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Operation Wolf
„Bis du sicher, dass er sie fressen wird?“, fragte Hanna ihren großen Bruder, der gerade die vom Nachttisch ihrer Mutter geklauten Schlaftabletten in kleine Stücke brach.
„Na klar!“, antwortete Tim ihr selbstsicher. „Wir machen es einfach so wie Papa. Weißt du noch, als Charly letztes Jahr krank war? Da hat er die Medizin in ein Würstchen reingedrückt und Charly hat sich total gefreut und alles gegessen.“
Der Zehnjährige sah seine kleine Schwester vorwurfsvoll an.
„Wo ist eigentlich das Würstchen? Geh endlich und lass dir von Mama eins geben, ich will meinen Flummi wiederhaben!“
Eine knappe Stunde später lag Charly, der acht Jahre alte Beagle der Familie, selig schlummernd auf dem bunt gemusterten Teppich des Kinderzimmers.
„Und jetzt?“, fragte Hanna ängstlich.
Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie Ärger bekommen würden.
„Jetzt schneiden wir ihn auf“, stellte Tim sachlich fest. „Los, gib mir das Messer!“
Mit leicht zitternden Händen reichte Hanna ihrem Bruder das Schnitzmesser, das ihm Opa zu Weihnachten geschenkt hatte.
„Und du bist sicher, dass Charly nichts passiert?“
„Natürlich Hanna. Es ist genau wie beim Wolf, der die Geißlein gefressen hat. Du hast Oma doch zugehört: Sie haben ihm den Bauch aufgeschnitten, als er schlief, die Geißlein gerettet, den Bauch wieder zugenäht und dann ist der Wolf aufgewacht. Charly schläft jetzt, ich schneide ihn auf, hole den Flummi raus, den er gefressen hat, wir nähen ihn mit Mamis Nähzeug wieder zu und alles ist gut.“
Einige Sekunden später rannte die Mutter der beiden Märchenliebhaber, von den entsetzten Kinderschreien alarmiert, an die Operationsstätte. Von spritzendem Blut hatte die Oma nichts erzählt. Auch nicht davon, dass der Wolf zu zucken anfing und grässliche, röchelnde Geräusche von sich gab.
Tims Flummi wurde an diesem Tag zusammen mit Charly und dem um einige Flecken reicheren Teppich im Garten vergraben. Zusammen mit der Großmutter entfernten die Eltern nachts etliche Seiten aus dem großen Märchenbuch, so dass nur die unverfänglichsten bestehen blieben. Froschkönig und Co. schienen weniger Potenzial für weitere Experimente zu bieten.
Drei Monate später
„Tim, bist du sicher, dass ich ihn nicht doch küssen muss? Ich meine, du hast es jetzt schon zweimal versucht und es ist nichts passiert.“
„Im Buch steht aber, dass sie ihn gegen die Wand wirft, Hanna. Vielleicht muss ich einfach nur noch etwas fester werfen.“
Als der Frosch bereits zum dritten Mal mit hoher Geschwindigkeit auf die Hauswand zuflog, bereute er bitter die Entscheidung, aus dem Brunnen geklettert zu sein …