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- 07.05.2012
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Opas Bett - er kommt, wenn du schläfst
Lucys Großvater starb am dreizehnten Oktober im Alter von 63 Jahren.
Davon abgesehen war es ein fantastischer Tag. Die Sonne strahlte mit aller ihr vom Herbst gestatteten Kraft, die Luft war kristallklar und keine Wolke trübte den stahlblauen Himmel. Die bunten Blätter leuchteten an den Bäumen oder lagen zu kleinen, raschelnden Haufen zusammengekehrt auf dem Gehsteig. Die Menschen flanierten gelassen durch die Straßen und verabschiedeten sich in Gedanken vom Sommer.
Lucy schnaufte die brüchigen Treppen des Reihenhauses hinauf, in dem ihr Großvater gelebt hatte. Sie war dreizehn Jahre alt, hatte flachsblondes Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war, einen schlanken, zierlichen Körper mit langen, dünnen Beinen. Sie trug einen Pullover und darüber eine ärmellose Weste, Jeans und Turnschuhe. Lucy hatte vor ein paar Tagen von ihrer Mutter erfahren, dass Opa gestorben war. Die Nachricht hatte keine Gefühle in Lucy ausgelöst, denn ihre Beziehung zu ihrem Großvater war nie besonders liebevoll gewesen. Sie konnte an einer Hand abzählen, wie oft sie ihn gesehen hatte.
Auf Opas Beerdigung war Lucy nicht dabei, aber heute sollte sie dafür mit in seine Wohnung fahren, um zu schauen, ob es irgendetwas gab, das sie oder ihre Familie noch gebrauchen könnten.
Opas Wohnung lag im obersten Stock. Es gab keinen Fahrstuhl, so dass man die Treppen nehmen musste. Das war wohl auch der Grund für Großvaters Tod. Die Ärzte sagten, er hätte scheinbar auf dem Treppenabsatz einen Herzinfarkt erlitten, wo ihn die Nachbarn tot aufgefunden hatten. Als Lucy die letzten Stufen des düsteren Treppenhauses erklommen hatte, pochte auch ihr Herz laut in der Brust, und sie fragte sich, wie sich ein Herzinfarkt wohl anfühlen mochte. Die Tür zur Wohnung stand offen, und Onkel Josef lungerte davor herum und rauchte eine Zigarette. Er strich Lucy mit der Hand über den Kopf und Ascheflocken seiner Zigarette rieselten herab. Onkel Josefs Zähne und seine Finger waren bereits ganz gelb von all dem Nikotin, und sein Lachen endete immer in einem geräuschvollen, schleimigen Husten. Genau wie bei Opa, dachte sich Lucy. Seine fette Frau, Tante Klara, stand breitbeinig in der Wohnung und markierte verschiedene Gegenstände mit gelben Zetteln. Scheinbar deklarierte sie diese für sich. Klara schwitzte furchtbar, was eindeutig an den großen, dunklen Flecken unter ihren wulstigen Armen zu sehen war. Außerdem tupfte sie ihr teigiges Gesicht mit einem Tuch ab, das auch schon ganz nass war.
„Ich habe nie verstanden, was Josef an dieser schrecklichen Wachtel findet“, hatte Mutter mal zu Lucys Vater gesagt, als sie beim Mittagessen saßen. Klara umarmte Lucy. Sie wurde in das wabbelige Fleisch gedrückt und eine Übelkeit stieg in ihr hoch.
„Die Objekte mit den gelben Zetteln nehme ich mit“, betonte Klara nachdrücklich mit ihrer piepsigen Stimme, die Lucy immer besonders lustig fand. Die Stimme passte so gar nicht zu dem massigen Körper. „Und Josef hat seine Sachen mit blauen Zetteln markiert. Aber alles andere ist noch zu haben.“
Lucy zwängte sich an Klara vorbei und roch dabei ihren ekelerregenden Schweißgeruch.
Sie schlenderte neugierig durch die Wohnung, betrachtete die alten Dielen, die blass und abgetreten aussahen. Wie oft war Opa sie wohl in seinem Leben auf- und abgelaufen?
Opas Wohnung war nicht groß. Ein Wohnzimmer mit Essecke, ein Schlafzimmer, eine Küche und ein kleines Bad. Vom Wohnzimmer führte ein Balkon hinaus zur Straße. Die Gardinen waren vergilbt, die Tapete abgenutzt und der alte Esstisch gezeichnet von vielen Kanten und Macken. Ein abgewetzter Teppich ging auf dem Dielenboden dahin. Überall klebten gelbe oder blaue Zettel, und Lucy spazierte weiter ins Schlafzimmer.
Das warme Licht der Sonne fiel durch das schmutzige Fenster direkt auf Opas großes, altes Holzbett. Es war ein schweres Bett aus massivem Eichenholz und wirkte überdimensioniert in dem kleinen Zimmer. Man hatte kaum noch Platz, sich zu bewegen. Lucy kletterte hinauf, der Geruch nach Mottenkugeln stieg ihr in die Nase. Aber die Matratze war wider Erwarten erstaunlich weich und bequem. Nur die Federn quietschten leidend, als Lucy auf dem Bett zu hüpfen begann. Staubpartikel wurden in die Luft geschleudert und wirbelten durch das Sonnenlicht.
„Schau, Mama, auf dem Bett klebt noch kein Zettel, das können wir haben“, rief Lucy, als ihre Mutter in das Zimmer kam. Auf Mutters Gesicht zeigte sich für den Bruchteil einer Sekunde ein angewiderter Ausdruck, den Lucy aber nicht interpretieren konnte.
„Ich glaube nicht, dass wir so ein riesiges Bett bei uns gebrauchen können“, wehrte die Mutter ab.
„Ach bitte, Mama. Das Bett ist so gemütlich. Und meins ist mir schon viel zu klein. Bitte, bitte, bitte, bitte.“
„Das ist doch viel zu schwer für uns. Das können wir niemals transportieren“, argumentierte die Mutter.
„Ach, das mach ich euch“, rief Onkel Josef aus dem Badezimmer.
„Ich hab mein' Werkzeugkasten dabei und unten steht mein Lieferwagen. Ich bau‘s euch sogar auf. Das ist gar kein Problem.“
„Aber wir brauchen -“, wollte die Mutter wieder ansetzen.
„Jetzt red‘ nicht, sondern mach der Kleinen doch 'ne Freude“, meinte Onkel Josef großzügig und kam ins Zimmer. Lucys Mutter ließ die Schultern hängen. Es war ihr nicht recht, aber sie hatte scheinbar keine Kraft, sich gegen ihrer Bruder durchzusetzen. Also nickte sie nur und Lucy jubelte.
Ein paar Stunden später hatte Onkel Josef das Bett in Lucys Zimmer aufgebaut. Tiefe Kerben und Ritzereien, durch die Zeit stumpf gerieben, zogen sich über das dunkelbraune, fast schwarze Holz. Auch hier in Lucys Zimmer wirkte das wuchtige Bett deplatziert. Es nahm fast die Hälfte des Raumes ein. Am anderen Ende, unter dem Fenster, standen der Schreibtisch und daneben der Kleiderschrank und die Spielzeugkiste. Ein Teppich mit bunten Kreisen lag auf dem Boden, und das Spielzeug war kreuz und quer darauf verteilt. Lucy schnappte sich ein Buch und warf sich sofort gutgelaunt auf ihr neues Bett. Onkel Josef hatte ihr noch eine Nachttischlampe an das Gestell montiert und war dann wieder nach Hause gefahren. Lucy lag ausgestreckt auf dem Rücken, das Kopfkissen unter den Kopf geschoben, und las. Als ihre Mutter später ins Zimmer kam, bemerkte Lucy, dass etwas nicht stimmte. Ihre Mutter hielt sich von dem Bett fern. Sie betrachtete es misstrauisch wie ein verschrecktes Tier. Als Lucy fragte, lächelte sie nur kopfschüttelnd und verließ wieder das Zimmer.
Der letzte schöne Tag des Jahres verstrich wie jeder andere Tag auch. Die Sonne versank früh hinter den Häusern und tauchte den Himmel in atemberaubende Farben. Lucy bekam davon allerdings nichts mit. Sie saß neben ihrer Mutter auf dem Sofa und sah fern. Da hörte sie den Schlüssel im Schloss der Haustür. Ihr Vater kam nach Hause, und Lucy stürmte zur Tür, um ihn zu begrüßen. Er arbeitete in einer Spedition und kam meist recht spät nach Hause.
„Papa, Papa. Ich hab ein neues Bett“, rief Lucy aufgeregt.
„Was? War der Weihnachtsmann etwa schon da?“, fragte er und kreuzte seinen Blick mit der Mutter.
„Nein. Das ist das alte Bett von Opa. Wir waren heute in seiner Wohnung, und Onkel Josef hat uns geholfen, es nach Hause zu tragen. Bringst du mich ins Bett und erzählst mir noch eine Geschichte?“
„Aber klar. Du kannst dich ja schonmal waschen gehen und ich leg noch meine Tasche ab. Dann komme ich gleich zu dir.“
Lucy rannte begeistert ins Badezimmer. Sie wusch sich schnell und zog ihren Schlafanzug an. Als sie die Tür ihres Zimmers aufstieß, wehte ihr ein eiskalter Windhauch entgegen, so dass sie sofort eine Gänsehaut bekam. Das Zimmer lag im Halbdunkel und das Fenster stand offen. Das erste, das sie sah, war Opas Bett. Angeschienen vom Licht des Flurs, warf es schwarze, unheimliche Schatten an die Wand. Es wirkte nun gar nicht mehr so einladend wie noch am Vormittag in Opas Wohnung. Schnell knipste Lucy das Licht an, um die Schatten zu vertreiben. Dann schloss sie das Fenster, zog die Vorhänge zu und kroch ins Bett. Die Federn quietschten. Da kam auch schon ihr Vater herein und staunte nicht schlecht über das große Bett.
„Da findet man dich ja gar nicht mehr“, scherzte er und setzte sich auf die Bettkante. Der Holzrahmen knackte unter seinem Gewicht. Dann griff er nach dem Buch und begann, eine Geschichte vorzulesen.
Mitten in der Nacht erwachte Lucy durch ein Geräusch. Müde blinzelten ihre Augen, und die Erinnerungsfetzen an Traumbilder verflüchtigten sich rasch. Das Quietschen der rostigen Bettfedern holte sie in die Realität. Etwas stimmte nicht. Die Tür war geschlossen und das Zimmer lag in totaler Finsternis. Obwohl sich Lucys Augen bereits an die Dunkelheit hätten gewöhnen müssen, sah sie nicht den geringsten Schimmer Licht. Nichtmal unter dem Türrahmen oder durch das Fenster. Lucy fröstelte, und eine Gänsehaut breitete sich von ihrem Nacken aus, obwohl sie unter der warmen Decke lag. Ein unbehagliches Gefühl kroch ihren Rücken hinauf und griff mit dürren, unsichtbaren Fingern nach ihr. Die feinen Haare auf ihren Armen und im Genick stellten sich auf.
Mit einem Mal war sie hellwach, aber sie wagte sich nicht zu bewegen. Ihr Herzschlag erhöhte sich und pumpte das Adrenalin durch ihren Körper. Jemand war im Zimmer. Lucy vernahm das Rascheln von Stoff, dann erglomm eine Zigarette in der Schwärze am anderen Ende des Zimmers. Für einen kurzen Augenblick sah Lucy das faltige Gesicht ihres Großvaters in orangegelbes Licht getaucht. Unwirklich schien es in der Luft zu schweben, und dann drehte sich der fliegende Kopf zu ihr und die in dunkle Schatten getauchten Augen starrten Lucy leblos an. Ein schriller Schrei entriss sich ihrer Kehle und weckte ihre Eltern auf. Es folgte das Poltern von Schritten, die den Flur entlangrannten, dann wurde ihre Zimmertür aufgerissen und helles Licht ergoss sich in die schwarzen Schatten und vertrieb sie. Die Mutter schaltete das Licht im Zimmer an und blieb mit weit aufgerissenen Augen stehen. Im Bett ihres Vaters saß ihre total verängstigte Tochter. Leichenblass, die Bettdecke bis zum Hals gezogen.
„Was ist denn passiert, mein Schatz?“, fragte sie besorgt und stürzte zu Lucy. Das Mädchen umklammerte seine Mutter, so fest sie nur konnte, und wollte sie nicht mehr loslassen. Sie drückte so verzweifelt, dass es die Mutter mit der Angst zu tun bekam.
„Was ist denn los …?“, fragte sie abermals. Dann aber hielt sie mitten im Satz inne und legte ihren Kopf leicht in den Nacken. Sie schnupperte, denn ein Geruch kitzelte ihre Nase. Es war der Gestank einer verbrannten Zigarette. Ganz zart, aber unverkennbar hing er in der Luft.
„Hast du geraucht"?“ fragte sie Lucy mit strengem Ton und löste sich aus ihrer Umklammerung.
„N...Nein“, gab Lucy verängstigt zurück und blickte immer wieder in die Ecke des Zimmers, in der sie eben noch die Gestalt ihres Großvaters gesehen hatte.
„Ich hab dir doch gesagt, dass du viel zu jung zum Rauchen bist.“ Die Stimme ihrer Mutter hatte eine distanzierte Härte angenommen. Sie stand auf und öffnete das Fenster. Hier war der Geruch intensiver, und eine unbestimmte Angst überfiel sie. Etwas war aus den Fugen geraten. Tief in ihrem Magen breites sich ein flaues Gefühl aus und schnürte ihr die Luft ab. Sie kannte diesen Duft.
Es war ein bösartiger Geruch, der Erinnerungen in ihrem Unterbewusstsein aufwühlte, die sie vor Jahrzehnten dort begraben hatte. Ein Schaudern ergriff sie, und ihr Ärger legte sich. Jetzt wieder besorgt um ihre Tochter, setzte sie sich zurück ans Bett.
„Was war denn los?“
„Ich habe Opa gesehen“, flüsterte Lucy leise. Mutters Herz schlug schneller.
„Er stand da hinten in der Ecke und hat mich beobachtet. Und dabei hat er eine Zigarette geraucht“, fuhr Lucy fort.
„Das war nur ein böser Traum. Opas Tod hat dich sicher aufgewühlt. Du siehst ja, dass hier niemand ist. Alles ist gut.“ Mutters Worte klangen, als wären sie mehr an sie selbst und nicht an Lucy gerichtet.
Sie nahm ihre Tochter wieder in die Arme und langsam löste sich die Spannung aus dem Körper des Mädchens. Ihre Mutter blieb so lange im Zimmer, bis Lucy wieder eingeschlafen war. Dann deckte sie sie behutsam zu, schloss das Fenster und schaltete das Licht aus. Im Türrahmen drehte sie sich noch einmal um und sah den kleinen Körper ihrer Tochter in diesem großen, dunklen Bett. Und wieder weckte sich das beklemmende Gefühl einer grausamen, verdrängten Erinnerung.
Der nächste Tag begann grau und verregnet.
Über Nacht war ein Tief über die Stadt gezogen und hatte kalte Polarluft mit sich gebracht. Die Kälte zog durch alle Ritzen der Wohnung. Die Mutter drehte die Heizungen auf und kochte Tee. Es war Samstag und die Familie war zu Hause und frühstückte gemeinsam. Die Schrecken der Nacht waren verflogen und Lucy hatte sie schon fast vergessen. Bei Tageslicht verkriechen sich Ängste und Schrecken in den Fugen und Ritzen der Welt. Dort lauern sie. Gierig harren sie auf die nächste Gelegenheit, hervorzuspringen, die Menschen zu packen und sie in den finsteren Abgrund der Furcht zu zerren.
Lucys Vater schlug vor, einen Kinderfilm auszuleihen, und spazierte anschließend mit Lucy zur Videothek, während die Mutter einkaufen ging. Lucy sprang von Pfütze zu Pfütze und lief voraus. Die Videothek war ein Relikt aus den Achtzigerjahren.
In Lucys Viertel hatte sich noch keiner dieser sterilen DVD-Tempel niedergelassen. Die Tür und Fenster zur „Videoworld“ waren mit großen Filmplakaten übertriebener Actionfilme zugeklebt. Das Glas war schon seit Wochen nicht mehr geputzt. Lucy drückte die Tür auf und blickte in die muffige Enge des Ladens.
Regale mit unzähligen DVDs standen dicht an dicht wie Dominosteine. Die Neonlampen flackerten totes Licht. Lucy betrat den ungemütlichen Laden und lief über einen uralten, abgewetzten Teppich. Der Videobesitzer war ein bierbäuchiger, unrasierter und ungewaschener Prolet. Er saß regungslos in seinem Sessel hinter der Theke und blätterte in einem billigen Magazin. Er schien das Mädchen nicht zu bemerken und zog lauthals den Rotz in seiner Nase hoch. Lucy ekelte sich vor ihm. Sie irrte durch das Labyrinth der Regale zur Kinderabteilung und starrte neugierig die bunten Cover der DVD-Hüllen an.
Plötzlich hört sie ein rasselndes Husten. Ihr Blick folgte dem Geräusch blieb aber an der verschlossenen Tür zur Erotikabteilung hängen. ZUTRITT NUR AB 18 JAHREN stand auf einem Warnschild. Lucy wusste, was dahinter war. Ihre Schuldfreundin hatte es ihr mal gesagt und ihr dann Bilder gezeigt, die Männer und Frauen bei komischen Dingen zeigten. Lucy konnte mit den Bildern nichts anfangen. Sie wusste nicht, was die Menschen da veranstalteten, aber sie fühlte ein Kribbeln in der Magengegend, als würde jemand Lucy dabei beobachten, etwas Unerlaubtes zu tun. Es schien, als würden ihr diese Bilder einen Einblick in absolut verbotene Dinge geben, denn ihre Freundin packte die Bilder schnell wieder ein, als der Lehrer das Zimmer betrat. Als dürfte niemand wissen, was sie gerade gesehen hatte.
Da wurde die Tür zu der Erotikabteilung aufgestoßen und ein junger Mann kam heraus. Schüchtern blickte er sich um und lief rot an, als er sah, das Lucy ihn direkt anstarrte. Schnell verschwand er zwischen den Regalen. Für den Bruchteil einer Sekunde fiel Lucys Blick in den Raum dahinter. In diesem Augenblick sah sie einen alten Mann in einem Mantel an einem Regal mit Sexfilmen stehen. Ein Hut war ihm ins Gesicht gezogen. Obwohl das Rauchen hier verboten war, steckte eine qualmende Zigarette zwischen seinen Fingern. Dann drehte er seinen Kopf in Lucys Richtung und dem Mädchen blieb beinahe das Herz stehen, als sie in die grinsende Fratze ihres Großvaters blickte. Seine Augen gähnten schwarz wie die Nacht, und seine fleckigen Lippen spannten sich über seinen gelben Zähnen zu einem teuflischen Lächeln. Dann schloss sich die hydraulische Tür mit einem Klack, und eine Hand legte sich auf Lucys Schulter. Sie zuckte zusammen. Doch es war nur ihr Vater, und eingeschüchtert drückte sich Lucy an ihn.
Sie liehen die „Monster AG“ aus und verbrachten einen gemütlichen Vormittag zusammen auf dem Sofa. Das Wetter wurde wieder schlechter und es regnete unaufhörlich. Mittags kochte die Mutter Fischstäbchen mit Spinat und Kartoffeln, und nachmittags bekam Lucy Besuch von ihrer Freundin Jenny. Sie spielten in Lucys Zimmer.
Als Jenny das große Bett sah, war sie sehr beeindruckt. Sie strich mit ihren Fingern über die Kerben im Holz.
„Wie alt das Bett wohl ist?“, fragte sie mehr sich selbst als Lucy.
„Keine Ahnung. Aber ich glaube, es ist ziemlich alt“, antwortet Lucy, doch Jenny hörte gar nicht zu.
„Und wer wohl schon alles darin geschlafen hat? Vielleicht sogar mal deine Mama?“
„Ich kann sie ja nachher mal fragen. Komm, wir spielen weiter.“
Jenny löste sich von dem Bett und ging rüber zu Lucy. Sie spielten bis zum Abend, dann musste Jenny nach Hause zum Essen.
Als Lucy mit ihren Eltern am Tisch saß, fragte sie ihre Mutter, ob sie früher schonmal im Opas Bett geschlafen habe. Die Mutter verschluckte sich und hustete wild. Das Chaos, das entstand, ließ Lucy die Frage vergessen. Die Mutter zog sich hustend ins Bad zurück und kam für längere Zeit nicht mehr heraus.
Es war neun Uhr, als Lucy ins Bett musste. Etwas sträubte sich ihn ihr, und sie versuchte, das Unvermeidliche hinauszuzögern. Aber es führte kein Weg daran vorbei. Als sie im Schlafanzug ihr Zimmer betrat, wusste sie, warum sie nicht ins Bett wollte. Es war Opas Bett. Groß und angsteinflößend stand es dort. Unnachgiebig.
Das dunkle, polierte Holz schien alles Licht zu absorbieren. Lucy fühlte wieder das Unbehagen ihren Rücken hinaufkriechen, als sie in das Bett kletterte und die rostigen Federn erneut zu quietschen begannen. Sie hatte die Tür extra weit offen stehengelassen, damit das Licht aus dem Flur die Schatten aus den Ecken vertrieb.
Lucy erwachte durch das Geräusch der Tür, die in ihr Schloss fiel. Sie lag auf dem Bauch, mit dem Gesicht zur Wand. Als sie die Augen öffnete, sah sie nur das schwirrende Flimmern psychedelischer Farben und Formen auf ihrer Netzhaut. Die Nachbilder eines Traumes, die wild und wirr durch die Schwärze tanzten. Lucy war sofort hellwach, wagte sich aber nicht zu bewegen. Denn sie spürte, dass wieder jemand im Zimmer war.
Sie hörte einen schnaufenden Atem und dann Schritte, die zu ihrem Bett herüberschlurften. Ihr Körper verkrampfte sich.
Jemand setzte sich auf die Bettkante und das Holz knackte unter dem Gewicht. Lucys Herz schlug so wild, dass das Blut in ihrem Kopf rauschte. Sie wagte nicht, sich zu bewegen. Die Person auf ihrer Bettkante rührte sich nicht. Sie blieb regungslos sitzen und wartete. Lucy war wie gelähmt. Wer war das? Plötzlich bekam sie einen Krampf im Bein, weil ihr Köper minutenlang angespannt war. Sie stöhnte, musste ihre Position verlagern und drehte sich in die andere Richtung. Sie spürte die Weite des Raumes auf ihrem Gesicht, und in dieser Sekunde wusste sie, dass niemand mehr in ihrem Zimmer war. Schweißgebadet schaltete sie das Licht an, voller Angst, dass die Gestalt noch auf ihrer Bettkante sitzen würde. Aber das Zimmer war leer, und mit einem Mal entspannten sich Lucys Muskeln. Die Angst packte sie jetzt heftig und schüttelte sie richtig durch. Zitternd stand sie auf und lief ins Zimmer ihrer Eltern.
Bis ins Mark verängstigt kletterte das Mädchen zu ihrer Mutter ins Bett und hielt sich am warmen Körper ihrer Mutter fest. Die erwachte und spürte sofort die elementare Furcht ihrer Tochter. Und sie bekam es selbst mit der Angst zu tun. Das waren keine normalen Kinderängste. Diese Angst saß tiefer. Diese namenlose Furcht wurde durch etwas durch und durch Böses hervorgerufen. Und wieder stiegen in der Mutter verschüttete Erinnerungen auf. Eine Erinnerung an genau dieselbe, selbst empfundene Angst.
Am nächsten Tag war Lucy nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie hatte Ringe unter den Augen, weil sie kaum geschlafen hatte. Die schützende Umarmung ihrer Mutter hatte ihr zwar Trost geboten, aber die Erinnerung an die unheimliche Person in ihrem Zimmer und den leisen, rasselnden Atem stachen jedes Mal in ihr Bewusstsein, wenn sie einschlafen wollte. Dann sorgte das Adrenalin dafür, dass sie mit klopfendem Herzen zitternd wieder wach lag. Lucy brachte keinen Bissen runter und stocherte nur lustlos mit der Gabel im Essen. Sie verschlief den größten Teil des Vormittags auf dem Sofa. Als sie erwachte, regnete es, und die grauen Wolken nahmen dem Tag das Licht. Ihre Mutter brachte ihr eine heiße Hühnersuppe, und erschöpft löffelte Lucy sie auf. Dabei fiel ihr Blick auf das Regal unter dem Fernseher. Dort standen die großen Fotoalben, die ihre Oma vor vielen Jahren geklebt hatte, noch bevor sie sich von Opa getrennt hatte. Lucy stand auf und zog ein Album hervor. Der ledrige Einband hatte sich mit den Jahren abgegriffen. Einige Seiten waren ausgerissen und wieder lose in das Album gesteckt worden. Gedankenverloren blätterte Lucy durch das Leben ihrer Mutter. Die ersten Fotografien waren vom Alter bereits gelbstichig und wellten sich. Sie zeigten Lucys Mutter als kleines Kind im Kinderbett oder auf den Armen der Großmutter. Dann erblickte Lucy ein Foto, das ihr gleich eine Gänsehaut verursachte. Es zeigte ihren Großvater in jüngeren Jahren, der seine Töchter auf dem Schoß hatte. Er grinste und starrte sie mit einem eigenartigen Blick an. Die beiden Mädchen lachten, mit großen Zahnlücken, in die Kamera. Lucy wusste, dass die Schwester ihrer Mutter tot war. Sie war vor vielen Jahren gestorben und Lucy kannte sie nur von Fotos. Als sie das Foto betrachtete trat ihre Mutter neben sie.
„Was machst du da?“, fragte sie.
„Ich schau mir alte Fotos an. Guck mal. Hier ist Opa mit dir und deiner Schwester.“
Lucys Mutter packte das Fotoalbum und nahm es ihrer Tochter weg.
„Lass das bitte. Das sind alte Geschichten.“
Lucy spürte, dass ihre Mutter vor irgendetwas Angst hatte. Mutter blickte verstört auf die alte Fotografie, klappte dann verärgert das Album zu und schob es zurück in das Regal. Lucy nahm sich vor, es zu einem anderen Zeitpunkt wieder herauszuholen, denn sie wollte ihre Mutter nicht noch mehr aufregen.
„Was ist denn los, Mama?“, fragte sie dennoch.
„Ach, nichts“, antwortete sie gereizt. „Und jetzt lass mich in Ruhe.“
Lucy fühlte sich noch immer nicht wieder ganz wohl. Sie ließ ihre Mutter im Wohnzimmer zurück und schlich in ihr Zimmer. Dort stand es. Groß und mächtig. Opas Bett. Es erschien Lucy von Tag zu Tag größer und unheimlicher. Es ist nur ein Bett, dachte sie, und sah es sich genauer an. Welche Geschichten hatten all die Macken und Kanten im Holz zu erzählen? Hier und da waren Zeichen und Worte in das Holz geritzt worden. Lucy ging der Sache auf den Grund und untersuchte neugierig, ob sie etwas von den alten Ritzereien entziffern konnte. Nach einiger Zeit hatte sie etwas Übung im Aufspüren erlangt. Sie hatte die Buchstaben M und G gefunden. Und dann entdeckte sie ein beinahe abgewetztes Wort. Das H war noch deutlich zu erkennen, aber die restlichen Buchstaben waren über die Jahre beinahe verschwunden. Es kostete sie fast zwanzig Minuten. Dann hatte sie die Lösung, die sie vor Schreck erstarren ließ. Ihre Eingeweide verkrampften sich. Dort stand eindeutig „Hilfe“.
Lucy setzte sich auf den Boden und atmete tief durch. Wer ritzte wohl das Wort „Hilfe“ in einen Bettrahmen ein? Und warum?
Verstört lief sie ins Wohnzimmer zurück, um die Entdeckung ihrer Mutter zu zeigen, aber die Mutter war nicht mehr dort.
„Mama“, rief Lucy beunruhigt, aber es blieb still. Da fiel Lucys Blick wieder auf das Fotoalbum, das ihre Mutter vorhin ins Regal zurückgestellt hatte, und die Neugierde trieb sie dorthin.
Sie zog das schwere Album aus dem Regal, und ein Stapel Bilder, der lose in den Einband gesteckt worden war, rutschte heraus und klatschte auf den Boden. Amüsiert beobachtete Lucy die Fotos, die übereinanderrutschten, als wären sie mit einem Schmierfilm beschichtet. Doch das Lächeln blieb ihr im Halse stecken, als ihr Blick auf ein Bild fiel, das umgedreht im Stapel lag. Ein altes, schon verblasstes Polaroid. Es zeigte eine Sommerszene in einem Garten. Auf dem Foto blickte ihr Großvater scheinbar direkt sie an. Wieder das feiste Lächeln der schon damals gelben Zähne. Der Großvater war nackt, dachte Lucy für eine Sekunde. Denn sein dicker, käsiger Bierbauch wölbte sich soweit hervor, dass man die Badehose nicht sehen konnte. Auf seinem Schoß saß Lucys Mutter im Bikini. Sie war vielleicht grade im selben Alter wie Lucy, vielleicht ein, zwei Jahre älter, und der Großvater hatte seine Hand um ihre Hüfte gelegt. Zwischen seinen dicken Fingern prangte eine Zigarre. Aber das schlimmste an dem Bild war nicht das Grinsen des Großvaters. Und nicht sein abstoßendes Aussehen.
Das Grauenhafte an diesem Bild war der angsterfüllte Blick von Lucys Mutter. Ihre Augen, die von dunklen Ringen darunter betont wurden, schienen die Kamera anzuflehen, sie aus ihrer Situation zu retten. Dieser Blick erschreckte Lucy. Dann hörte sie ein Türklappen hinter sich und zuckte zusammen. Schnell schob sie die Fotos zusammen wieder in den Einband des Albums zurück. Doch leider sah sie noch einmal auf das Bild. Und dieses Mal in das diabolische Gesicht des Großvaters. Er schien Lucy durch die Zeit anzustarren. Direkt in das Wohnzimmer.
„Was machst du da?“, fragte ihre Mutter scharf. Schnell war das Album wieder im Regal verschwunden.
„Nichts“, sagte Lucy ertappt und spürte, dass sie rot wurde.
Draußen rumpelte ein Donner über den Himmel.
Als die Nacht hereinbrach, gab es für Lucy irgendwann keinen Grund mehr, nicht ins Bett zu gehen. Sie hatte alle Register gezogen. Von Übelkeit und Bauchschmerzen bis hin zu Angst. Von noch wichtigen Beschäftigungen über Durst bis zu Hunger. Es half alles nichts. Opas Bett wartete in ihrem Zimmer.
Schließlich, als sie sich die Zähne geputzt hatte, stand sie im Nachthemd vor dem düsteren und monströsen Bett. Die Bettdecke war fein säuberlich umgeklappt und glattgestrichen worden. Als Lucy auf die Matratze kletterte, knackte der Holzrahmen wieder laut. Bevor sie das Licht ausschaltete, blickte sich Lucy noch einmal im ganzen Zimmer um. Sie sah sogar unter das Bett. Dann knipste sie das Licht aus. Draußen rauschte der Regen noch immer vom Himmel.
„Sei ein braves Mädchen“, flüsterte eine Stimme dicht an ihrem Ohr, und Lucy erwachte, als sie eine Hand über ihre Haare streichen spürte. Sie roch nach Zigarette. Die Hand glitt ihren Rücken entlang über ihren Po zum Saum ihres Nachthemds.
„Sch-sch“, vernahm sie das wieder das unheimliche Flüstern. Ihr Herz dröhnte in
ihrem Kopf. Sie wollte sich umdrehen, doch eine kräftige Hand hinderte sie daran. Sie war vollkommen machtlos.
„Wenn du brav bist, werde ich deiner Mutter auch nichts davon erzählen“, warnte die Stimme. Dann wurde ihr Nachthemd hochgezogen und ein Bein stemmte sich gnadenlos zwischen ihre.
Krampfhaft versuchte sie ihre Beine zusammenzupressen. Aber gegen die Kraft der Person, die auf ihrem Rücken lag, hatte sie keine Chance. Ein zweites Bein schob sich zum ersten und dann wurden ihre Schenkel gewaltsam auseinander gedrückt.
Lucy wollte schreien, doch eine starke Hand hielt ihr den Mund zu. Der Kopf des Mannes war direkt neben ihrem Ohr, und Lucy roch den Gestank des Tabaks, der aus seinem Mund strömte.
„Wer wird denn hier schreien? Das ist doch jetzt unser kleines Geheimnis.“
Dann spürte Lucy plötzlich grobe und raue Finger einer Hand zwischen ihren Beinen. Unangenehm und schmerzhaft fummelten sie dort herum. Und sie wurden von irgendetwas glitschig und schmierig.
„Pass auf, das wird dir auch gefallen, du kleines Miststück“, sagte die Stimme drohend, und dann wurde die Person grober und begann das hilflose Mädchen brutal zu vergewaltigen. Lucy glaubte, in ihrem Leben noch nie größere Schmerzen gehabt zu haben. Es fühlte sich an, als würde sie von einem stumpfen Gegenstand aufgeschlitzt werden. Die Schmerzen raubten ihr die Sinne, und wimmernd ertrug sie die Tortur. Am Ende sackte die Person auf ihrem Rücken zuckend zusammen und begrub ihren kleinen, zarten Körper unter sich. Der Mann ächzte und keuchte. Dann glitt er aus ihr und verschwand im Nichts.
Lucy lag da und konnte nicht atmen. Als wäre alle Luft aus ihrem Körper gepresst worden. Ihre Luftröhre war wie zugeschnürt, und nur mit winzig kleinen Atemschnappern kehrte die Luft in ihren Körper zurück. Alles war verkrampft. Zwischen ihren Beinen brannte es wie Feuer und etwas lief an ihren Schenkeln herab. Sie konnte sich nicht bewegen. Keinen Zentimeter, als wäre sie tief in die Matratze gedrückt worden.
Nach einer gefühlten Ewigkeit bewegte sie die Finger ihrer rechten Hand. Sie spannte die Muskeln ihres Rückens, legte den Kopf langsam in den Nacken. Es gab ein lautes Knacken, als sich eine Spannung löste. Vorsichtig drehte sie sich auf die Seite. Die Schmerzen in ihrem Unterleib zuckten durch den Körper. Zwischen ihren Beinen konnte sie ihr Herz schlagen spüren. Vorsichtig stützte sich Lucy auf einen Ellenbogen und starrte in die Dunkelheit des Zimmers.
Es hatte aufgehört zu regnen und ein trüber Lichtschein fiel durch die Vorhänge. Der Mann war fort, aber die Schmerzen waren noch da. Lucy tastete nach dem Licht und schaltete es an. Als sie das ganze Blut zwischen ihren Beinen und auf der Matratze sah, fing sie an zu schreien. Sie schrie aus Leibeskräften. Es war ein Schrei, den niemand in der Wohnung für den Rest seines Lebens mehr vergessen sollte. Er riss die Mutter aus ihrem ohnehin unruhigen Schlaf. In diesem Schrei steckten Angst und Schmerz, Verzweiflung und Einsamkeit. Sie kannte diesen Schrei, denn sie hatte selbst einmal so geschrien.
Epilog
Einige Wochen nach dieser Nacht klagte Lucy über Bauchschmerzen und Übelkeit. Ihre Mutter war sehr beunruhigt darüber, dass Lucy sich grundlos übergeben musste und sich über kaum wahrnehmbare Gerüche beschwerte. Sie nahm Lucy mit zu einem Arzt. Der Untersuchte das Mädchen gründlich von Kopf bis Fuß. Als er mit seiner Untersuchung fertig war, bat er die Mutter zu sich in sein Sprechzimmer. Er saß am Schreibtisch und hatte den Bügel seiner Bille im Mundwinkel. Mit ernster Miene blickte er sie von unten herauf an, dass sich seine Stirn in Falten warf. Die Mutter wurde nervös und ihre Handflächen schwitzten. Sie spürte, wie sie die Kraft in den Beinen verlor, und setzte ich auf einen Stuhl.
„Frau Spiegel, es ist nichts wirklich Schlimmes“, beruhigte sie der Arzt, und ihre Verkrampfung löste sich ein wenig.
„Es ist vielleicht nur etwas früh: Ihre Tochter ist schwanger.“
Der Schrei der Mutter hallte bis in den hintersten Winkel der Klinik.