Onkel Franz
Bärbel bog in die Autobahnauffahrt ein. Es war schon halb acht, sie musste sich beeilen, wenn sie nicht wieder zu spät zum Dienst erscheinen wollte. Es war jeden Morgen dasselbe, aber heute war Montag, und Montags war es am schlimmsten. Da wollten die Kinder überhaupt nicht gerne aus dem Bett, und sie hatte ihre liebe Mühe, sie auf den Weg zu bringen.
Sie ordnete sich auf die linke Spur ein und gab Gas. Der Wagen machte einen Satz und schoss vorwärts. Bis jetzt hatte der Verkehrsfunk noch keine nennenswerten Staus gemeldet, und sie hoffte, dass das so bleiben würde.
Aus dem Radio dudelte ein alter Rock'n'roll Song, ,Johnny B. Goode'. Dieses Lied hatte sie oft bei Onkel Franz gehört; dem lieben, alten Onkel Franz, ein Bruder ihres Vaters, der schon fünfzig Jahre in den USA lebte. Letztes Jahr hatte sie ihn besucht, war den weiten Weg über den Atlantik gereist, um ihren greisen Onkel noch einmal zu sehen. Jetzt war er tot, und sie war ein kleines bisschen traurig.
Nein, sie hatte nicht viel Verbindung zu ihm gehabt in all den Jahren - hin und wieder hatte sie ihm geschrieben, ihm Fotos von sich und ihrer Familie geschickt. Eine nette kleine Familie hast du da, hatte Onkel Franz immer gesagt, als er im vergangenen Jahr mit ihr
gemeinsam die Fotos ansah. Ja, hatte sie gedacht, das sieht so aus, aber du weißt Gott sei Dank überhaupt nichts.
Eigentlich war der Urlaub in den USA eine Flucht für sie gewesen; sie hatte Hals über Kopf gebucht, die Kinder zu ihrer Mutter gebracht und war abgeflogen. Niemals hätte ihr Mann es zugelassen, dass sie allein irgendwo hin ging. Seit er immer stärker trank, schlug er sie.
Zuerst war es nur eine Ohrfeige, dann steigerten sich die Schläge parallel zum Alkoholkonsum. Sie wusste, dass sie von ihm weg musste, sie und die Kinder. Es fehlte nur noch das Wie und Wohin. Sie brauchte einen klaren Kopf, sie brauchte den Abstand, und das waren am besten Tausende von Kilometer zwischen sich und ihrem "Monster", wie sie ihn in Gedanken nannte. Er hatte tatsächlich monsterhafte, verzerrte Gesichtszüge, wenn er auf sie einprügelte.
Bärbel bekam feuchte Hände am Steuer, wenn sie an den Brief dachte, der seit Samstag in ihrem Briefkasten lag und ihr seitdem keine Ruhe mehr gelassen hatte. Ein Brief von einem amerikanischen Anwalt, in dem ihr mitgeteilt wurde (und soviel Verständnis ließ ihr Schulenglisch noch zu), dass sie die einzige Angehörige von Onkel Franz gewesen sei und somit Erbin seines Vermögens. Allerdings hatte sie keine Ahnung, was das bedeutete - außer dem Haus, in dem ihr Onkel gewohnt hatte, waren ihr keine sichtbaren Gegenstände von eventuellem Reichtum oder sonstigem aufgefallen. Onkel Franz hatte sehr bescheiden gelebt; sein Mittagessen bestand, seit seine Frau gestorben war, aus einem Teller Suppe in einem Altenzentrum. Bärbel war zu vernünftig, um sich jetzt Illusionen hinzugeben.
Vielleicht würde der Verkauf des Hauses ja genug abwerfen, um ihr und den Kindern eine Flucht zu ermöglichen. Vielleicht würde sie aber auch kurzerhand mit den Kindern in die USA übersiedeln. Egal, es gab plötzlich einen Hoffnungsschimmer, und das gab ihr Schwung und Mut. Es würde alles gut werden. Noch einmal drückte sie das Gaspedal durch und raste über die Autobahn. Zu schnell, um dem Geisterfahrer ausweichen zu können.