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Onkel Franz

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08.08.2003
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Onkel Franz

Bärbel bog in die Autobahnauffahrt ein. Es war schon halb acht, sie musste sich beeilen, wenn sie nicht wieder zu spät zum Dienst erscheinen wollte. Es war jeden Morgen dasselbe, aber heute war Montag, und Montags war es am schlimmsten. Da wollten die Kinder überhaupt nicht gerne aus dem Bett, und sie hatte ihre liebe Mühe, sie auf den Weg zu bringen.
Sie ordnete sich auf die linke Spur ein und gab Gas. Der Wagen machte einen Satz und schoss vorwärts. Bis jetzt hatte der Verkehrsfunk noch keine nennenswerten Staus gemeldet, und sie hoffte, dass das so bleiben würde.
Aus dem Radio dudelte ein alter Rock'n'roll Song, ,Johnny B. Goode'. Dieses Lied hatte sie oft bei Onkel Franz gehört; dem lieben, alten Onkel Franz, ein Bruder ihres Vaters, der schon fünfzig Jahre in den USA lebte. Letztes Jahr hatte sie ihn besucht, war den weiten Weg über den Atlantik gereist, um ihren greisen Onkel noch einmal zu sehen. Jetzt war er tot, und sie war ein kleines bisschen traurig.
Nein, sie hatte nicht viel Verbindung zu ihm gehabt in all den Jahren - hin und wieder hatte sie ihm geschrieben, ihm Fotos von sich und ihrer Familie geschickt. Eine nette kleine Familie hast du da, hatte Onkel Franz immer gesagt, als er im vergangenen Jahr mit ihr
gemeinsam die Fotos ansah. Ja, hatte sie gedacht, das sieht so aus, aber du weißt Gott sei Dank überhaupt nichts.
Eigentlich war der Urlaub in den USA eine Flucht für sie gewesen; sie hatte Hals über Kopf gebucht, die Kinder zu ihrer Mutter gebracht und war abgeflogen. Niemals hätte ihr Mann es zugelassen, dass sie allein irgendwo hin ging. Seit er immer stärker trank, schlug er sie.
Zuerst war es nur eine Ohrfeige, dann steigerten sich die Schläge parallel zum Alkoholkonsum. Sie wusste, dass sie von ihm weg musste, sie und die Kinder. Es fehlte nur noch das Wie und Wohin. Sie brauchte einen klaren Kopf, sie brauchte den Abstand, und das waren am besten Tausende von Kilometer zwischen sich und ihrem "Monster", wie sie ihn in Gedanken nannte. Er hatte tatsächlich monsterhafte, verzerrte Gesichtszüge, wenn er auf sie einprügelte.
Bärbel bekam feuchte Hände am Steuer, wenn sie an den Brief dachte, der seit Samstag in ihrem Briefkasten lag und ihr seitdem keine Ruhe mehr gelassen hatte. Ein Brief von einem amerikanischen Anwalt, in dem ihr mitgeteilt wurde (und soviel Verständnis ließ ihr Schulenglisch noch zu), dass sie die einzige Angehörige von Onkel Franz gewesen sei und somit Erbin seines Vermögens. Allerdings hatte sie keine Ahnung, was das bedeutete - außer dem Haus, in dem ihr Onkel gewohnt hatte, waren ihr keine sichtbaren Gegenstände von eventuellem Reichtum oder sonstigem aufgefallen. Onkel Franz hatte sehr bescheiden gelebt; sein Mittagessen bestand, seit seine Frau gestorben war, aus einem Teller Suppe in einem Altenzentrum. Bärbel war zu vernünftig, um sich jetzt Illusionen hinzugeben.
Vielleicht würde der Verkauf des Hauses ja genug abwerfen, um ihr und den Kindern eine Flucht zu ermöglichen. Vielleicht würde sie aber auch kurzerhand mit den Kindern in die USA übersiedeln. Egal, es gab plötzlich einen Hoffnungsschimmer, und das gab ihr Schwung und Mut. Es würde alles gut werden. Noch einmal drückte sie das Gaspedal durch und raste über die Autobahn. Zu schnell, um dem Geisterfahrer ausweichen zu können.

 

"Nein, so läuft das nicht" wollte ich eigentlich schreiben. Aber so läuft es doch und nur so. Die Geschichte, ganz besonders der allerletzte Satz überzeugt mich. Der Geisterfahrer als plötzlich und vollkommen unerwartet auftretendes Moment überrascht nicht nur die Titelheldin, sondern auch mich als Leser. Kompliment hierfür!

Was auffällt ist, dass die Story hier starke Parallelen zu "Kleingedruckt" hat. Allerdings erdrückt sie den Leser nicht - wie ich es in der Rezension zu "Kleingedruckt" bemängelt habe, - sondern sie stellt ein gute Mischung aus Handlung und Gedanken dar. Insofern halte ich die Kurzgeschichte für gelungen. Die Motive der Frau dafür, mit ihren Kindern zu flüchten, werden nachvollziehbar.

Interessant ist auch, dass du es schaffst, den Leser in einen Zustand zu versetzen, in dem er mit der Protagonistin fühlt. Ehrlich gesagt habe ich mich gefreut, dass sie die Möglichkeit hat, nach Amerika zu gehen. Deshalb war ich auch geschockt und wollte spontan schreiben, "Nein so läuft das nicht", als der Geisterfahrer ihrem Leben ein jähes Ende bereitete.

Als Konsequenz für deine Story ergibt sich also, dass du sehr ordentlich geschrieben hast und mich wirklich emotional bewegt hast.

Glückwunsch

 

Hallo FrozenFire,

Danke für Deine konstruktive Kritik und natürlich auch für das Lob, das mich besonders freut. "Kleingedruckt" ist wohl deshalb so Gedanken-überladen, weil eigenes Erleben oft unkontrollierter aus einem heraussprudelt. Bei "Onkel Franz" ist die nötige Distanz zur Protagonistin da und die Geschichte konnte daher wesentlich entspannter erzählt werden.

Da ich Kurzgeschichten mag, die wirklich kurz sind und möglichst ein überraschendes Ende haben, hoffe ich, noch mehr in dieser Art schreiben zu können.

Gruß
renate60

 

Hallo renate60,

die Geschichte gefällt mir! Vor allem der unerwartete Schluß! Ich bin immer noch leicht verwirrt... Aber wie FrozenFire schon gesagt hat; so läuft es doch und nur so. Beängstigend, wie auf einmal alle Pläne platzen können... :(

Grüßle und weiter so!
stephy

 

Hallo Renate,

das ist das erste Mal das ich zu einer Kurzgeschichte sage: die ist zu kurz!
Es ist der Mittelteil, der schwächelt. Lass Dir mehr Zeit beim Erzählen. ALs Leser fühle ich mich wie erschlagen bei den plötzlich eingeworfenen Problemen mit ihrem Mann. Das muss subtiler erzählt werden, so, wie es ist, wirkt es auf mich wie ein kurzes Gespräch über den Zaun oder an der Bushaltestelle.

Wenn Du auf einer sehr kurzen Kurzgeschichte bestehst, kannst Du den Mittelteil, also die Eheprobleme, ganz weglassen. Die Story funktionierte auch ohne.

Gruß
Bobo

 

Hallo Bobo,

ich kann deinem Ratschlag, die Ausführung über die Eheprobleme komplett wegzulassen leider absolut nicht folgen. Würde dieses Element fehlen, so wäre der Plan, mit den Kindern nach Amerika zu flüchten absolut nicht nachvollziehbar. Wieso sollte eine Frau flüchten, wenn zu Hause alles super ist? Wenn du schreibst "Die Story funktioniert auch ohne" - so lass mich antworten: "Eine geplante Handlung ohne Motiv funktioniert nicht!" Menschen handeln ohne Motiv in den seltensten Fällen überlegt.

 

Hallo FrozenFire,

der Fluchtplan müsste dann natürlich auch komplett entfallen, der ist ja erst aus den Eheproblemen entstanden.
Aber mir wäre das dann erst recht zu dünn, ich würde, wie oben angemerkt, eine epischere Form bevorzugen.

Gruß
Bobo

 

Hallo Renate,

keine Kritik von mir, sondern nur ein Lob! Ich finde Deine Geschichte komplett sehr gelungen, sowohl vom Schreibstil her als auch vom Inhalt!

Der Schluß hat mich schier erschlagen und sehr traurig zurückgelassen. :heul:

Neugierig geworden habe ich mir dann auch "Das Kleingedruckte" durchgelesen. Kritik hierzu siehe dort.

Viele Grüße und weiter so!

Petra

 

Mal eine ganz allgemeine Anmerkung zum Thema:


keine Kritik von mir, sondern nur ein Lob! Ich finde Deine Geschichte komplett sehr gelungen, sowohl vom Schreibstil her als auch vom Inhalt!

Kritik ist ambivalent. Es gibt sowohl positive als auch negative Kritik. In meinen Augen ist jedoch die negative Kritik im Endeffekt nützlicher als ein Lob.
Wenn ich z.B. "Kleingedruckt" negativ-kritisch rezensiert habe, so sollte dies keinesfalls als Hemmnnis, sondern viel, viel eher als Herausforderung und Hilfe angesehen werden.


Gruß

FrozenFire

 

Hallo FrozenFire,

meine "Kritik" sollte keine Kritik zu Deiner Kritik sein! :D

Mir persönlich hat Renates Geschichte nur einfach sehr gut gefallen, von daher konnte ich auch keine negative Kritik posten.

VG

Petra

 

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