luft fast verdrängt hatte. Andere Schüler kamen ihnen auf dem Flur entgegen und die beiden schnitten ein anderes Gesprächsthema an.
Am Nachmittag vergroch Kathrin sich in ihr Zimmer. Jedoch nicht um zu schlafen (Kaffee war ein Geschenk der Götter), sondern um zu lernen. Sie lag auf ihrem Bett und las in ihrem Mathematik-Buch. Morgen war der große Tag, vor dem sich die meisten ihrer Mitschüler fürchteten. Sie würden eine Arbeit schreiben müssen. Kathrin hatte sich schon seit mehr als einer Woche vorgenommen gründlich zu lernen, um vielleicht Chancen auf eine Zwei oder - man durfte ja noch träumen - eine Eins zu haben. Ein guter Vorsatz, an den sie sich nicht gehalten hatte. Sie hatte die Arbeit vor sich hingeschoben, doch nun war keine Zeit mehr, um das Problem weiter so anzugehen. Würde sie heute nicht zumindest ein bisschen lernen, würde nächste Woche eine Fünf unter ihrem Test stehen. An eine Eins oder eine Zwei dachte sie schon lange nicht mehr. Kathrin versuchte krampfhaft sich zu konzentrieren.
Einmal hatte sie einen Aufsatz über ihren Bruder geschrieben. Das lag jetzt zwei Jahre zurück. Trotzdem erinnerte sie sich an den Inhalt, als hätte sie die zwei DIN A4 Seiten erst gestern abgetippt. Es war eine Hausaufgabe in Sozialkunde gewesen. Sie hatten das Thema Umgang mit Behinderten durchgenommen und anfangs war es Kathrin zuwider zewesen, über ihren Bruder zu schreiben. Doch man hatte es mehr oder weniger von ihr erwartet. Jeder wusste, dass sie einen behinderten Bruder hatte, auch ihr damaliger Lehrer. Er hatte sie angehalten, doch bitte über Martin zu schreiben, da sie damit viel zu dem Thema beitragen könne. Und schließlich hatte sie es getan.
Es war ein Aufsatz über Martins Tagesablauf und über sein Leben im Allgemeinen.
Es war ihr nicht schwer gefallen zu schreiben. Sie hatte sich an einem Abend mit einer Tasse warmen Kakao vor ihren PC gesetzt und einfach angefangen zu tippen. Wie im Rausch war es von statten gegangen, als sie erst einmal den Anfang gefunden hatte.
Der Anfang bestand darin, den Charakter ihres Bruders zu beschreiben, sein kindliches Wesen, das in dem Körper eines Erwachsenen steckte, glaubwürdig zu schildern. Eine Stunde später war sie fertig geworden, und sie hatte nicht gewusst, ob ihr Text nun genial oder abgrundtief schlecht geworden war, hatte nicht gewusst, ob er ihren Lehrer zufriedenstellen oder für Gelächter in der Klasse sorgen würde. Er war ein voller Erfolg gewesen und ihre Eltern waren stolz auf sie gewesen, als sie ihnen davon erzäht hatte. Vor Martin dagegen hatte sie sich geschämt und gewünscht, sie hätte auf ihren Aufsatz eine schlechte Bewertung bekommen. Sie war sich unglaublich dreckig vorgekommen, weil sie ihren Bruder missbraucht und ausgenutzt hatte.
Sie hatte aus seiner Behinderung ihren Vorteil gezogen.
In der vergangenen Nacht war es Martin gewesen, der sie irgendwie missbraucht und benutzt hatte, und trotzdem fühlte sie sich schmutzig und schlecht. Was für eine Welt!
Die Tür öffnete sich, und Kathrin zuckte zusammen. Sie schaute in das Gesicht ihres Bruders.
"Was willst du hier?", fragte sie und war bemüht normal zu klingen.
"Ich wollte dich fragen...", begann Martin. "Ich wollte dich fragen, ob... ob wieder alles gut ist?"
Damit hatte sie nicht gerechnet und darauf wusste sie auch keine Antwort. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass Martin wissen könnte, dass er letzte Nacht etwas Falsches getan hatte. Aber war es den überhaupt etwas Falsches?
Sollte sie so tun, als wisse sie nicht wovon er redete, und so das peinliche Ereignis als nicht wichtig abtun? Nein, das wäre falsch, beschloss sie.
"Ja", sagte sie deshalb. "Ich glaube, die Sache ist erledigt, und wir brauchen kein Wort mehr darüber zu verlieren." Sie hatte etwas gesagt, und sogar etwas Vernünftiges; sie fühlte sich erleichtert.
"Es tut mir trotzdem leid, Kathrin." Er sah sie mit traurigen Augen an. Sie verspürte Schmerz in ihrer Brust.
"Es war nicht richtig, was ich gemacht habe. Aber manchmal muss ich das machen. Manchmal habe ich Lust dazu. Marko aus der Werkstatt macht das auch, hat er mir gesagt. Ich..."
"Sei still, Martin!", schrie sie ihren Bruder an. Er fuhr zusammen, wie sie es wenige Augenblicke zuvor auch getan hatte.
"Ich will davon nichts hören", sagte sie wieder im normalen Gesprächston. "So was erzählt man niemanden, hast du gehört?" Martin nickte.
"Okay", sagte sie. "Die Sache ist erledigt, doch versprich mir, dass du das nie wieder machst."
"Ich verspreche dir das, Kathrin." Er hob die rechte Hand, als würde er vor Gericht einen Eid ablegen.
"Und jetzt lass mich in Ruhe! Ich muss noch für die Schule lernen."
"Du bist mir böse", sagte Martin. "Du magst mich nicht."
"Wie kommst du denn darauf", sagte sie. "Natürlich mag ich dich. Du bist mein Bruder."
"Aber wenn ich nicht dein Bruder wäre, würdest du mich nicht mögen, stimmt's?"
Ihr standen Tränen in den Augen, als er fertig gesprochen hatte. Wie hatte sie diesem zerbrechlichen, hilflosen Wesen nur böse sein können?
Selbsthass, ein ihr nicht ganz unbekanntes Gefühl, nahm Besitz von ihr. Sie stand auf, legte die paar Schritte bis zur Tür zurück und umarmte ihren Bruder. Sie klammerte sich regelrecht an ihm fest. Ihren Kopf legte sie auf seine Brust und mit ihren Händen krallte sie sich an seinem Rücken fest.
Martin stand einen Moment (für Kathrin war es ein unglaublich langer und quälender Moment) regungslos da, bis er seinerseits die Arme um seine kleine Schwester legte.
Kathrin weinte. Ihre Tränen machten den Stoff seines Holzfäller-Hemdes feucht, doch das schien ihn nicht zu stören. Sie war so glücklich einen Bruder wie Martin zu haben; sie war so unglaublich dankbar dafür. Nie wieder wollte sie böse auf ihn sein.
Es war der nächste Tag, als ihre Mutter das Gespräch mit ihr suchte. Kathrin hing bereits seit sie mit dem Mittagessen fertig war auf der Couch im Wohnzimmer und schaute fern. Sie sah Arabella, schaltete aber zwischendurch immer wieder auf VIVA oder MTV um.
Der Morgen war mieserabel verlaufen: Völlig verschlafen hatte sie sich in die Schule gequält, um dort dann die schlechteste Mathematik-Arbeit ihres bisherigen Schullebens zu schreiben.
Am Essenstisch hatte sie geschwiegen und sich aus allen Gesprächen zwischen ihrer Mutter und Martin rausgehalten. Sie hatte nur auf Fragen geantwortet und nach der Ketschup-Flasche gefragt (Spagetthis waren nur mit Ketschup zu genießen, so ihre Meinung). Ihrer Mutter schien sich an ihrem Verhalten nicht besonders gestört zu haben - wenn sie es überhaupt wahrgenommen hatte.
Vor dem Fernseher suchte Kathrin nun Entspannung und hatte sie auch für einige Zeit gefunden. Bis ihre Mutter die Tür geöffnet und sich neben sie auf die Couch gesetzt hatte. Einige Zeit war sie still geblieben und hatte ebenfalls, wie ihre Tochter, die Talk-Show verfolgt, in der es um Schönheits-OPs ging. Kathrin konnte ihren Atem in ihrem Nacken spüren - ein höchst unangenehmes Gefühl, dass sie doch ertrug, da sie sich sicher war, ihre Mutter würde den Raum gleich wieder verlassen. Doch Jutta ging nicht. Sie schaute auf den Bildschirm und schwieg.
Die Stille war fast ertrückend und lange hätte sie Kathrin nicht mehr ertragen, als ihre Mutter endlich anfing zu reden.
"Du warst heute so still", sagte sie. "Ist irgendwas? Bedrückt dich was?"
Kathrin wollte nicht antworten; sie wusste, dass, egal was sie sagte, es zu einer Diskussion kommen würde. Und ihr war nach keiner Diskussion - schon gar nicht mit ihrer Mutter.
"Nein", sagte sie, weil sie etwas sagen musste. Es war eine kurze, klare Antwort; eine Antwort, die ihre Mutter noch nie zufrieden gestellt hatte.
"Martin hat mir gesagt, dass es Probleme zwischen euch gibt", fuhr ihre Mutter nach einem kurzen Moment der Stille fort. Aha, dachte Kathrin, darauf läuft es also hinaus.
"Was hat er dir genau gesagt?", wollte sie wissen. Sie sah sich nach ihrer Mutter um. Dieser war anzusehen, dass es ihr peinlich war, darüber zu sprechen, dass sie es aber ebenfalls als ihre Pflicht ansah.
"Er hat gesagt, dass du ihn nicht mehr mögen würdest, nachdem... nachdem, was vorgestern Nacht vorgefallen ist." Warum konnte Martin nicht einfach mal seinen Mund halten und die Sache auf sich beruhen lassen? Kathrin spürte Zorn in sich aufflammen.
"Du musst verstehen", sagte ihre Mutter, und sie wusste, dass ihr eine Belehrung über den Umgang mit behinderten Menschen bevorstand, "dass Martin nicht so ist wie normale Jungen in seinem Alter. Er weiß eben nicht, wie er mit den Gefühlen, die er hat, umgehen soll. Für ihn ist das was, was er nicht versteht. Und du solltest ihm deswegen keine Vorwürfe machen."
"Das habe ich nicht!"
"Martin hat mir etwas anderes erzählt, und es ist ja ganz normal. Schließlich bist du soetwas ja auch nicht gewohnt. Ich bin dir deswegen nicht böse, mein Schatz. Ich will nur, dass du ihm das verzeihst und wieder freundschaftlich mit deinem Bruder umgehst."
Ihr Zorn richtete sich nun auch gegen ihre Mutter. Ihr pseudo-intellektuelles Geschwätz ging ihr gewaltig auf den Geist; welche andere Mutter würde schon sagen: ... freundschaftlich mit deinem Bruder umgehst?
"Ich bin ihm nicht mehr böse", verteidigte sie sich nochmals.
"Dann ist es ja gut, Schätzchen." Darauf hin ging ihre Mutter. Sie verließ das Wohnzimmer, ohne dass sich Kathrin im Klaren sein konnte, was ihre Mutter nun über die Sache dachte.
Es war Montag, draußen regnete es in Strömen und Kathrin saß auf ihrem Stuhl und wippte vor und zurück. Ihre Tischnachbarin sah sie misstrauisch an, doch das war ihr egal. Geistesabwesend starrte sie nach vorne; alle Gespräche, das ganze Getuschel und das Lachen ihrer Mitschüler waren weit, weit weg.
Es klingelte und eine neue Schulstunde fing an. Auf die Minute genau öffnete sich die Tür des Klassenraums und Herr Pfeiler kam herrein stolziert. Er war ein 40-jähriger mit Halbglatze und einem Bierbauch. Seine Nase zierte ein altes Brillengestell. Er war nur eine Vertretung.
Er legte seine Aktentasche aufs Lehrerpult und nahm dann dahinter Platz.
Kathrin wusste, was sich in der Aktentasche befand: Neben Büchern auch ihre Mathematik-Arbeiten.
"Bringen wir es schnell hinter uns", flüsterte sie so leise, dass Julia, ihre Tischnachbarin, es nicht hören konnte. Doch Pfeiler brachte es nicht schnell hinter sich: Mit Small-Talk über unwichtige Sachen verschwendete er die erste Viertelstunde. Dann schrieb er den Notenspiegel der Klassenarbeit an die Tafel: Nur drei Einsen, dafür aber vier Fünfen und sogar eine Sechs.
Als Pfeiler endlich umging und die Arbeiten verteilte, war sich Kathrin gewiss, dass sie den letzten Platz belegen würde. Er legte das Heft auf ihren Platz und sofort beugte sich Julia darüber, voller Neugier, welche Note ihre Freundin wohl haben würde.
Langsam, fast wie in Trance, schlug Kathrin die letzte Seite auf. Sie musste nicht lange suchen, bis sie die hingekritzelte Sechs im unteren Abschnitt des Seite fand.
"Verdammte Scheiße", murmelte Julia mit aufrichtigem Beileid. Kathrin nickte nur.
Ihr war diese Note ehrlich gesagt scheißegal, doch ihre Eltern würde sie schon mehr interessieren. Sie schlug das Heft voller Zorn zu, und stopfte es mit Wucht in ihren Schulranzen.
Zur Hölle damit!
Die Stunde ging irgendwann zu ende, und auch die darauf folgenden fünf. Gegen 13:30 Uhr war sie zu Hause und präsentierte ihrer schockierten Mutter die Sechs.
Es lief ab, wie sie erwartet hatte: Ein Mix aus Vorwürfen, Geschrei und Warnungen über ihre Zukunft musste Kathrin über sich ergehen lassen. Das Mittagessen wurde zu einem gegenseitigen Anschweigen aller anwesenden Parteien.
Nachdem sie die Nudeln aufgegessen hatte, floh Kathrin vor der Situation in ihr Zimmer.
Dort blätterte sie in der BRAVO, wo ihr die Gesichter von Stars und welche, die sich dafür hielten, entgegenlachten. Und plötzlich wurde ihr ganz wehmütig ums Herz. Sie schaute sich gerade Seiten an, auf den hübsche Mädchen die neueste Mode präsentierten, als die ersten Tränen ihre Augen verließen.
Martin würde niemals ein solches Mädchen bekommen, dachte sie. Keine von denen würde auch nur ein Wort mit ihm sprechen. Sie trieben sich mit Jungen herum, die super aussahen - gebräunte Körper, Waschbrettbauch, eine modische Frisur und die hippsten Klamotten - genauso, wie Kathrin es tat, weil ihr Aussehen sie dazu berechtigte. Doch das war irgendwie nicht fair, wie sie sich unter Tränen eingestehen musste. Irgendwie war nichts auf der Welt fair. Martin würde niemals wissen, was es bedeutete, wenn man von einem Menschen begehrt wurde. Er würde niemals die Lust des Körpers kennenlernen - jedenfalls nicht die eines anderen Menschen. Das alles wurde ihr mit einem Mal bewusst, und es erschlug sie fast mit Trauer.
Sie liebte ihren Bruder sehr und würde es nicht mitansehen können, wenn er als 30-jähriger alleine in einem kleinen Zimmer hocken würde und er noch nie die Liebe einer Frau kennengelernt hatte. Doch so würde es eben kommen, so musste es kommen!
Kathrin legte sich mit dem Bauch aufs Bett, stützte ihren Kopf auf ihre Arme und weinte jämmerlich. Sie hielt sich ihre Hände vors Gesicht und betrachtete ihre Finger: So zierlich, so sauber, so mädchenhaft zart... so schön. Und dafür hasste sie sich plötzlich. Ihr Weinen wurde zu einem Heulkrampf. Ihre Tränen und ihr Schluchzen verbarg sie in ihrem Kissen. Sie würde etwas ändern, ja, das würde sie! Sie würde diese Welt wenigstens etwas fairer machen!
Kathrin würde sich von ihrem Bruder ficken lassen!
Zumindest ein einziges Mal sollte er wissen, wie es sich anfühlt - der Sex mit einem schönen Mädchen, das alle begehrten.
Dieses Versprechen, das sie sich selbst gab, linderte ihren Schmerz etwas; es besänftigte ihn.
Sie redete sich immer wieder ein, dass sie es auch wirklich tun würde, dass das kein dummes Geschwätz, in einem Moment der Verzweiflung war, während sie ihren Kummer hinausweinte.
Jeder Gedanke, wie irrsinnig dieses Versprechen war, wie abartig und nicht durchführbar, wurde von ihr verdrängt. Sie würde es tun! Bei Gott, das würde sie! Sie war es Martin, ihrem Bruder, schuldig.
Kathrin hatte schon mit mehreren Jungen Sex gehabt. Drei Mal, um genau zu sein. Für ihr junges Alter eine beachtliche Anzahl, wie sie fand. Und irgendwie war sie auch stolz darauf. Sie mochte es, wenn man ihr das Gefühl gab, begehrt zu werden.
Ihr erstes Mal hatte sie schon mit dreizehn erlebt und, ganz im Gegensatz zu den Geschichten, wie man sie in der BRAVO las oder von anderen Mädchen hörte, war es ein wunderbares Erlebnis gewesen. Schmerz ja, aber die Situation war einfach zu berauschend, zu geil gewesen, um ihn richtig wahrzunehmen. Jan hatte er geheißen, war zwei Jahre älter als sie gewesen, und hatte es ihr richtig besorgt. Sie war nur drei Wochen mit ihm zusammen gewesen, doch die sexuellen Erfahrungen waren ordentlich gewesen. Würde sie kitschige Liebes-Romane schreiben, würde sie es so ausdrücken: Er hatte sie in die sinnliche und körperliche Liebe eingewiesen, hatte ihr Gefühle geschenkt, die sie noch nie zuvor erlebt hatte.
Trotzdem hatten sie nur einmal miteinander geschlafen. Das zweite Mal Sex war auf einer Party passiert, die eine ihrer Freundinnen gegeben hatte. Michael Brenner hatte er geheißen, von allen nur Possman genannt (nach der Vorliebe für ebensolchen Apfelwein). Er hatte noch besser ausgesehen als ihr Ex-Freund, und zudem war noch jede Menge Alkohol im Spiel gewesen. Possman kannte sie von der Schule, hatte aber vorher nie ein Wort mit ihm gewechselt. Er hatte sie zum Tanzen aufgefordert und dann hatte Eines das Andere ergeben: Zuerst ein Kuss, danach waren sie vor die Tür gegangen um Spazierenzugehen. In einem Kornfeld hatte er sie dann flachgelegt. An vieles, was an diesem Abend geschah, hatte sie keine Erinnerung mehr, aber sie wusste noch, wie scharf sie auf ihn gewesen war. Wieder auf der Party, war das Gemunkel groß gewesen, doch Kathrin hatte vor all ihren Freundinnen wehement bestritten, dass da was gelaufen sei. Nach diesem Abend hatte sie nie wieder ein Wort mit ihrem Liebhaber gewechselt, was okay für sie war.
Ihre Mutter hätte sich wahrscheinlich das nächstbeste Fenster gesucht, um sich daraus zu stürzen, wenn sie das gewusst hätte. Aber Kathrin fand nichts Anrüchiges daran, sich einem Fremden für eine Nacht hinzugeben - wie liberal sie doch war!
Das dritte und bis zum heutigen Tag letzte Mal konnte mit den Vorgängern in keinster Weise mithalten. Ein halbes Jahr hatte die Beziehung zu ihrem letzten Freund gedauert, und nur ein Mal war es zum Geschlechtsverkehr gekommen. Überhaupt war diese Beziehung ziemlich unterkühlt gewesen. Sie hätte schon viel früher Schluss gemacht, wenn sie den Mut dafür aufgebracht hätte. Joschua war irgendwie ängstlich, wenn es um Berührungen ging, und von Romantik hatte er nicht viel verstanden. Ihre Freundinnen hatten sie um Joschua beneidet, weil sie ihn so süß fanden. Kathrin hatte dieses Spiel mitgespielt und ihnen die tollsten Geschichten über ihn erzählt. Aber bis auf sein Äußeres hatte Joshua nicht viel zu bieten gehabt.
Warum sie all das in ihren Gedanken noch einmal Revue passieren ließ: Weil sie sich fürchtete. Die Angst ließ ihr Herz schneller schlagen und beschleunigte ihren Atem. Was tat sie bloß?
Wie hatte sie diesen Entschluss fassen können? Sie wollte nur noch weg von hier. Sie wollte diese Situation hinter sich lassen...
Und deinen Bruder lässt du im Stich? Ja, verdammt, das hätte sie vielleicht besser tun sollen. Vielleicht würde es für ihn sowieso keine große Sache werden. Vielleicht würde es ihm sogar überhaupt nicht gefallen.
Dir hat es gefallen - sehr sogar. Warum sollte es ihm also keinen Spaß machen?
Weil er ein verdammter Behinderter ist!
Ist das ein Grund? Fühlen diese Menschen kein sexuelles Verlangen?
Doch das taten sie, dass wusste Kathrin - sie hatte es im Internet gelesen. Und sie würde es tun! Sie hatte den Beschluss gefasst, und sie würde es tun! Alles andrere wäre feige.
Kathrin ging zum Fenster und öffnete es. Die Luft, die von draußen reinkam, war kühl. Die Nacht war klar und das Himmelszelt war überfüllt von glitzernden Sternen, die alle ihre eigenen Geschichten zu erzählen hatten.
Aus ihrer Jeans holte sie eine Schachtel Marlboro. Sie holte eine Kippe heraus (was kein leichtes Unterfangen war, da ihre Finger zitterten) und steckte sich den kleinen Todbringer zwischen die trockenen Lippen. Die Flamme des Feuerzeugs durchbrach wenig später kurz die Dunkelheit.
Nach dieser Zigarette würde sie gehen! Dann gab es kein zurück mehr. Kathrin schaute aus dem Fenster und horchte dem sanften Wind, der die Blätter eines Baumes rascheln ließ.
Sie zog an diesem Abend nie tief an der Zigarette. Sie nahm nur kurze Züge, um länger am Fenster stehen zu können, und um den Moment, da sie zu ihrem Bruder gehen würde, hinauszuzögern. Der Tabak tat ihr gut. Vermutlich würde er sie eines Tages ins Grab bringen, aber im Augenblick tat er ihr gut. Auch das würde ihre Mutter zur Weißglut treiben, dachte sie. Ihre eigene kleine Tochter raucht heimlich in ihrem Kinderzimmer. Doch das, was Kathrin vor hatte, würde ihre Mutter sicherlich umbringen.
Denk nicht daran, denk verdammt noch mal nicht an das, was du gleich tun wirst! Denk an was Schönes, lenk dich ab!
Aber es fiel ihr nicht leicht; vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie Martin sich mit seinem dicken Körper auf sie legte, und wie sie seinen Atem in ihrem Gesicht spürte. Es war widerlich sich dies vorzustellen, doch das Bild verschwand nicht mehr aus ihrem Kopf. Und wie würde sie sich erst fühlen, wenn es Realität war? Sie konnte Martin nicht zeigen, dass sie sich dabei ekelte; dass sie sich vor ihm ekelte. Sie musste so tun, als würde sie selbst auch Spaß an der Sache haben.
Kathrin sah auf ihre Hand, in der, zwischen Zeige- und Mittelfinger die Marlboro steckte. Sie erschrag, als sie sah, dass die Zigarette schon halb geraucht war. Entgegen ihrer Gewohnheit entschied sie, die Zigarette bis zum Filter zu rauchen. In Gedanken hörte sie kurz ihre Mutter sprechen, die sie davor warnte, dass das meiste Gift im unteren Teil der Zigarette zu finden war.
Es dauerte lange, bis sie fertig war, und die Kippe aus dem Fenster schnippste. Für sie war die Zeit dennoch zu kurz gewesen. Einen Moment lang dachte sie darüber nach, ob sie sich noch eine anstecken sollte, entschied sich aber dagegen. Sie konnte es nicht länger aufschieben, mit der insgeheimen Hoffnung, sie würde das alles als eine beschissene Idee bezeichnen und sich eine perverse Idiotin deswegen nennen. Kathrin war sich sicher, wenn sie es nicht jetzt sofort tat, würde sie der Mut verlassen, der sowieso nur noch ein kleiner Zwerg war, im Vergleich mit ihrer Scham und Angst.
Sie ging zu ihrem Nachtschränkchen, wo sie ihren Geldbeutel aufbewahrte. Daran befand sich, im letzten Fach für die Scheine, ein Kondom.
Kathrin öffnete die Tür ihres Zimmers einen Spalt breit und lauschte, ob sie irgendwas von unten her hören konnte. Nichts: Ihre Eltern schienen zu schlafen. Auch vom Nebenzimmer drangen keine Geräusche zu ihr. Auch Martin schlief bereits; das war gut so.
Auf Zehenspitzen legte sie das kurze Stück bis zu seinem Zimmer zurück. Die Hand am Türgriff, atmete sie noch ein letztes Mal tief durch. Langsam schob sie die Türe auf und wartete, bis sich ihre Augen einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Das Licht wollte sie auf keinen Fall einschalten: Vermutlich wäre Martin dadurch wachgeworden und das hätte ihr ganzes Vorhaben zunichte gemacht. Sie wollte ihm im Schlaf überraschen, dass war leichter.
Ein flaues Gefühl besetzte ihren Magen. So hatte sie sich auch bei ihrem ersten Zungenkuss gefühlt.
Sie schaute sich um. Martins Zimmer sah aus, wie das Zimmer eines jeden Jugendlichen (war Martin eigentlich noch ein Jugendlicher mit 21? Ja, entschied sie): Poster von Linkin Park, Limp Bizkit und Eminem, der jeder Welt seinen Mittelfinger präsentierte, zierten seine Wände.
Rechts von der Tür befand sich ein Bücherregal, das ihr Vater und Martin im letzten Sommer zusammen gebaut hatten. Kathrin erinnerte sich, wieviel Spaß sie dabei gehabt hatten, und ein Gefühl der Wehmut ergriff sie plötzlich, aber hart. Sie hatten jeden Nachmittag daran gearbeitet; solchen Enthusiasmus hatte sie bei ihrem Vater schon lange nicht mehr erlebt.
Kathrin hatte sich manchmal auf Martins Bett gesetzt und ihnen eine Weile dabei zugesehen.
Es war schön gewesen - warum auch immer. Natürlich hatte sich ihr Bruder nicht gerade geschickt dabei angestellt, doch ihre Vater hatte nie auch nur einen Ton gesagt, wenn Martin mal wieder einen Nagel abgebrochen, oder schief eingehämmert hatte. Dafür hatte sie ihren Vater abgöttisch geliebt.
Das Regal war voll mit Büchern, die sich über die Jahre hinweg angesammelt hatten. Martin war ein begeisterter Leser, anders als sie, die in ihrem Leben nur zwei Romane hinter sich gebracht hatte, und die musste sie im Deutsch-Unterricht lesen. Sie hasste Bücher - diese 500/800 Seiten Monster mit Scheiße - doch ihrem Bruder schenkten sie ein besseres Leben, und dafür war sie dankbar. Doch Martin war alles andere, als ein schneller Leser. Es waren vielleicht drei Bücher, die er im Jahr schaffte, und das, obwohl er jeden Tag in ihnen las.
Sie hörte ihn atmen und es ekelte sie an. Sie verabscheute jede Art von Intimität mit ihrem Bruder. Sie hatte es gehasst, wenn er sie in den Arm genommen oder hochgehoben hatte, als sie noch ein kleines Kind war. Auch ein einfacher Händedruck, oder ihn beim Zähneputzen zu zusehen war ihr unangenehm. Sie verabscheute sich dafür, doch daran konnte man halt nichts ändern.
Der Umgang mit Behinderten war ihr generell zuwider. Martin war in einer Gruppe, einer Art Gesprächsrunde, in der mit Behinderten über deren Probleme im Alltag diskutiert wurde.
Die Sitzungen fanden einmal wöchentlich statt, in Fonheim, der nächst größeren Stadt.
Jedesmal fanden sich dort ca. zwanzig behinderte Menschen zusammen und redeten unter der Führung einer Sozialarbeiterin der Stadt. Einmal im Monat kamen dort auch die Angehörigen, der zumeist Jugendlichen, zusammen. Bei drei dieser Treffen hatte Kathrin bislang teilgenommen und jedesmal war sie froh und erleichtert gewesen, als die zwei Stunden zu ende waren.
Es war eine bedrückende Situation: Man saß sich gegenüber und schwieg meist, oder versuchte sich ein Lächeln zu verkneifen, wenn einer der Behinderten etwas Dummes anstellte. Ihr taten diese Menschen leid, doch hatte sie auch gleichfalls Ekel empfunden. Allein ihre Gesichter waren hässlich, und wenn sie sich die Finger in die Nase steckten...
Im Bett gab Martin ein Geräusch von sich. Er musste einen sehr lebendigen Traum haben, dachte sie, denn er gestikulierte wild mit seinen Armen und wandte den Kopf ständig von links nach rechts. Sie beobachtete dies und hoffte er würde noch nicht aufwachen. Als er sich wieder beruhigt hatte - sprich: Als er wieder ruhig in seinem Bett lag und nichts außer einem leisen Atmen von sich gab - schlich sie zu seinem Bett. Sie stellte sich an die Seite, fasste mit ihren Fingern in die Furche zwischen Matraze und Gestell und suchte all ihren Mut zusammen.
Noch ein letztes Mal machte sie sich klar, warum sie dies tat.
An der Wand, an der das Bett stand, war das Poster von Avril Lavigne. Es war aus der BRAVO, und sie hatte es ihm, auf sein Bitten hin, geschenkt. Es zeigte sie in aufreizender Pose: Kurzes Top, das ihre Titten betonte (durch den Stoff konnte man die Umrisse ihrer Nippel erkennen), und einen Blick auf ihren flachen Bauch freigab, dabei trug sie Hot-Pants, die eng an ihrer Hüfte saß. Avril befand sich in der Hocke, und somit befand sich ihr Intimstes im Mittelpunkt des Posters. Jeder Halbwüchsige würde bei diesem Anblick dahinschmelzen und in manchen Stuationen sogar einen Ständer in seiner Hose bekommen (sie war aber auch ein geiles, kleines Luder). Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, ob ihr Bruder bei diesem Anblick ähnliche Gefühle bekam, oder ob er sogar manchmal darauf... wichste.
Kathrin streckte ihre Hand aus. Mit ihren Fingern fasste sie vorsichtig die Bettdecke und zog sie zurück. Martins Schlafanzug kam zum Vorschein: Er war peinlich und der eines Kindes. Ein babyblaues Teil, verziert mit Blumen in allen nur erdenklichen Farben. Martins Bauch war dick und wuchs unter dem engen Stoff zu einer Kugel herran.
Kathrin zog die Decke so weit zurück, bis auch Martins Füße frei lagen. Seine Zehen waren aufgedunsen und die Nägel nicht geschnitten. Das alles konnte sie in der Dunkelheit erkennen. Okay, jetzt ist es soweit. Nun gibt es kein zurück mehr, du hast dich dafür entschieden. Denk nicht an Morgen oder an Übermorgen, im Moment zählt nur das Hierundjetzt!
Und so tat sie, was sie tun musste: Sie griff an den Bund von Martins Schlafanzughose und zog diese schnell nach unten. Danach zögerte sie nicht, sondern tat mit seiner Boxer-Shorts das Selbe. Zum ersten Mal, seit dem Kindesalter sah sie seinen Penis. Er wirkte auf sie wie ein Ungetüm.
Er war zwar nicht groß (zumindest nicht im schlaffen Zustand), aber dafür breit. Er war dunkel, und stand somit im Kontrast mit der bleichen Farbe der Oberschenkel und des Bauches. Es war ein schöner Penis, wie Kathrin zugeben musste. Das hatte sie nicht erwartet. Sie fühlte sich sogar von ihm angezogen.
Sie berührte ihn sanft und sah fasziniert dabei zu, wie er zu seiner vollen Größe anwuchs.
Das darfst du nicht tun, das darfst du nicht tun, das darfst du nicht tun...
Ich muss es tun!
Und sie tat es. Sie zog sich ihr Top und ihre Jogging-Hose aus und stand nur noch in Unterwäsche vor ihrem schlafendem Bruder.
Danach wirst du ihm nie wieder in die Augen sehen können!
Ich weiß!
Danach wirst du deinen Eltern nie wieder in die Augen sehen können!
Ich weiß!
Nach dieser Nacht wirst du nie wieder einen Jungen berühren, geschweige denn mit ihm schlafen können!
Ich weiß! Das macht mir nichts aus!
Du wirst dir nie wieder in die Augen schauen können, dein Körper wird sich missbraucht vorkommen - du wirst dich für deinen Körper schämen und beim Anblick deines Ficklochs wirst du in Tränen aussbrechen und dir wünschen, du hättest es nie getan!
Vielleicht! Aber ich muss es tun! Ich liebe meinen Bruder und ich will, dass er zumindest einmal körperliche Liebe kennenlernt!
Er war noch nicht erwacht. Ihre Berührungen hatten Martin nicht die Augen aufschlagen lassen.
Mit Überraschung nahm sie wahr, dass es ihr viel schwerer fiel, sich vorzubeugen und ihm einen Kuss auf die Lippen zu geben, als seinen Schwanz zu berühren. Sie spürte seine rauhen, kalten Lippen auf ihren eigenen und dachte daran, dass sie später vielleicht würde kotzen müssen.
Du musst ihm zeigen, dass es dir nichts ausmacht, dass es dir sogar gefällt ihn zu berühren...
Plötzlich kam ihr ein ganz anderer Gedanke, der so plausibel war, dass sie ihm schlicht und einfach bis jetzt keine Beachtung geschenkt hatte: Was war, wenn Martin ihren Eltern davon erzählen würde? Was würde dann passieren?
Über sowas wurde man in Talk-Shows oder beim Dr. Sommer-Team natürlich nicht aufgeklärt.
Würden sie denken, sie wäre eine Perverse? Würden sie sie ins Heim oder (noch schlimmer) in die Psychatrie stecken, wo alle Leute wissen würden, weswegen sie dort war? Kathrin würde an dieser Scham zu Grunde gehen.
Denk nicht länger darüber nach, sondern tu's endlich!
Sie zog sich ihren Slip runter bis zu den Knöcheln, und stieg dann aus ihm. Danach bückte sie sich und hob ihre Jogging-Hose auf. In den Taschen kramte sie nach dem Kondom. Sie war erschüttert, als sie den Latex in ihrer Hand spürte: Bis dahin hatte es immer noch ein Zurück gegeben, jetzt nicht mehr - jetzt war es endgültig.
Sie hatte schon mehreren Jungs ein Gummi über ihre Pimmel gestreift, doch noch nie war sie so aufgeregt gewesen, noch nie hatte ihr Herz so sehr gegen ihren Brustkorb geschlagen, und noch nie zuvor war ihre Atmung so ungleichmäßig gewesen. Die ersten Versuche schlugen fehl, und sie war schon besorgt (erleichtert?), das ganze Unternehmen würde daran scheitern, doch schließlich gelang es ihr, das Kondom über den Penis ihres Bruders zu schieben. Dieser war noch immer nicht aufgewacht.
Kathrin schob sich einen Finger in ihre Spalte: Sie musste feucht werden. Es war kein leichtes Unterfangen, doch schließlich gelang ihr auch das - irgendwie. Sie legte eine Hand auf die breite Brust ihres Bruders und setzte sich auf seinen Unterleib. Sie führte den Penis in sich ein und versuchte sich abzulenken, indem sie an einen Horror-Film dachte, der ihr erst letzten Monat höllische Angst eingejagt hatte.
Als sie hinunter auf das Gesicht ihres Bruders sah, bemerkte sie, dass er seine Augen aufgeschlagen hatte und sie anblickte, als wäre es die natürlichste Situation, in der er sich jemals befunden hatte. Dann schlossen sich seine Augen ganz plötzlich wieder, und Kathrin fragte sich, ob er alles für einen Traum hielt. Doch dann fing er an zu stöhnen und sie bemerkte, wie Martin seine Hüften bewegte. Kathrin bewegte sich auf ihm, an ihren Wangen liefen Tränen hinab.
ENDE
20. 07. 03