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Opa Siegfried

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09.10.2003
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Opa Siegfried

Der Abendtisch ist gedeckt. Die ganze Familie sitzt gespannt am Essenstisch und alle warten auf das fürstliche Abendmahl. Das Porzellangeschirr und das Silberbesteck sind für jeden dieser Gäste schön sortiert zusammengestellt. Die Luft riecht angenehm nach gebratenem Fleisch und im Hintergrund lauscht man den himmlischen Klängen bekannter Komponisten. Alles ist perfekt. Martin hat heute seinen achten Geburtstag. Opa, Onkel, Tante, alle sind gekommen um ihm zu gratulieren. „Opa Siegfried, schau mal was ich von Tante Betty und Onkel Jörg bekommen habe“, schreit Martin ihm mit strahlenden Augen entgegen. Er reicht ihm eine Spielkonsole in Taschenformat entgegen. „Oh, ist das so ein Playingboy“, fragt Opa Siegfried interessiert. „Du bist ja doof. Das heißt Gameboy“. Martin schaut seinen Opa verärgert an. Er schüttelt den Kopf, nimmt seine Spielkonsole zurück und verlässt das Zimmer. Siegfried ist geschockt. Nervös schaut er sich in der Runde um.
„Na ja, ein bisschen Interesse für die Technik solltest du schon aufbringen“, rät ihm sein Sohn Klaus, Vater von Martin. „Die alten Leute sollten sich auch mal ein bisschen bemühen. Sie waren ja schließlich auch mal jung. Ein bisschen Interesse gehört dazu“, schmeißt Julia, seriös bekleidet, die Frau von Klaus in die Runde.
Siegfried erinnert sich. Er war auch mal acht Jahre alt. Das war 1932, sieben Jahre vor dem Krieg. Deutschland war wirtschaftlich am Ende. Von Politik hatte er damals noch keine Ahnung. Er war nur froh, wenn er nicht verhungern musste. Seine Mutter arbeitete von Tag bis Nacht, um genügend Brot für alle kaufen zu können. Sein Vater hatte seine Mutter schon lange verlassen. Gesehen hatte er ihn noch nie. Siegfried teilte sich sein Zimmer mit seinen zwei Brüdern. Zur Schule konnte er nicht. Die Kosten waren viel zu hoch. Man spielte Verstecken auf den Strassen von Berlin.
„Kristoph“, der Bruder von Martin, „ist jetzt zwölf Jahre alt. Er meckert immer über Tomas. Der ist in seiner Klasse. Könnt ihr euch vorstellen, dass er noch nicht mal einen eigenen Fernseher in seinem Zimmer hat? Noch nicht einmal ein eigenes Zimmer hat er. Er teilt es sich mit seinem Zwillingsbruder. Was müssen das für Eltern sein“, fragt Julia die anderen.
Allgemeines Entsetzen macht sich breit.
Nur Siegfried erinnert sich an früher. Er war auch mal zwölf Jahre alt. Das war 1936, drei Jahre vor dem Krieg. Eine neue Macht hatte Deutschland übernommen. Man hatte zwar keinen Fernseher, aber man hatte genug zu essen. Siegfried teilte sich immer noch sein Zimmer mit seinen zwei Brüdern. In der Schule, die man sich jetzt leisten konnte, sprach man viel über den Führer. Er war gut, denn man hatte jetzt genug Geld zum überleben. „Sieg heil. Es lebe der Führer“, schrie der Lehrer jeden morgen in selbstsicherer Stellung. Warum die Nachbarsfamilie auf einmal verschwand, verstand er nicht. „Das sind schlechte Menschen“, erklärte ihm der Lehrer. „Schlechte Menschen haben so etwas verdient“, wusste Siegfried. Wenn der Lehrer so etwas sagt, muss es ja stimmen. Ein Lehrer lügt nicht. Das wusste Siegfried. Auf den Strassen musste er sich nicht mehr rumtreiben. Es gab ja jetzt die „HJ“.
Hier konnte man spielen. Man traf neue Leute. Man zeltete und hatte eine menge Spaß.
„Und mein Sohn, der Frank“, der Sohn der älteren Schwester von Klaus, Marianne „ist ja vor kurzem 16 geworden. Er möchte jetzt endlich seinen Rollerführerschein machen. Ich habe ihm das Geld gegeben. Es ist heutzutage ja viel zu gefährlich, zu Fuß zu gehen. Es verschwinden ja so viele junge Leute“. Die Menge zeigt Verständnis. Man nickt zu diesem Beitrag. „Was ist aus der Menschheit nur geworden“, fragt Julia empört in die Runde.
Nur Siegfried erinnert sich an früher. Er war auch mal 16 Jahre alt. Das war 1940. Der Krieg war schon seid einem Jahr begonnen. Schwere Zeiten lagen vor ihm. Sein älterer Bruder musste in den Krieg. Er war jetzt 19 Jahre alt. Er wollte dazugehören. Er musste dazugehören.
Hitler schickte ihn und seine Kameraden nach Frankreich. Siegfried machte sich große Sorgen. Er würde seinen Bruder vielleicht nie mehr wiedersehen.
„Franks Freund, 19 Jahre alt muss jetzt schon arbeiten gehen. Obwohl er noch zur Schule geht, muss er sich sein Taschengeld selber verdienen, trotzdem seine Eltern genug Geld haben“, erklärt Julia. „Das ist ja Unzumutbar“, lässt Marianne verlauten. „Das ist ja Kinderarbeit“, fügt sie hinzu. Allgemeine Zustimmung erfolgt.
Nur Siegfried erinnert sich an früher. Er war auch mal 19 Jahre alt. Das war 1943. Der Krieg war schon seid vier Jahren am Laufen. Sein Bruder wurde nach Russland geschickt. Ein Heckenschütze erschoss ihn aus dem Hinterhalt. Es war eine schwere Zeit für Siegfried. Immer wieder spielte es sich vor seinen Augen ab, wie es war, als seine Mutter den Brief von der Front bekam. Sie weinte Nächte lang. Auch Siegfried musste jetzt nach Russland. Er war alt genug. Der Führer brauchte jeden Mann. Er wurde lange genug darauf vorbereitet. In Militärcamps lernte er das töten.
„Ja ja, das sind schwere Zeiten. Mein Sohn ist jetzt 20 Jahre alt. In seiner Ausbildung ist es sehr hart. So oft muss er Überstunden machen, die er nicht bezahlt bekommt. Er muss sich immer weiterbilden, sonst kommt er nicht mehr nach“, lässt Hans, Bruder von Marianne verlauten. Allgemeines Entsetzen tritt ein. Keiner sagt ein Wort. Es ist ruhig.
Nur Siegfried erinnert sich an früher. Er war auch mal 20 Jahre alt. Das war 1944. Der Krieg war schon seid fünf Jahren alltäglich. Mit seiner Panzertruppe kam er bis nach Stalingrad voran. Dort wurde seine Einheit eingekesselt. Noch Jahre später quälten ihn die schrecklichen Bilder in seinem Schlaf. Immer wieder hörte er die mächtigen Explosionen der Granaten neben den Panzern. Das dumpfe Feuer der Abwehrstellungen. Die Wahl war: Töten oder sterben.
Die Opfer wuchsen ins Unermessliche. Er sah seine Kameraden sterben, elendig verrecken im Blut des Feindes. Manchmal waren sie sofort tot. Manchmal baten sie ihn, die restlichen Teile des Körpers zu finden. Ob Arm oder Bein, Hauptsache etwas.
Übergeben musste er sich nicht. Er hatte ja schon seid vier Tagen nichts mehr gegessen. Um dem Hungertod zu entgehen, machten sich einige der übriggebliebenen Kameraden auf die Suche nach Essbarem. Der Rest hielt die Stellung bei 20 Grad unter null und einer übermächtigen Gegenwehr. Die getöteten Kameraden, einst Freunde, waren dann doch noch zu etwas gut. Man musste, ob man wollte oder nicht. Der Hunger war einfach zu groß.
Siegfried war dann irgendwie doch erleichtert, als die Russen ihn gefangen nahmen. Zwar starben etwa ¼ der Gefangenen, aber Siegfried wurde 1949 freigelassen. Mit einem Tinitus im linken Ohr, Narben auf dem ganzen Körper und grausigen Erinnerungen an eine schlimme Zeit. Nun war er schon 25 Jahre alt. Deutschland lag in Schutt und Asche.
Seine Mutter und sein jüngerer Bruder waren bei den Luftangriffen der Alliierten auf Berlin getötet worden. Siegfried stand ganz alleine da. Trotz der schwierigen Vergangenheit raffte man sich auf. Die Häuser wurden wieder aufgebaut, die Wirtschaft angekurbelt, der Schutt beiseite geschafft. Jeder packte mit an. Alle arbeiteten für ein Ziel.
Ein besseres Deutschland für unsere Kinder. Man arbeitete 16 Stunden am Tag und schaffte das, was Niemand sich überhaupt annähernd erhofft hatte.
Eine demokratische Nation, die international anerkannt wurde. Von ganz unten nach ganz oben. Vom Tellerwäscher zum Millionär. Es war eine Zeit von Hoffnung und Stolz. Eine Generation schaffte neue Perspektiven, für ein neues Deutschland.
„Wenn das mit der Wirtschaft so weiter geht, müssen wir bald unser zweites Auto verkaufen. Die Rentenbeiträge steigen. Die Alten liegen uns auf der Tasche. Die alten Leute, denen wir den Krieg zu verdanken haben, wollen jetzt noch Geld von uns. Ja ja, heutzutage geht es uns schon schlecht“, predigt Klaus in den Raum.
Da ist sie nun endlich. Julia betritt das Wohnzimmer mit einem dampfenden Braten und krossen Kroketten in den Händen. „Wir brauchen einfach mehr Geld“, fügt Klaus hinzu.
„Was meinst du dazu, Siegfried“, fragt Klaus seinen Vater. Alle sind ruhig. Keiner sagt ein Wort. Gespannt fallen die Blicke auf Siegfried. „Der heutigen Gesellschaft geht es doch wirklich schlecht, oder etwa nicht“?, führt Klaus fort.
„Ja, unserer Gesellschaft geht es schlecht“, deutet Siegfried an. Siegfried bleibt ruhig. Er holt tief Luft.

„Wir brauchen mal wieder einen Krieg“.

 

Hi PM,
etstmal vielen Dank für deine Kritik. Die restliche Familie wird gar nicht mit den Erlebnissen von Siegfried konfrontiert. Er hört sich die Sorgen der heutigen Gesellschaft an und muss sich am Anfang und am Ende der Geschichte "beleidigen" lassen. Natürlich ist die heutige Zeit nicht mit der von Früher zu vergleichen. Wenn Siegfried sich allerdings die Sorgen von heute Anhört, muss er ja froh sein, dass dies die Sorgen von heute sind. Die Familie weiss gar nicht, wie gut es ihr geht und was die Rentner alles dafür gemacht haben, dass es ihnen so gut geht. Den Krieg brauch unsere Gesellschaft, weiss Siegfried, damit die Gesellschaft sieht wie gut es ihr geht. Dänach wäre sie wieder zufriedener, wenn sie so etwas mitgemacht hätten, weiss Siegfried.
Ich werde mir meine Geschichte noch ein paar mal durchlesen. Vielleicht kann ich ja noch etwas "raushauen". ;)

Nochmals vielen Dank für deine Kritik
bye
Tachauch

 

Hi Existence,
Vielen Dank für deine Kritik. Ich finde es schön, dass du mich auf einen inhaltlichen Fehler aufmerksam gemacht hast. Es ist mir sehr unangenehm, dass mir bei so einem brisanten Thema ein solcher Fehler unterlaufen ist. Ich hatte mit meinen Erinnerungen aus meiner Schulzeit gearbeitet, was die zeitlichen Abläufe angeht. Ich hätte mich bei solch einem kritischen Thema besser informieren sollen. Ich war sogar am Überlegen, ob ich diese Geschichte überhaupt online bringen soll. Ich fragte mich, ob man als unerfahrener Mensch in der heutigen Gesellschaft, der von dieser Zeit nur gehört hat, überhaupt das Recht hat über solch ein Thema zu schreiben. Ich hoffe, dass jeder Leser versteht, was ich mit dieser Geschichte sagen will. Wenn man möchte, kann man diese Geschichte nämlich auch falsch verstehen.

Nochmals vielen Dank für deine Kritik

bye
Tachauch

 

Kann mich anschließen. Also gut, von mir aus sind die Menschen heute besser. Dann sollte man eben eine Geschichte schreiben, in der jemand mit heutiger Sozilisation urplötzlich in der damaligen Zeit lebt. Wäre doch interessant zu sehen, wie jemand sich dann unter den damals gegebenen Bedingungen verhält, wie er sein besseres Wissen und seine erprobtere Moral in die Tat umsetzt.

 

Jeder darf sich mit dem Thema auseinadersetzen. Und kennt man sich nicht so genau aus, dann muss halt erkennbar sein, dass es sich um ein Fantasieprodukt handelt, inspiriert von den Tatsächlickeiten. Also ein Mischmasch aus Realität und Geschichte. So geschieht das doch auch in der Literatur der Großen, oder?

 

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