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Opa ist tot.
„Opa ist tot.“
Kilian hört die Stimme der Mutter nah an seinem Ohr. Gerne würde er ihre Hand auf seiner Schulter spüren.
Opa ist tot.
„Er hat die Lungenentzündung nicht verkraften können. Mach‘ Dir keine Gedanken, gell, es hat ihm nicht wehgetan.“
Die Stimme der Mutter bricht. Nach einer Weile sagt sie:
„Wir sind jetzt noch im Krankenhaus. Ich bleibe heute Nacht bei Oma und Julia. Bring‘ Lilli ins Bett, ja? Und sag‘ ihr noch nichts davon, ich mache das morgen.“
„Ok.“
„Kilian? Ich habe dich lieb. Und Opa hat Dich auch lieb gehabt, das weißt Du.“
„Mh. Tschüss, Susa.“ Kilian legt das Telefon auf das Tischchen vor ihm.
Opa ist tot.
Der Alte war komplett gaga, ständig hatte er Kilian mit Susas Bruder verwechselt. Dabei war der im Krieg gefallen. Komplett gaga.
Trotzdem. Er hatte doch letzte Woche noch in seinem Sessel gesessen. Einem furchtbar wuchtigen Teil aus schwarzem Leder, das beherrschend im Wohnzimmer seiner Großeltern thront. Genau in der Mitte, sodass sich die gesamte Aufmerksamkeit beim Betreten erst einmal darauf konzentriert.
Wie gut dieser Sessel zu Gerhard passt. Gepasst hat.
Tot. Kilian fühlt sich komisch.
„Komm, Lilli.“
Er geht zu seiner kleinen Schwester, die sich auf dem Sofa zusammen gerollt hat. Sanft weckt er sie.
„Ich bring‘ Dich ins Bett.“
„Opa ist tot.“
Julia klemmt das Handy zwischen Ohr und Schulter, mit fahrigen Bewegungen kippt sie Kaffeepulver in den Filter, füllt den Wasserbehälter auf und drückt auf den Startknopf der Maschine.
„Seit gestern Nacht. Susa, Oma und ich waren bei ihm. Er war den ganzen Tag schon nicht mehr ansprechbar und die Ärzte haben gesagt, sie wüssten nicht, ob er es schafft.
Irgendwann hat es ‚piep‘ gemacht. Und fertig.“
Sie schnieft, öffnet die Tür der Spülmaschine und räumt sie hektisch aus.
„‘Piep‘. Und fertig. Kein Herzschlag. … Oma ist völlig fertig. Sie ist oben und schläft.“
Julia hält inne, einen Keramikbecher in der Hand dreht sie sich langsam um.
„Martin? Bist Du noch da?“
Es ist still.
Dann sagt Martin:
„Entschuldige Schätzchen, was hast Du gesagt? Ich bin im Vulpiano’s mit den Abgeordneten aus Paris. Es ist so laut im Hintergrund.“
Julias Hand beginnt zu zittern.
Der Keramikbecher zerschellt auf den Küchenfliesen.
„Scheiße.“
Julia flucht.
„Scheiße.“
Der Kaffee ist fertig. ‚Piep‘, macht die Maschine.
Julia zuckt zusammen.
Mit dem Handy in der Hand steht sie in den Scherben und schluchzt.
„Opa ist tot.“
Die Großmutter sitzt auf einem Holzschemel vor dem Küchenfenster.
„Das sagen Sie. Aber eigentlich stimmt es nicht.“
Sie weint. Sie weint oft und daher ist es, als geschehe es beiläufig.
Dennoch sieht Lilli sie mit großen Augen an.
„Er ist im Himmel, weißt Du. Bei Gott.“
Mit dem Zeigefinger deutet sie zur Zimmerdecke und nickt.
„Mensch, der Gerhard war doch so ein guter Mann.“
Ihre Stimme verändert sich, die Brauen ziehen sich zusammen, das Kinn bebt.
Lilli ist auch traurig. Sie klettert auf den Schoß der Großmutter und schlingt ihre kurzen Arme um deren Hals.
Kurz wird Lillis Umarmung erwidert, dann schiebt die Großmutter sie mit einem Ruck von ihrem Schoß.
Wieder nickt sie.
Dann nimmt sie das Messer vom Brettchen und taucht es ins Butterfass.
Lilli beobachtet die fleischige, mit Altersflecken übersäte Hand, die mit geübten Bewegungen eine Scheibe Graubrot bestreicht, Salz darauf streut und das Brot anschließend zum Mund führt.
Abbeißen, Kauen, Schlucken. Normalität.
Für Lilli sieht die Großmutter sehr groß aus. Gelangweilt vom Anblick des kauenden Kiefers schweifen ihre Gedanken ab.
Opa ist also im Himmel. Wie es da wohl aussieht?
Sicher voller Flauschewolken, auf denen man hüpfen kann.
Und der Opa hat sich auf einer ein Haus gebaut, mit einem Vorgarten und einem Briefkasten aus Holz.
Und gerade jetzt liegt er auf dem gestreiften Liegestuhl und lässt sich die Sonne auf den dicken Bauch scheinen.
Lilli steht vor ihrer Großmutter und gluckst leise.
Ihre Augen leuchten, bevor die Hand der Alten ihre Wange trifft.
„Opa ist tot.“
Susa ist nackt, entspannt liegt ihr Kopf auf Peters Brust.
„Es ist merkwürdig es auszusprechen. Als werde es erst dadurch, dass mein Mund die Laute formt tatsächlich.“
„Ich weiß, Liebes.“
„Mein Vater ist tot.“
Sachte fährt Susa mit den Fingern durch Peters Brusthaare.
„Du weißt, wie ich zu ihm gestanden habe. Ich kann nicht sagen, dass es mich schmerzt.“, sagt Peter.
„Mh.“, macht Susa. „Ich wusste ja, dass es passiert. Es ist nicht so, dass es mich überrascht oder ich sehr traurig bin. Es ist nur komisch.“
„Ich sag‘ es nicht gern, Susa. Aber er war ein Faschist. Ein wenig vertrottelt und alt, aber das macht es nicht besser.“
Susa steht auf und geht zum Fenster. Grazile Hände schieben die weiße Spitzengardine zur Seite, Susa sieht in die friedliche Winterlandschaft hinaus.
Peter fährt fort:
„Allein schon dieser alberne Sessel. So ein riesiges Teil in dem engen Raum. So muffig und alt. Fast schon tragisch. Genau wie er eigentlich, immer wollte er etwas beherrschen, dass für seine starke Hand zu schwach, für seinen Größenwahn zu klein war. Das hat er nie verstehen können. Nein falsch, er hat es nicht verstehen wollen, er hat sich gar nicht die Mühe gemacht.“
Susa dreht sich um.
„Was soll nur aus Julia werden?“
Wieder dreht sie sich zum Fenster.
„Und dann die Beerdigung, es gibt so viel zu bedenken. Ich muss morgen unbedingt Julia anrufen, sie muss sich so verloren vorkommen.“
„Opa ist tot.“
Julia flüstert in die Dunkelheit. Sie liegt auf dem Rücken und hat die Hände hinter ihrem Kopf verschränkt.
Sie lauscht den tiefen Atemzügen Martins, der neben ihr liegt, und starrt an die Decke.
Sie fühlt sich sehr leer, wie ein Kürbis, den jemand zu Halloween ausgehöhlt hat. Und anstelle eines Lächelns ist da jetzt nur noch eine hässliche Fratze.
Martin war ständig unterwegs und sie sonst ganz allein in dem großen Haus.
Es war doch nur logisch, dass Oma und Opa in die Wohnung unter ihnen ziehen.
Sie hatte so viel Zeit mit ihm verbracht.
Immer schon war er ihr Held gewesen, an den sie sich lehnen konnte und der ihr auf die Beine half, wenn sie fiel.
Und jetzt? Julia ist, als stehe sie verloren im Dickicht der unbegrenzten Möglichkeiten, ohne Halt. Ohne Wegweiser oder Kompass oder Karte.
Jetzt ist sie auf sich gestellt.
Leise steht sie auf und geht zur Tür, kurz dreht sie sich um, sieht ihren schlafenden Mann traurig an.
Sie geht die Treppe hinunter, die Kälte der Nacht hinterlässt eine feine Gänsehaut auf ihren Armen.
Die Tür der Wohnung schleift über den Boden, als sie sie öffnet.
Julia durchquert das Wohnzimmer und setzt sich in den großen schwarzen Sessel.
Einen Moment hält sie im Bewusstsein der Situation inne, dann legt sie ihre Hände auf die Lehnen. Und in Gedanken an gestern und an morgen, an die große Welt, schleicht sich ein Lächeln auf ihre Lippen.