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Opas Albtraum
„Grete, bist du da?“ Die zittrige Altmännerstimme riss mich aus dem Schlaf. „Grete? Grete, wo bist du?“
Ich knipste die Nachttischlampe an.
In der Tür meines Zimmers stand Großvater im langen Nachthemd. Furcht flackerte in seinen haselnussbraunen Augen und Verwirrung. Opa suchte Oma, doch Oma war nicht da. Sie lag weit entfernt in Hamburg im Krankenhaus und kämpfte mit dem Tod.
Opa war allein, getrennt von Oma. Das erste Mal seit - ach so vielen Jahren. Und nun war er hier. Papa hatte ihn erst vor vier Tagen mit dem Auto abgeholt, einen Tag, nachdem Oma so schwer gestürzt war.
Papas Schwester hatte gesagt, sie schaffe es nicht, für Oma da zu sein und für Opa zu sorgen. Er sei dement und wisse manchmal nicht, was er tue. Daher gäbe es nur zwei Optionen: Ein Pflegeheim oder Papa müsse sich kümmern.
Mein Vater zögerte nicht und fuhr kurz nach dem Anruf los.
Und dann waren sie da: Papa bleich und erschöpft von der langen Fahrt, Opa wie immer: Klein, brauner Anzug, das Sakko geschlossen. Weißes Hemd, Krawatte, blitzsaubere Schuhe und der unvermeidliche Hut auf dem Kopf. Freundlich mustere er mich. „Und wer sind Sie?“ fragte er.
„Opa, ich bin‘s, Dein Enkel.“
„Davon hast du mir nie was erzählt“, wandte sich Opa an meinen Vater und zog die Augenbraue hoch.
Papa seufzte kurz. „Vati, du hast vier Enkel, das hier ist Sven der Zweitjüngste.“
„Soso, interessant.“ Und dann war da wieder dieses freundliche Lächeln, so breit, dass die Goldzähne blitzten.
Ich wusste damals nicht, was ich mit Opa anfangen sollte. Er hatte sich sehr verändert, seitdem ich ihn das letzte Mal gesehen hatte und sprach mich mit vielen verschiedenen Namen an. Mal war ich sein Bruder Ernst, der damals 1905 an TBC gestorben war. Mal Gustav, mal aber auch Grete. Für Opa war es egal, er hatte für jeden ein Lächeln und wenn er meinte, ich sei seine Frau, strahlte er über das ganze Gesicht.
Dann kam diese Nacht. Opa war verzweifelt. Er suchte seine Liebste, mit der er fast sechzig Jahre verheiratet war und fand sie nicht. Ich ging zu ihm und sah im Schein der Nachttischlampe, dass sein Gesicht von Tränen ganz nass war. Linkisch umarmte ich ihn und murmelte etwas wie „Schon gut, Opa, schon gut“.
Da sah er mir in die Augen und sagte mit klarer Stimme: „Nichts ist gut!“
„Aber, Opa, was ist denn? Was hast Du?“
„Grete ist weg“, fing er an. „Ich habe es genau gesehen. Ich stand am Ufer eines Flusses und Grete am anderen. Ich wollte zu ihr, doch der Fluss hatte eine mächtige Strömung und hätte mich fortgerissen, wenn ich versucht hätte, ihn zu durchschwimmen. So habe ich am Ufer nach einem Boot gesucht. Doch da war keines. Als ich wieder aufblickte, war der Fluss breiter und er wurde immer breiter. Bald schon war Grete nur noch ein winziger Punkt am anderen Ufer. Dann war sie weg und ich wusste, ich hatte sie verloren. Für immer. Das hat mein Herz gebrochen.“
Nichts Schlimmes, dachte ich immer noch etwas schlaftrunken, nur ein Albtraum, den vergisst er sowieso ganz schnell. Dann wollte ich ihn wieder ins Bett bringen. Doch Opa sträubte sich und sagte, er wolle einen Tee.
Ich nickte und half ihm die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Wir gingen in die Küche und ich rückte ihm einen Stuhl zurecht. Dann setzte ich Wasser auf, holte ich zwei Becher aus dem Schrank und durchwühlte das Teekästchen meiner Mutter nach etwas Beruhigendem.
Opa sah mir stumm zu. Ich stellte unsere beiden Becher mit Kräutertee auf den Tisch, und fragte ihn, ob er Zucker wolle.
Opa nickte und plötzlich schien es mir, als sei er ganz weit weg, irgendwo in Zeit und Raum.
„Zucker“, sagte er, „Zucker hatten wir damals nicht.“
„Was? Was meinst Du?“
Opa schaute mich an. „Zucker hatten wir damals nicht“, wiederholte er.
„Wann Opa? Von wann redest Du?“
„So viele Fragen. Ich hätte auch fragen sollen...“
Dann bekam er wieder diesen abwesenden Blick.
Stumm saßen wir uns gegenüber. Ich nippte an meinem Tee, Opa hatte nur beide Hände um den Becher gelegt.
Langsam tröpfelten die Sekunden dahin, Minuten vergingen.
„Ich war jung“, sagte Opa unvermittelt, „Und unglaublich dumm. Und ich habe geglaubt. Ich habe geglaubt, was mein Vater mir immer erzählt hat. Von 70/71. Und was die anderen Männer in der Kneipe so erzählt haben. Die Franzosen wären hinterhältig und feige und wären gerannt wie die Hasen. Die würden wir jederzeit wieder im Handumdrehen in die Knie zwingen. Für Kaiser und Vaterland, hurra!
Und dann kam 1914. Ich war gerade 18 Jahre alt geworden und meldete mich freiwillig. Warum wir in den Krieg zogen, habe ich damals nicht so richtig verstanden, aber es hieß immer, dass wir in ein paar Wochen wieder daheim sein würden.
Bevor ich los musste, versammelten sich Verwandte und Nachbarn im Haus meiner Eltern. Oh, wie stolz sie auf mich waren. Ich sähe so schneidig in der Uniform aus. Grete hat das nicht interessiert. Wie auch, sie war doch erst zehn Jahre alt und spielte lieber mit ihren Puppen, als den Soldaten zuzujubeln. Sie sagte nur, ich solle recht bald gesund nach Hause kommen.
Wir wurden geschliffen, damals in der Garnison. Immer wieder hieß es: Raus, raus, raus! Im Laufschritt, Marsch! Bajonett aufgepflanzt, Nahkampf! Bis zur Erschöpfung. Und dann kam das Exerzieren an den Geschützen. Wir hatten 16 Feldhaubitzen, Kaliber 15 Zentimeter, robust und zuverlässig und mit ordentlicher Reichweite. Jede von acht Pferden gezogen. Unser Batallion bestand aus vier Kompanien. Wir waren 434 Mann.
Als Artillerist bekommst du nicht so viel mit, wenn die Infanterie vor dir gut aufgestellt ist. Laden, schießen, laden schießen. Justieren. Und wieder: Laden, schießen, laden schießen.
Lüttich, Flandern Marne, Somme. Wir waren überall dabei und wir hatten Glück. In den ersten drei Jahren verloren wir gerade mal zwei Dutzend Mann.
Aber es wurde schwerer und immer schwerer. Zuerst merkten wir, dass das Mehl für die Brote gestreckt war, dann gab es kaum noch Fleisch und das Gemüse war gammelig und wenig später gab es keinen Zucker mehr. Aber Zigaretten hatten wir in Hülle und Fülle und Schnaps gab es auch.
Und dann kam die verfluchte Schlacht von Arras. Wir wussten, dass die Briten, die Kanadier und die Australier, die uns gegenüberstanden, genauso am Ende waren wie wir. Von den Amerikanern war weit und breit noch nichts zu sehen. Die hatten uns ja auch erst vor ein paar Tagen den Krieg erklärt.
Die Tommys griffen an. Und wir hielten drauf. Immer wieder: Laden, schießen, laden, schießen, justieren, laden, schießen, laden, schießen. Es ging Tag und Nacht so weiter, ohne Unterlass. Ende April sahen wir alle aus wie die Gespenster. Wir hatten tagelang kaum geschlafen und immer, wenn einer von uns in der Stellung einnickte, war sofort der Spieß da oder einer der Offiziere und hat dem Unglücklichen eins übergezogen. Wir haben nur noch funktioniert.
Der Lärm war unbeschreiblich, die Welt am Horizont hatte sich in eine Einöde aus zerborstenen Bäumen, aufgewühlter Erde, zerstörtem Kriegsgerät und Leichenteilen verwandelt.
Schließlich kam der Tag, an dem die Hölle auf uns herabregnete.
Wir hatten die gegnerischen Stellungen seit drei Tagen mit Dauerfeuer beharkt und gar nicht gemerkt, dass wir immer gut 50 Meter zu weit lagen. 1000 Schuss und kein Ergebnis.
Als es passierte, war es an mir, eine Mütze voll Schlaf zu nehmen. Ich hob vielleicht vier Dutzend Schritte hinter unserer Batterie eine flache Grube aus, gerade so tief, dass ich darin liegen konnte, ohne dass ein Teil von mir herausragte.
Ich war so erschöpft, dass ich sofort in einen tiefen Schlaf fiel, ungeachtet des unablässigen Geschützdonners. Den hörte ich sowieso nur noch ganz schwach, mir klingelten die Ohren.
Ich träumte, ich säße in einem Boot auf dem Meer. Am Horizont schob sich eine Gewitterfront auf mich zu und ich konnte nichts tun, außer da zu sitzen und zu warten. Dann waren die Wolken über mir. Blitze zuckten, Donner brüllte mir ins Gesicht, das Boot wurde auf haushohen Wellen hin und her geworfen. Ich schrie in höchster Angst. Etwas biss mich in die Hand. Und anschlueßend war es ruhig.
Ich erwachte schweißgebadet. Und es war wirklich ruhig. Unsere Geschütze waren verstummt, ich hörte nichts, hatte nur noch Spuren des Klingelns in den Ohren. Langsam hob ich den Kopf, um über den Rand der Grube zu spähen. Rauch umwaberte mein Gesicht wie dichter Nebel. Ein Windstoß trieb die Schwaden weg von mir. Ich sah einen Karabiner mit verbogenem Lauf. Dann tauchte ein Pferdekopf mit weit aufgerissenen Augen auf, keine zwei Meter von mir entfernt. Ich sah den ersten Toten, in der Mitte entzweigerissen.
Der Wind wurde stärker. Ich setzte mich auf und spürte einen stechenden Schmerz in meiner rechten Hand.
Ich sah hin und zählte nur noch vier Finger. Wie in Trance kramte ich mit der linken Hand in meinem Tornister nach einem Stück Stoff zum Verbinden. Ich fand ein Taschentuch, das unerklärlicherweise noch sauber war und wickelte es um den Stumpf meines Zeigefingers.
Dann sah ich wieder auf. Die Brise hatte mittlerweile den Rauch vertrieben und es bot sich mir ein Bild der Verwüstung. Dort, wo wir vor drei Wochen unsere Stellung befestigt hatten, sah es so aus, als hätte ein riesiger Gärtner das Land umgegraben. Ich sah eine Haubitze, die umgekippt war, Holzsplitter von Munitionskisten, Pferdebeine, die in die Luft ragten, tote Kameraden, mit denen ich in den letzten Jahren Freud und Leid geteilt hatte, Blut, Eingeweide.
Ich hörte ein Stöhnen. Über eine kleine Kuppe schob sich ein Arm und dann tauchte Friedrichs geschwärztes Gesicht auf, aus dem seine hellblauen Augen unnatürlich leuchteten. Friedrich aus dem Nachbarort, mit dem ich damals losgezogen war.
`Willi, bist du das?´ fragte er. Ich nickte stumm und versuchte auf die Beine zu kommen, was mir nicht gelang.
Friedrich kroch über die Kuppe und rollte dann zu mir herunter. Er schrie vor Schmerzen und dann sah ich es: In seinem Bauch klaffte ein faustgroßes Loch. Ein Splitter hatte ihn übel erwischt.
`Kamerad, ich sterbe‘, stöhnte er.
Ich wollte ihm etwas Tröstendes sagen, doch ich blieb stumm. Mir fehlten angesichts der Apokalypse um uns herum die Worte.
Friedrich erhob sich auf die Knie und begann auf allen vieren davon zu kriechen. Dann war er weg und ich blieb sitzen, wo ich war.
Stunden später kamen sie, um uns zu holen. Weniger als 20 von uns hatten überlebt.
Im Lazarett erzählten sie uns, die Franzosen wären den Briten mit einer Batterie neuer Schneider-Geschütze zu Hilfe gekommen und hätten unsere Stellung aus sicherer Entfernung zusammengeschossen.
Mit nur neun Fingern war ich nutzlos und sie schickten mich nach Hause. Friedrich habe ich nie wiedergesehen. Aber das Grauen sehe ich fast jede Nacht.“
Opa verstummte und blickte mich an. Dann verschleierte sich sein Blick und er fiel zurück in das gnädige Vergessen des Dementen. „Grete?“ fragte er mich, „Bist du das, mein Herz? Bin ich bei Dir?“
Dabei fielen ihm fast die Augen zu. Seine Energie war verbraucht.
Ich brachte ihn zu Bett und als er da so lag, klein, friedlich, die Augen geschlossen, strich ich ihm über den Kopf. „Alles ist gut Opa, der Krieg ist aus.“
Drei Tage später starb er im Schlaf. Weit weg von seiner Grete, weit weg von Arras. Der Albtraum war vorüber.