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Opferfest
„Dass uns die Götter mit Ernte beschenken!“ Die Stimme des Opfermeisters füllte das Feld. Seine Arme gestreckt in Richtung des Himmels. Ein hölzernes Amulett baumelte um seinen Hals, schluckte das Licht der Fackel. Die Menge folgte gebannt den Flammen. Langsam senkte er sie zum Fundament des Scheiterhaufens. Kreisförmig breiteten sie sich aus. Erst stieg eine Menge Rauch auf, doch mit der Hitze des Feuers entzündeten sich die Gase bald. Der Opfermeister starrte ins Feuer. Es erfasste die Wachsfigur, sie thronte auf dem Feuer. Glühende Holzscheite taumelten herunter. Mit lautem Zischen vertrieben sie die Feuchtigkeit der Wiese. Die Menge johlte, als der Scheiterhaufen kollabierte und nur Glut und Asche blieb. An den kleinen Lagerfeuern versammelte sich das Dorf. Die Alten und die Jungen. Der Mond und die knisternden Flammen lauschten den Geschichten.
Karl wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine Stiefel versanken in der sumpfigen Wiese am Waldrand. Trotz dem Schatten der Bäume, lastete die Hitze schwer auf ihm. Im Tal war es völlig windstill. Die hohen Gipfel, die das Dorf von drei Seiten einkreisten, hemmten jeden Wind. Doch manchmal fand er doch seinen Weg ins Tal, rüttelte des Nachts an den Fensterläden. Mit ihm kamen die dunklen Kreaturen des Waldes.
Er sammelte Äste. Die Sonne senkte sich über den Berggipfeln und tauchte die kargen Felder in ein müdes Rot. Karl hatte sich den Korb mit dem Feuerholz über den Rücken geworfen und trottete auf dem Pfad. Als er das Dorf erreichte, drehte er sich zu den Bergen. Die Sonne war jetzt hinter den westlichen Gipfeln verborgen. Der schneebedeckte Bergkamm glänzte noch rötlich. In der Dämmerung folgte er dem Abstieg, über das obere Drittel, welches völlig von Schnee bedeckt war, zu den bewaldeten Hängen weiter unten. Karl erreichte seine Hütte und stellte den Korb neben den Kamin. Seine Mutter saß am Feuer und war damit beschäftigt in die Leere zu starren. Sie blickte kurz auf, lächelte ihm zu.
„Hast du gehört, was Heinrich gesehen hat?“ Die Stimme seines Cousins holte seine Aufmerksamkeit zurück. Karl erhob sich vom Rand des Dorfbrunnens, klopfte sich den Dreck von der Hose.
„Was hat er denn gesehen?“ Sein Cousin begann breit zu grinsen.
„Die Werwölfe!“ Seine Stimme überschlug sich. Er suchte seine Augen, als hoffte er Furcht in ihnen zu sehen. Karl grinste nur.
„Sicher hat er das.“ Das Heulen eines Wolfes imitierend, machte er sich davon. Karl blickte ihn nach und schüttelte sachte den Kopf. Er setzte sich auf den Brunnenrand. Seine Schultern sanken ein, er rutschte auf dem kalten Stein hin und her. Längst hätte sie da sein müssen. Nervös trommelte er auf den rauen Stein. Die Zeit rieselte weiter davon und immer noch kein Zeichen von ihr. Sie kam auf den Dorfplatz, die ihm so vertrauten roten Zöpfe flatterten im Wind. Sie setzte sich neben, ein breites Lächeln im Gesicht.
„Hast du lange auf mich gewartet?“, fragte sie und blickte ihn mit blauen Augen an, in denen er sich zu häufig verlor. Karl biss sich auf die Lippe, lächelte nur.
„Nicht lange.“ Sie behielt ihr Lächeln, griff nach seiner Hand.
„Komm! Hier sind zu viele Leute.“ Sie folgten dem breiten Pfad, der sich durch die Siedlung schlängelte. Sie passierten die vom Wind gezeichneten Hütten der einzelnen Familien. Die Bretter, die nur notdürftig gegen den Wind abgedichtet waren vom Moos überwachsen. Vorbei am Haus des Opfermeisters, frei von den Spuren der Witterung. Über der Holztür thronte ein bronzener Drache. Sie überquerten die Holzbrücke am Dorfrand, die den einzigen Strom im Tal überspannte. Das Holz war morsch, die einzelnen Bretter bogen sich unter ihnen. Glasklar rauschte das Wasser vor sich hin. Sarah zog ihn weiter. Sie ließen die kargen Felder hinter sich und steuerten auf den Wald zu.
„Wir sollten nicht so weit gehen“.
Karl versuchte sie zu fassen bekommen. Doch sie wich flink seinen Arm aus und huschte weiter davon. Bald nahmen die Baumkronen ihnen das Sonnenlicht. Am Stamm einer Eiche, ließen sie sich im Gras nieder.
„Hier draußen ist es so friedlich“, setzte sie an. Karl wandte sich zu ihr. Sie rückte näher, er konnte ihren Atem spüren. Ein Vogel landete auf einem Ast über ihnen, musterte sie mit misstrauischen kleinen Augen.
„Ob wir das Tal je verlassen?“, fragte sie. Karl starrte sie nur an.
„Willst du es?“, antwortete er leise und legte sachte seinen Arm um sie.
Sarah hob den Kopf von seiner Schulter und blickte ihn weiter mir ihren blauen Augen an. Stumm saßen sie da und starrten auf die kargen Felder. Sie beugte sich nach vorne und pflückte ein Gänseblümchen. Sie hob es vor ihr Gesicht.
„Will ich das?“
Karl schloss seinen Arm enger um sie und rückte heran. Als die Sonne hinten den Bergen verschwand, rafften sie sich auf. Die Sonne trieb den Schweiß aus den Poren, als sie auf den Felder das Unkraut harkten. Die Kinder schufteten stundenlang in Lumpen. Sie scheuchten die Vögel auf, wann immer sie sich in die Felder setzten, um Jagd auf die Saat zu machen. Als sich die Blätter bunt färbten, schleppten sie schwer unter der Last der Ernte. Doch immerhin hatten sie Ernte.
„Hast du gehört, die Elena ist verschwunden“, seine Mutter blickte kurz von ihrem Strickzeug auf, als er in die Hütte eintrat. Karl ließ sich auf dem alten Hocker nieder. Er versuchte ein Bild dieser Elena vor seinem Auge zu beschwören.
„Wer ist das?“, fragte er leise, den Blick gesenkt. Seine Mutter hielt bei der Arbeit inne und legte ihr Gesicht in Falten.
„Wirst du dir je einmal etwas merken.“
Karl stand vom Hocker auf und schlenderte in Richtung der Feuerstelle, nur um gleich wieder umzudrehen. Vom Feuer war nur Glut geblieben.
„Man könnte meinen“, fuhr sie leiser fort. „Man könnte den Leuten hier Vertrauen“ Karl zog die Augenbrauen hoch.
„Sind es nicht etwa die Kreaturen des Waldes?“
Seine Mutter schaute ihn an als hätte er den Verstand verloren. Er wich ihren Blick aus.
„Sag ja nicht, du glaubst die Märchen deines Großvaters immer noch“, grummelte sie zurück. Karl zuckte nur mit den Schultern und verließ die Hütte, ohne noch ein Wort zu verlieren.
Die Flammen schlugen in die Höhe. Züngelten nach der Wachsfigur. Flammen und Glut trieben die Hitze, die ihr Gesicht verzerrte. Die Kinder standen in vorderster Reihe und johlten. Die Flammen spiegelten sich in ihren Augen und ließen ihr schweißgetränkten Stirne glänzen.
Karl saß abseits der Gruppe auf einen Zaun. Von seiner leicht erhöhten Position beobachte er das Treiben um die vielen kleinen Feuer, die entfacht worden waren, um die Feierenden warm durch die Nacht zu bringen. Im Gewimmel konnte er kaum mehr einzelne Personen ausmachen, zu sehr waren sie in ausgelassenen Tänzen verschlungen. An diesem Abend wollte er seinen Abstand halten. Aus dem Augenwinkel sah er, dass sich jemand näherte. Lächelnd drehte er sich um und blickte in zwei ihm vertraute Augen.
„Du bist ganz schön schwer zu finden“, sagte sie lachend und sprang neben ihn auf den Zaun. Sie ließ die Beine baumeln und rutschte etwas näher an ihn heran.
„Ist dir nicht nach einem Tanz?“, fragte sie. Er lächelte nur.
Die Flammen knisterten, die Funken stoben in unregelmäßigen Abständen vom Feuer und entwichen glimmend in die Herbstluft. Der Wind trug die heiteren Stimmen. Sie hatten ihre Wägen im Halbkreis abgestellt. Eine alte Gewohnheit, die sie auf ihren Reisen gebildet hatten. Die Flaschen klirrten. Der Schnaps floss und floss. Von Zeit zu Zeit verließ einer der Schausteller das einsame Feuer, um zu den Feierenden hinüberzugehen. Der Jongleur hielt zehn Bälle aus Leder in der Luft, der Feuerspucker wurde zum Drachen. Je später die Stunde, desto länger fanden sie sich am eigenen Feuer. Unzählige Flaschen zierten die Wiese. Die Dorfbewohner hingen bereits über den Tischen oder lagen in der Wiese. Die Schausteller schafften neues Feuerholz heran und luden weitere Kisten von ihren Karren, um allem am Feuer Platz zu bieten. Nur eine einzige löcherige Kiste, mit Seilen festgebunden, verblieb auf dem Wagen.
Sein fünfzehnter Geburtstag war ein sonniger Tag. Kein Wind. Noch nicht einmal ein Luftzug machte sich bemerkbar, als er seine Hütte verließ. Wie so oft in diesen Wochen, ging er in Richtung des Stroms, um Wasser zu schöpfen. Der Dorfbrunnen war trockengefallen und seine Mutter hatte immer mehr Schwierigkeiten weitere Strecken zu Fuß zu gehen. Für den Opfermeister war es eine Strafe der Götter, für ihn ein Ärgernis. Am Ufer sanken seine zerfledderten Stiefel bis zum Knöchel in den Sand. Er versenkte den Eimer. Karl ließ ihn einen Augenblick unter der Oberfläche verweilen. Der Schnur als Henkel schnitt tiefer in seine Hand, als er den Weg zurück zum Dorf folgte. Seine Stiefel kratzen über den Kies. Als er sich den ersten Häusern näherte, begann er leise zu pfeifen. Er passierte das Gatter, in dem Ziegen hausten. Ein älteres Tier stand am Zaun, zermahlte in Monotonie Stroh. Karl stellte den Eimer ab. Er ging zum Gatter hinüber und griff nach der Ziege. Sachte streichelte er ihr durchs Fell. Die Ziege mampfte weiter. Nach einer Weile wandte er sich ab. Karl pfiff, als er die letzten Meter zu seinem Haus ging.
„Das hat auch lange genug gedauert“. Die Augen seiner Mutter waren eingefallen. In ihren Bewegungen lag eine Trägheit, die ihm bisher fremd war. Karl folgte ihr in die Wohnung. Er hievte den Eimer auf den kleinen Holztisch, der neben der Feuerstelle stand. Dann ging er zum Regal hinüber, um einen rostigen Krug zu holen. Er drückte ihn seiner Mutter in die Hand.
„Ich muss noch etwas Feuerholz schlagen“, verabschiedete er sich von ihr und verschwand durch die Tür. Er griff nach der alten Axt, die an der Hauswand lehnte und machte sich auf den Weg. Er durchquerte das Dorf und folgte dem einzigen Pfad, die aus diesem Tal führte.
„Karl!“
Er drehte sich um. Wieder die roten Zöpfe.
„Was ist los“, fragte er, konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie hatte ihn inzwischen fast erreicht und stützte die Arme auf ihre Knie. Ihr Atem war kurz.
„Du gehst in den Wald nicht?“ Karl legte den Kopf zur Seite.
„Nun“, begann er. „Ich muss Holz hacken“
„Reicht es nicht am Waldrand zu sammeln?“
„Dort haben sie die guten Bäume alle schon gefällt“.
Das war der Plan, den er in seinem Kopf geformt hatte. Wenn er dem schmalen Pfad folgte, der ihre einzige Verbindung zur Außenwelt darstellte, würde er tiefer in den Wald kommen, ohne Gefahr zu laufen sich im Dickicht zu verlieren. Er fasste ihr an die Wange, verabschiedete sich. Der Schatten der Bäume legte sich über ihn. Das Rauschen des Windes in den Kronen, so schien ihm es, wurde mit jedem Schritt lauter. Ruhelos hasteten seine Augen von links nach rechts, versuchten im Dickicht abseits des schmalen matschigen Pfades etwas zu entdecken. Da waren nur Sträucher. Vogelbeeren. Brennnesseln. Dornen, die nur darauf warteten, sich durch seine Kleidung zu schneiden. Ein fernes Heulen. Sein Herzschlag beschleunigte sich augenblicklich, pochte in seinen Schläfen. Karl schluckte. Weit weg. Sie waren weit weg. Er zwang sich weiterzugehen, hielt die Axt fester umklammert.
Nach einigen Dutzend Schritte im Schatten der Bäume, hielt er inne. Zu beiden Seiten erhob sich Buschwerk. Dichte Ranken und Sträucher. Besetzt von Beeren, die mit Sicherheit für ihn giftig waren. Wie sollte er hier zu den Bäumen durchbrechen? Sein Blick wanderte nach oben, über das Gras und das flachere Buschwerk. Endlich fand er einen passenden Baum. Er trat das Gras um den Stamm platt und versenkte die Axt im Holz. Schlag um Schlag, bis er fiel. Es roch nach Sumpf und Pilzen. Vielleicht versank der Wald irgendwo tiefer im Dickicht in moorigem Gelände. Karl schleifte ihn auf den Pfad. Die nächste halbe Stunde verbrachte er damit, das geschlagene Holz zum Dorfrand zu transportieren. Als er mit der Arbeit fertig war ließ er sich auf einen Stein nieder. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und verspürte eine gewisse Befriedigung angesichts des Ergebnisses.
„Hast du schon gehört“, begann seine Mutter, als er, nachdem er das Holz vor der Hütte auf geschlichtet hatte, hereingekommen war. Es roch nach Kartoffelsuppe.
„Wer ist jetzt verschwunden?“
Sie antwortete ihn nicht sofort, stattdessen rührte sie die Speise, die über dem Feuer brodelte, um. Dann wandte sie sich ihm zu. Waren das getrocknete Träne auf ihrem Gesicht?
„Die Werwölfe sind fleißig“, sagte er ohne Regung in der Stimme.
Der Winter war milde. Eines Tages stand er am Gatter, fütterte die Ziegen aus seiner Hand. Der Herbstwind, der über das Tal wehte, zeugte davon, dass das Fest nahte. Ein Zwicken in seiner Hand holte seine Aufmerksamkeit zurück zu den Ziegen. Sie knabberten jetzt an seinen Fingern herum. Karl zog seine Hand weg, griff nach frischem Stroh.
„Solltest Du nicht deiner Mutter helfen?“
Die tiefe Stimme schreckte ihn auf. Er drehte sich um und starrte in alte graue Augen. Er war aus dem Nichts gekommen. Der Opfermeister hielt seinem Blick stand, blinzelte kein einziges Mal. Seine grauen Haare hingen zu beiden Seiten seines faltigen Gesichts herunter, verdeckten seine Ohren. Es gab ihm den Anschein eines Wilden.
„Ja, sollte ich wohl“, gab Karl knapp zurück, wandte sich von den Ziegen ab. Ohne den Opfermeister noch einmal anzuschauen, eilte er in Richtung seiner Hütte.
Sarah kam nicht mehr zum Brunnen. Ihre Schwester war vermisst und die Angst und Sorge hatte sich auch auf die andere Tochter ausgeweitet. Das Haus durfte sie nicht mehr ohne Begleitung einer ihrer Cousins verlassen. Damit waren ihre Spielereien beendet. Karl stand allein am Rande des Dorfplatzes und lehnte an einem alten, morschen Zaun. Am Brunnen spielten zwei kleine Kinder. Wühlten mit beiden Händen im Dreck und bewarfen sich und die Dorfbewohner, die ihnen zu Nahe kamen, damit. Er beachtete sie nicht, starrte gedankenverloren durch sie hindurch.
Warum wurde nie ein Suchtrupp organisiert? Kinder lösten sich nicht in Luft auf. Vielleicht in den großen Städten in den Tälern. Nicht in einem so kleinen Dorf. Nicht in einer so verschworenen Gemeinschaft. Ihre Werwölfe waren seltsame Kreaturen, denn sie fraßen nur ein Kind pro Jahr. Niemals mehr und niemals weniger. Der Herbstwind hatte eine Menge buntes Laub in das Dorf getragen. Die abgefallenen Blätter zierten die Strohdächer und bedeckten einen großen Teil der Wege. Die Kinder warfen nicht mehr mit Dreck, jetzt zerrieben sie das trockene Laub zwischen ihren Fingern. Das Opferfest musste nahe sein. Karl steckte die Hände in die Tasche und setzte sich in Bewegung. Für einen Moment spürte er einen kalten Blick auf sich. Karl sah sich um sah niemanden. Bis sein Blick auf die bronzene Statue an der Fassade des Hauses des Opfermeisters fiel. Das Metall schimmerte in der Herbstsonne. Vorm Zaun seiner Hütte blieb er stehen, ließ seine Gedanken wieder von der Leine. Hier sah der Opfermeister ihn nicht. Er wollte nicht direkt nach Hause. Stattdessen beschloss er einen Abstecher zum Fluss zu machen. Die Sonne begann tiefer zu sinken.
„Karl“, rief ihm jemand. Er fuhr herum. Seine Mutter stand auf der Türschwelle mit einem Eimer in der Hand. Er folgte dem Pfad zum Flussufer. Eine Brise kam auf, trieb die laue Herbstluft durchs Tal. Die Sonne versank hinter dem westlichen Berggipfel, tauchte den Horizont in ein blutiges Rot. Er musste sich beeilen, wenn er vor der Dunkelheit nach Hause zurückkehren wollte. Die am Waldrand geparkten Fuhrwerke, nahm er erst wahr, als er bereits am Fluss war. Die Schausteller hatten sie am anderen Ufer aufgestellt, doch waren sie im Moment nicht zu sehen. Ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Für einen Moment blieb er stehen und überlegte, ohne das Wasser zurückzukehren. Die Aussicht mit dem Schausteller allein zu sein, ließ seinen Mund trocken werden.
„Mutter braucht das Wasser“, murmelte er zu sich und setzte sich in Bewegung. Gebückt näherte er sich dem Ufer, hielt sich an die Buschgruppe, die auf seiner Seite des Flusses wuchs. Die kleinen Äste raschelten leise im Wind. Er kauerte sich an das Ufer und versenkte den Eimer im Wasser. Von den Fuhrwerken der Schausteller schallte Gelächter herüber. Karl blickte hinüber. In der Dämmerung lösten sich zwei Gestalten von den Karren, kamen in Richtung des Flusses gelaufen. Sie schwankten beim Laufen. Karl fluchte leise, riss den Eimer aus dem Wasser. Er verschüttete etwas über seine Hose. Er blickte sich um. Sie waren schon zu nah, um noch unentdeckt in das Dorf zu verschwinden. Die Buschgruppe war seine einzige Chance sich zu verbergen. Karl kauerte sich dahinter und versuchte seinen Körper unter Kontrolle zu halten. Das Hämmern seines Herzens im Brustkorb. Seine viel zu schnelle Atmung. Die Schausteller kamen näher, ihre Stimmen waren jetzt ganz deutlich zu vernehmen. Bald übertönte ein lautes Plätschern den Wind. Einer der beiden Schausteller begann vor sich hinzupfeifen, der Andere blieb still.
„Sollst nicht immer so viel saufen“, grummelte der Eine.
„Ja, der Schnaps ist super“, lallte der Zweite, der Einfluss des Alkohols offensichtlich. Das Plätschern ging für eine Weile weiter. Karl kauerte in den Sträuchern, hielt den Henkel des Eimers umklammert.
„Wenn du so weiter säufst, haben wir bald nichts mehr“, grummelte der Erste.
„Und mit dem Packet machen wir bald Geld. Also, wen juckt's?“ Das Plätschern wurde schwächer, verschwand schließlich komplett.
„Für ein paar Wochen“.
Die Stimmen entfernten sich von seinem Versteck und wurden bald vom Wind verschluckt. Karl seufzte leise. Die Sonne war bereits hinter den Bergen verschwunden und das Abendrot lag schon in den letzten Zügen. Langsam richtete er sich auf. Die Fuhrwerke der Schausteller waren kaum mehr zu erkennen. Nur ein einziges kleines Feuer brannte zwischen ihnen. Karl raffte sich auf.
Des Nachts lag er wach und hörte seinem Herzen zu, wie es in seinem Brustkorb hämmerte. Die Worte der Schausteller gingen ihm nicht aus dem Kopf.
„Welches Paket?“, flüsterte er in sein Kissen hinein. Schausteller waren keine Händler. Noch nie hatten sie Ware in ihr Dorf gebracht. Der Wind hatte aufgebraust und rüttelte an dem verrammelten Fenster ihrer kleinen Hütte. Seine Mutter schnarchte vor sich hin. Schließlich hielt er inne, seine Gedanken waren über etwas gestolpert. Wer bezahlte die Schausteller? Vor seinem geistigen Auge tauchte der bronzene Drache auf. Seine glänzenden Augen fixierten ihn. Von einem Augenblick auf den anderen war er hellwach. Vor seinem Auge sah er die baufälligen, von der Witterung gezeichneten, Hütten des Dorfes. Sie alle hatten nicht viel. Und dann fiel sein Blick wieder auf die bronzene Statue. Er musste dem Geld folgen. Das Küchenmesser verbarg er unter seinen Leinen, als er in die Nacht entwich.
Als er ins Freie trat, waren die Sterne das Erste, was ihm ins Auge fiel. Die Wolken, die noch am Tage am Himmel gehangen hatten, hatten sich verzogen. Das Firmament starrte kalt auf ihn herab und der Mond thronte zwischen den Gipfeln der Berge. Dann überkam ihm die Kälte. Der Wind erfasste ihn, riss an seinen Leinen und übertönte seine Schritte in der Nacht. Sein Blick wanderte in Richtung des Waldes, der die Berghänge säumte. Die schwarzen Silhouetten der Bäume schwankten im Wind.
„Dort sollen die Werwölfe hausen“, flüsterte er. Er tastete nach dem Messer, dass er in seinen Gürtel gesteckt hatte. In der Ferne sang ein Uhu sein monotones Lied, doch keiner antwortete. Im Schatten der Fassaden arbeitete er sich weiter vor. Immer wieder kauerte er sich hinter die Mauerwerke und lauschte in die Nacht. Der Mond und die Sterne blieben seine einzige Gesellschaft.
Im fahlen Schein saß die bronzene Statue über der Tür. Die Tür zur Hütte des Opfermeisters war nicht verschlossen, der alte Mann verließ sich darauf, dass sein Status im Dorf ihn schützte. Sachte schloss Karl sie wieder hinter sich und blickte sich im Raum um. Das Licht des Mondes hatten seine Augen verwöhnt und es dauerte einige Augenblicke, bis er sich im Inneren zurechtfand. Zu seiner rechten erhob sich eine Regalwand, vollgestellt mit Statuen aller Größen. Gefertigt aus Bronze, aus Ton, aus Marmor oder anderen Materialen, die er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Sein Blick wanderte weiter. Zwei glasige Augen starrten ihn aus der Dunkelheit an. Sein Herz setzte den nächsten Schlag aus, doch die Wachsfigur ihm gegenüber zeigte keine Regung. All die Jahre hatte er nie realisiert, wie groß die Figur tatsächlich vor. Dort, auf den massiven Scheiterhaufen, sah sie immer so winzig aus. Doch jetzt, wo er sie direkt vor sich war, musste er feststellen, dass sie ihn beinahe überragte. Karl schlich weiter. Am Ende des Raumes war eine Wendeltreppe. Über ihm schlief der Opfermeister. Für einen Moment stand er nur da und ließ die Dunkelheit auf sich wirken. Stille – Der Wind, der ihn den ganzen Tag begleitet hatte, war nicht mehr zu hören. Innerlich stieß er einen Fluch auf, denn er hatte gehofft, dass die Geräusche von draußen seine Eigenen überdecken würden.
Er erreichte die Wendeltreppe. Die Stufen verschwanden in der Dunkelheit. Seine Stiefel fanden die Treppenstufen. Das Knarzen füllte den Raum aus. Karl, wagte sich nicht weiter, wie eingefroren blieb er dort stehen und hielt die Luft in seinen Lungen. Bloß nicht atmen, bloß kein Geräusch mehr. Vor seinem geistigen Auge sah er den Opfermeister, wie er seine Augen aufgeschlagen hatte und in die Dunkelheit lauschte. Karl lauschte ebenfalls, die Kiefer aufeinandergepresst und die Atmung so flach wie nur irgendwie möglich. Minuten verstrichen ohne dass er ein Geräusch hörte. Nur der Uhu, draußen, der wieder sein verdammtes Lied anstimmte. Karl ließ sein rechtes Bein auf die nächste Stufe sinken. Das Holz schwieg. Mit jedem Schritt beruhigte er sich ein wenig mehr, wollte erleichtert aufstöhnen, als er den Fuß der Treppe erreichte. In völliger Dunkelheit gehüllt, spürte er nur den harten Stein, auf dem er stand. Seine Augen konnte nur Umrisse ausmachen, zu seiner Rechten lauerten die Schatten der Holzkisten. Zu seiner linken, hatte jemand die Säcke bis unter die Decke gestapelt.
Karl setzte sich in Bewegung, so langsam, dass selbst ein Kleinkind ihn einholen könnte. Bloß keine Geräusche machen, bloß gegen nichts stoßen. Mit einer Hand auf Schulterhöhe und der anderen am Griff seines Messers arbeitete er sich weiter vor. Ein dumpfer Schlag. Dann das Knarzen der Treppe. Die langen Schatten der Öllampe schlängelten sich durch den Raum. Der Käfig tauchte vor ihm aus der Dunkelheit auf, das Mädchen, dass dort kauerte, starrte ihn mit glasigen Augen an. Die Schritte auf der Treppe kamen näher, jetzt hörte er die gedämpften Stimmen. Er sprang über die Kiste, durchbrach die Spinnenweben und kauerte sich in die Dunkelheit, hoffend, dass das Licht ihn hier nicht finden würde. Sie waren am Ende der Treppe angekommen.
„Es ist ein junges Exemplar“, die Stimme des Opfermeisters, ließ ihn erschaudern. Ein Kribbeln an seinem Arm lenkte ihn für den Bruchteil einer Sekunde ab, die fette schwarze Spinne krabbelte am Ärmel seines Leinenhemdes empor. Karl schluckte den Schrei und wagte nicht einmal zu zucken. Die Schritte kamen näher und seine dunkle Ecke wurde mit jedem Augenblick heller. Schließlich verstummten die Schritte und er hörte jetzt nur noch das Wimmern des Mädchens, gedämpft durch den Knebel.
„Sieht gesund aus“, die Stimme war ihm vollkommen unbekannt. Es musst eine der Schausteller sein. Die Spinne hatte inzwischen seine Schulter erreicht, aus dem Augenwinkel sah er das fette Tier, wie es innehielt und mit den Vorderbeinen in Richtung seines Gesichtes tastete. Wollte es sich für die Zerstörung seines Heimes rächen? Seine Zunge klebte längst am Gaumen fest und er war sich sicher, dass sie seinen Herzschlag hören mussten. Schweiß perlte seine Stirn herunter und seine Hände fühlten sich an, als ob er sie gerade in Öl getaucht hätte. Stur umklammerte er weiter das Messer. Es war seine einzige Hoffnung. Um nicht in Lethargie zu erstarren, bis sie ihn wohlmöglich entdeckten, löste er sich aus seiner Starre und lugte aus seinem Versteck. Der stämmige Schausteller war ihm am nächsten, im Schein der Öllampe konnte er das Drachen Tattoo an seinem Hals erkennen. Vertraute Augen, aus Tinte statt aus Bronze, starrten ihn an. Die Spinne biss zu, vergrub ihre Fänge bis zum Anschlag in seinem Hals. Der gellende Schrei hallte durch den Kellerraum. Das Tier, wohl selbst in völliger Panik, sprang davon und landete irgendwo im Schatten des getrockneten Strohs.
Er brüllte, so laut wie seine Lungen ihn ließen. Das Messer gezogen, sprang er hinter den Kisten hervor. Der erste Schausteller, der Träger des Drachen, riss die Arme hoch. Doch die Klinge fand den Hals, bevor er irgendetwas machen konnte. Sein Kamerad schlug Karl die Lampe ins Gesicht. Das Glas splitterte und zerschnitt seine Wangen, das Öl brannte in der Wunde. Der zweite Schlag traf ihn unter das Kinn, riss die Lampe aus der Halterung, er sah sie aus seinem Blickfeld verschwinden, noch bevor er auf dem Boden aufschlug. Der zweite Schausteller trat auf ihn ein, Karl riss die Arme vors Gesicht und versuchte verzweifelt seinen Kopf zu schützen. Bitter schmeckte das Blut, das durch seinen Mundraum suppte. Er rollte sich zur Seite, um irgendwie den Schlägen zu entkommen. Er stieß gegen den metallenen Käfig, spürte die kalten Eisenstangen, wie sie sich gegen seinen Rücken pressten. Der Schausteller kam hinterher.
„Schlag ihn tot“, hörte er den Opfermeister tonlos sagen. Karl schnappte nach Luft, versuchte sich an den Streben hochzuziehen. Eine seltsame Wärme spürte er auf seinem Gesicht. Obwohl die Lampe an seinem Kiefer zersprungen war, hatten sie noch Licht.
Der Schausteller holte aus, Karl wandte seinen Blick ab, um den finalen Schlag nicht kommen zu sehen. Der Schausteller folgte seinem Blick und hielt inne. Die Flammen schlugen aus dem Stroh, griffen nach den Balken. Ein Schleier aus Rauch breitete sich über die Decke aus. Durch die Ritzen im Fußboden sogen die Flammen mit jeder Sekunde mehr kostbaren Sauerstoff. Karl konnte beobachten, wie sich das Feuer innerhalb weniger Atemzüge vom trockenen Stroh am hinteren Ende des Kellers, bis zu den Kisten, wo er sich gerade noch versteckt hatte, ausbreitete.
Der Opfermeister tobte, die Gleichgültigkeit in seiner Stimme längst verschwunden. Er hastete zum Brandherd, begann mit den Stiefeln auf den Flammen herumzutrampeln. Die Verbrennungen brachten ihn bald dazu zurück zu torkeln. Seine Schreie hallten durch den Keller, noch nicht einmal das Tosen der Flammen konnte sie schlucken. Der zweite Schausteller hatte längst die Flucht zur Treppe angetreten. Das Adrenalin gab Karl Kraft sich aufzuraffen, sich am Käfig hochzuziehen. Als seine blutigen Hände das Metall umfasste, trafen seine Augen die des Mädchens. Sie musste hier raus. Sie konnte hier nicht verbrennen. Er begann and er rostigen Tür zu rütteln, doch sie war verschlossen. Er drehte sich um, seine Augen tränten vom Rauch. Der Opfermeister lag benommen neben den Kisten, der Blick des alten Mannes ging ins Leere. Er würde den Schlüssel nicht rechtzeitig finden. Mit der Kraft der Verzweiflung riss er an der rostigen Tür, lehnte sein ganzes Gewicht hinein. Der Rost und die scharfen Kanten des Metalls schnitten in seine Finger. Wieder und wieder stemmte er sein Gewicht dagegen. Mit einem Ruck gab der rostige Bolzen, der die Tür hielt, nach und Karl stürzte zu Boden.
„Noch einmal aufstehen“, dachte er und kämpfte sich auf die Beine. Ein Hustenreiz überkam ihn. Trieb den letzten Sauerstoff aus seinen Lungen. Von Ruß, Blut und Öl geblendet, stürzte er in den Käfig. Er tastete nach den Mädchen, bekam es zu Greifen und schleifte es in Richtung der Treppe. Das Feuer toste, seine Schritte wurden kürzer. Der Schweiß rann seine Stirn herunter, versickerte in seinen Klamotten. Er stolperte die Treppe nach oben. Mehr hustend, als das er atmete. In der Ferne die Schreie, stark gedämpft, fast vom Inferno um ihn geschluckt. Rufe, die verhallten, bevor er ihren Sinn erfassen konnte. Karl erreichte das Erdgeschoss und torkelte wie ein Blinder zu Tür. Die Flammen hatten bereits den Fußboden erfasst, doch er spürte ihre Hitze nicht mehr. Er taumelte weiter und erreichte die Haustür. Der Geschmack von Ruß und Blut trieb seinen Magen nach oben, er musste alle Kraft aufbringen sich nicht zu übergeben. Karl fiel zu Boden und schloss die Augen. Die Welt verschwand um ihn herum. Alle Sinneseindrücke traten in den Hintergrund, wurden von der Schwärze geschluckt. Die Schreie kamen näher. Jemand packte ihn, zerrte ihn und das Mädchen fort vom Inferno.