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Opa Blue
Der Rücken schmerzt fürchterlich. Diese Haltung beim Rasieren ist Gift für seine Wirbelsäule. So stand John Lántos über vierzig Jahre an den Küchenherden der Containerschiffe.
Nun muss er sich erst einmal hinsetzen.
Noch schöner wäre es, sich auf die Couch zu legen – doch die beste Stunde des Tages lockt viel zu sehr. Also kleidet er sich sorgfältig an, überprüft jedes Detail.
Mühsam geht er die Treppe hinunter, stützt sich am Geländer ab. Die Kniegelenke brennen wie Feuer, es ist jedes Mal eine Qual. Er öffnet die Haustür, tritt hinaus und atmet tief ein, um sich von der Anstrengung zu erholen.
Ein Radfahrer flitzt vorbei, sonst ist kein Mensch zu sehen. Dennoch bemüht er sich um Haltung und geht mit forschem Schritt; man soll denken, er sei unverwüstlich.
Kühl ist es und trocken, zu Mantel und Hut trägt er einen leichten Schal.
John Lántos wirft dessen Ende über die Schulter. Nicht übermütig wie früher, sondern ärgerlich, denn es hindert ihn bei der Suche nach dem Brillenetui. Er hatte es doch in die Manteltasche gesteckt? Nein, auch in den anderen Taschen ist es nicht; wohl oder übel muss er sich noch einmal in seine Wohnung bemühen.
Durch den schmerzhaften Aufstieg vergeht ihm die gute Stimmung, er setzt sich für einen Moment auf die Couchlehne. Im Spiegel gegenüber betrachtet er den alten Herrn mit verwegenem Hut und einigen Lebensschrammen im Gesicht und findet sich ganz passabel. Vor Shirley will er eine gute Figur machen.
Auf dem Vertiko liegt die Brille samt Etui. Wieder vierzehn schmerzhafte Stufen zurück, doch beim Öffnen der Haustür strafft er sich und marschiert los. Endlich der gerade, akkurat gepflasterte Weg.
Den geht er auch bei Regen, oft denkt er dabei an seine Jugend.
Wie er trotz aller Ermahnungen und Verbote bei jedem Wetter irgendwo in der Landschaft verschwand, ganz gleich, ob die Erwachsenen mit Kapuzen und Regenschirmen gegen die Böen ankämpften oder die Schirme in die Ecke stellten und zu Hause blieben.
Da ist er der Gewitzte, der über Bäche balanciert, in den Baumwipfeln zu Hause ist, ohne Sattel reiten kann – Räuber und Gendarm in einer Person.
Und Krusenstern, James Cook und La Pérouse hat er hundertmal gelesen, ist mit ihnen an Land gegangen, hat kaum zu atmen gewagt, als die Eingeborenen mit Speeren und Geschrei auf sie zustürzen.
Seine Kindheit fällt ihm immer häufiger ein. So viele Mosaiksteinchen, kunterbunt gemischt. Es werden immer mehr. Er erinnert sich an die Namen der Klassenkameraden. An seine selbstgebaute Maus, die sich im Katechismusunterricht von der Lampe abseilte, dass die Mädchen schreiend hinausliefen, an den beißenden Schwefelgestank im Chemielabor, ans gebrochene Nasenbein beim Barrenturnen. Und an Tessas zarte schmale Lippen.
Abrupt bleibt er stehen.
Das kommt davon, wenn auch die Gedanken spazieren gehen.
Wieso hat er den Schlüsselbund noch in der Hand? Hätte er das Haus ordentlich abgeschlossen, wären die Schlüssel doch in der Hosen- oder Manteltasche. Hat er nur die Tür hinter sich zugezogen? Er muss sich vergewissern, sonst begleitet ihn diese Unsicherheit für den Rest seines Spaziergangs.
Nur ruhig Blut, gleich wird sie ihn begrüßen, ganz in Weiß, die Konditorenmütze im blonden Stoppelhaar, und ihn anschauen mit diesen Bernsteinaugen, die er nicht enträtseln kann.
Sie wird ihn nach seinen Wünschen fragen, obwohl sie die schon kennt, und als Stammgast wird er entweder „So wie immer“ sagen oder „Haben Sie etwas Neues?“
Er verehrt sie, erinnert sich an ihre ersten Marmeladenschnecken mit stumpfer Glasur und ihre Unsicherheit beim Servieren. Wenn aber heute Nachmittag ein herrliches Quitten-Karamell-Biskuit auf seiner Zunge schmilzt, dann bewundert er ihre Kraft durchzuhalten, weiterzumachen, den Gästen stets ein freundliches Wort zukommen zu lassen, sich dabei nicht nur um ihre Mädchen zu kümmern, sondern auch sich selbst voran zu bringen. Ihn überkommt ein warmes, herzliches Gefühl – jedoch völlig unangebracht, schließlich ist Shirley nicht seine Tochter. Und auch nicht seine – Blödsinn, verdammter. Sie ist eine tapfere Frau, und dafür gebührt ihr seine Hochachtung. Vorher aber muss er, wenn auch widerwillig, noch einmal zurück zum Haus, um endlich Gewissheit zu erlangen: richtig zu oder nicht?
Es wird wie so oft sein: Die Tür ist abgeschlossen, aber er ist genervt von seiner Zerstreutheit. Ist das normal in seinem Alter oder wird er gaga? Sein Schritt verlangsamt sich, die Vorfreude auf einen schönen Nachmittag ist dahin.
Seine straffe Haltung lässt nach, die Schulterpartie wird etwas rundlich, der Kopf neigt sich ein wenig. Er dreht sich um, unendlich langsam, als ob er Widerstände überwinden müsse, und tritt verdrossen den Heimweg an. Die schöne Stunde bei Shirley – er muss sie fahren lassen, mit großem Bedauern, denn heute, das weiß er, heute hätte er ihr mehr sagen wollen, als sie Zeit gehabt hätte, zuzuhören.
Ein sonderbares Ziehen verspürt er in der Brust, er schafft es aber noch, die Haustür aufzuschließen.
Diesmal erscheint ihm die Treppe wie eine Steilwand. Er bewältigt sie mit größter Anstrengung und lässt sich ächzend auf der Couch nieder. Seine Finger wollen den Krawattenknoten lösen, jedoch ist er schon eingeschlafen, bevor das gelingt.
Nach Stunden schrillt das Telefon, er schreckt auf, greift benommen zum Hörer: „John Làntos, ja bitte?“
Er hört Räuspern und Papierrascheln. „Hier ist Shirley Hill, guten Abend, Herr Làntos. Bitte ...“
„Ah, Frau Hill, ich meine Shirley! Das freut mich aber!“
„Ja, entschuldigen Sie vielmals, dass ich störe. Es ist nur, weil Sie gestern sagten ‚Bis morgen’, aber Sie waren nicht hier, also ...“
„Oh, Shirley, das tut mir sehr leid ...“
„Aber nicht doch! Ich wollte nur fragen, ob es Ihnen gut geht und ob alles in Ordnung ...
„Doch, doch, alles in bester Ordnung.“
„Ah, Gott sei Dank. Ich hab’ mir schon Sorgen gemacht. Oder soll ich Ihnen etwas aus der Apotheke bringen?“
John Làntos ist hellwach. Die Shirley ruft ihn an!
Das ist völlig verrückt, er hat gar keine Zeit, eine gescheite Antwort zu formulieren, sagt einfach: “Oh, das ist ganz lieb von Ihnen. Aber nein, ich brauche wirklich nichts. Ich war tatsächlich schon auf dem Weg, leider fühlte ich mich nicht sehr wohl und bin wieder umgekehrt – aber dass Sie sich um mich sorgen, das freut mich, nein, Quatsch, ich meine, das berührt mich.“
„Aber ich bitte Sie, Herr Làntos – so ein freundlicher und treuer Stammgast wächst einem schon ein bisschen ans Herz. Ich habe Pavlova gemacht, die Sie so mögen. Soll ich Ihnen ein Stück vorbeibringen? Das würde mir Freude machen.“
„Aber Shirley, das kann ich unmöglich annehmen.“ Er steht auf, das übliche Stöhnen muss er sich verkneifen. Diese großartige Frau ist am Telefon und sie will ihn besuchen – das ist überhaupt nicht zu fassen. Doch ziert er sich, statt sich zu freuen! Ist er jetzt total verrückt? Schnell korrigiert er sich: „Ach, was rede ich für einen Unsinn? Nein, Shirley, ich freue mich sehr, dass Sie mich besuchen wollen.“
„Ganz ehrlich?“
„Bei allem, was mir lieb und teuer ist.“
„Dann muss es ehrlich sein – ich brause los!“
„Sie sind wirklich fabelhaft. Eines noch: Die Namensschilder sind nicht beleuchtet – es ist das zweite von oben.“
„Oh, keine Sorge. Ich werde Sie schon aufspüren. Bis gleich, Herr Lántos!“
John legt auf, holt das Teegeschirr aus dem Schrank, Kandis, Milch, Zuckerzange, Servietten, geht in die Küche und sorgt für kochendes Wasser – die Teebeutel lässt er in der Schublade und bereitet einen Tee der Meisterklasse.
Der Gedanke, die Nachbarn bekämen es mit, dass eine attraktive Frau am Abend den Herrn Làntos besucht, amüsiert ihn. Eine Serviette segelt zu Boden, er fängt sie im Flug. Eine überschwängliche Laune überkommt ihn, vielleicht will er ihr einen Heiratsantrag machen? Jetzt ist er völlig übergeschnappt. Trotzdem nimmt er die feine Schere und die Vergrößerungsseite des Rasierspiegels, schnippelt hier und da, stutzt die Brauen, entfernt ein Härchen, das aus der Nase lugt und eines am Ohr. Er muss an eine Filmszene denken, bei der sich eine Dame Parfüm hinters Ohr tupft. „Shirley tut das nicht“, sagt er leise, „aber wenn ich jünger wäre?“ Ein bisschen grinsen muss er schon – wird er sich solche Illusionen nie aus dem Kopf schlagen? Und als er noch sein Aussehen überprüft, schellt es.
Statt den Türöffner zu drücken, eilt er die Treppe hinunter, um Shirley persönlich die Tür zu öffnen.
„’n Abend, Herr Lántos, hier ist Ihre süße Fee“, begrüßt sie ihn gutgelaunt und will ihm das Kuchenpäckchen überreichen.
„Sie sind wirklich ein Schatz, herzlichen Dank. Ich habe, ehm, ich meine – ich weiß nicht, ob Sie in Eile sind, ...“
„Nein, bin ich eigentlich nicht. Die Mädchen kommen erst gegen halb neun“, sagt sie und fügt stolz hinzu: “Heute Abend ist Generalprobe für die Gala am Sonntag.“
John wird ein bisschen euphorisch: „Am Sonntag! Das wird sicher eine großartige Sache, meine Vermieterin hat mir eine Karte besorgt. Ich freue mich riesig auf Ihre Töchter, auf ihren Auftritt. Wie Sie die zwei über all die Jahre begleitet haben, das bewundere ich. Fast wie ein Großvater hab ich sie aufwachsen sehen; immer wenn sie ins Geschäft kommen, strahlen sie so eine Lebensfreude aus, eine Fröhlichkeit ... aber was reden wir zwischen Tür und Angel? Ich habe Tee gemacht, wenn Sie mögen ...?“
Ein feiner Duft von Vanille und Himbeeren kommt mit ihr ins Haus.
John hat Kerzen und Teelichte angezündet, beinahe feierlich präsentiert sich der kleine Tisch. „Oh, Herr Lántos, das haben Sie wirklich schön gemacht“, sagt sie und folgt seiner Einladung, sich zu setzen.
Es sind zwei Portionen Pavlova, John Lantos kann nicht widerstehen und nimmt ein Stück. Himbeeren, Sahne, Baiser – für einen Moment schließt er genießerisch die Augen und fragt dann: „Shirley, nehmen Sie nichts?“
„Ich darf nicht. Jill und Claire bringen noch Pizza mit, wenn sie nachhause kommen“, sagt sie, „da werd’ ich immer schwach nach all den süßen Sachen.“
„Aber hier haben Sie sich wieder einmal selbst übertroffen, wirklich köstlich. Übrigens, dieses schöne Kettchen“, er zeigt auf ihr Dekolleté, „haben Sie das in England gekauft?“
„Nein, von meiner Mutter hab ich das. Wieso?“
„Ach, ich frag nur. Könnte aus Asien sein. Schönes Stück, das Changieren zwischen Grün und Gelb lässt an ein Tigerauge denken.“
„Tigerauge? Ja, genau. Hat meine Mutter auch immer gesagt. Und das stimmt ja auch.“
„War sie mal in diesen Ländern?“
„Nein, ich glaube nicht. Ich weiß aber, dass ihr erster Freund dort war, der war Seemann.“
„Seemann war der? Ich bin auch mein ganzes Leben zur See gefahren – aber in der Kombüse.“
„Und haben dabei die Welt gesehen?“
„Darauf kam es mir an. Ich mag meinen Beruf, aber ich muss immer schauen, was sich hinter der nächsten Ecke verbirgt. Hab in meiner Jugend zu viele Abenteuerschwarten gelesen. Da kann man nicht an Land bleiben.“
„Dann sind Sie ein echter Abenteurer! Ich dachte, die wären schon ausgestorben. Hatten Sie nie Familie?“
„Nein, leider nicht. Ich war schon als Junge anders, und die Arbeit auf den Schiffen war für mich genau das Richtige. Die anderen waren schon verheiratet, aber ich war noch bei meiner Freundin.“ Er zeigt auf die Teekanne. „Darf ich noch ...?“
„Eine halbe Tasse, bitte.“
„Allerdings“, fährt John fort, „stellte sie mir ein Ultimatum: Entweder sie oder die See. Das waren die schwersten Tage in meinem Leben. Ich habe fürchterlich gesoffen, Streit und Schlägereien angezettelt und war nicht wiederzuerkennen. Da hab ich meine besten Freunde verloren, die dachten alle, ich sei verrückt geworden. Und Tessa ...”
“Tessa?” Sie setzt abrupt die Tasse ab, es scheppert ein wenig.
„Ja, Tessa Adamsson, das schönste Mädchen unter der Sonne.“ Johns Stimme wird eindringlich: „Ich hab mir nie verziehen, dass ich gegangen bin, aber ich konnte nicht anders.“ Leise fügt er hinzu: „Die See hab ich gehasst dafür; die war immer stärker als ich.“
Shirley nimmt eine Himbeere und fixiert sie wie eine Wahrsagerin die Kristallkugel. „John –“, sagt sie, „hat Tessa Sie so angesprochen? Einfach nur John?“
„Mich? Die Tessa? Eh, nein, sie rief mich ‚Blue’ – weil ich so seeverrückt war.“ John tupft die Mundwinkel ab.
„Tessa Adamsson hat Sie ‚Blue’ genannt?“, ruft Shirley, ungläubig bleibt ihr Mund offen. „Wahnsinn, das ist ja irre! Ich kann das gar nicht glauben – mein charmanter Herr Lántos war der wilde ‚Blue’!“
„Na, so wild war ich nun auch nicht. Nur ein bisschen anders, vielleicht."
Beide schweigen, dann sagt Shirley: „Meine Mutter hat mir oft von ‚Blue’ erzählt; ich glaube, sie hat viel für Sie empfunden.“
„Shirley, warten Sie mal, ich versteh’ nicht. Ihre Mutter ist Tessa?“
„Ja, das ist sie. Ich will Ihnen nicht wehtun, aber es gibt nur einen ‚Blue’ – und sie hat lange gewartet, ob der vielleicht doch der Seefahrt Ade sagt, aber das wissen Sie ja selbst. Sie hat sich dann von einem Gärtnermeister heiraten lassen.“
„Das war sicherlich die bessere Wahl.“
„Nein, bestimmt nicht. Ich weiß, so sollte ich nicht über meinen Vater sprechen, aber der wollte möglichst viele Kinder mit ihr haben; das wären alles fleißige Hände in der Gärtnerei gewesen – doch er hatte sich verrechnet. Schon kurz nach meiner Geburt hat sie ihn verlassen."
John Lántos legt die Kuchengabel ab und zwingt sich, ihrem Blick standzuhalten. So zerknirscht hat ihn Shirley noch nie gesehen, begütigend legt sie die Hand auf seine. Er rührt in der Tasse herum, der Kandis ist längst aufgelöst. „Ich brauch’ einen Schnaps“, sagt er und steht auf.
Dann ruft er aus der Küche: „Willst du auch einen?“
Shirley erhebt sich ebenfalls. „Aber ja! Einen dreifachen!“
„Abgelehnt, ich kann nicht zusehen, wie sich eine junge Frau zu Tode säuft.“ An der Küchentür stoßen sie fast zusammen, John stellt die Gläser mit Schwung auf einen Sims und hat beide Hände frei, Shirley zu umfassen und sie mit einer Armlänge Distanz anzuschauen. „Ich war ein Riesen-Egoist, Schande auf mein Haupt. Kann’s nicht mehr rückgängig machen.“ Sein Blick löst sich von ihren Augen. „In jungen Jahren ist eben doch alles anders.“
„Ach, John. Niemand macht dir einen Vorwurf.“
Sie nippen am Calvados, reden und reden, bis Shirley sagt: „Gott, schon nach acht! Ich muss los.“
“Aber die beiden haben doch Handys?", sagt John Lántos. "Dann könnten sie doch mit der Pizza hierher kommen."