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Omma Änne haut den Lukas

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12.04.2004
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Omma Änne haut den Lukas

Omma Änne war mit ihren 88 Jahren eine gefragte und viel beschäftigte Frau. Jeden Morgen um halb zehn kam Luise Krafczik zum Frühstück. Die Krafczik brachte Brötchen vom Bäcker mit, immer zwei Mohnbrötchen für Omma Änne, mit der Folge, dass ihr Gebiss den Rest des Tages von schwarzen Stippen gesprenkelt war. Omma Änne kochte Kaffee, und jeden zweiten Tag gab es ein weich gekochtes Ei, nur die dicken vom Markt, nicht die Knickel, die sie bei ALDI oder Lidl verkauften.
Gegen zwölf musste die Krafczik immer nach Hause, um für ihren fünfzig Jahre alten Sohn, der noch immer bei seiner Mama in der Zweizimmerwohnung wohnte, Mittagessen zu kochen.
»Der Junge braucht watt auffe Rippen«, entschuldigte sich die Krafczik regelmäßig. Der »Junge« war so dick wie das Michelin-Männchen und brauchte ein Mädel, auf den Rippen hatte er genug. Omma Änne war froh, dass ihre beiden Jungs längst eine eigene Familie hatten.

Nach einem kleinen Häppchen, meistens ein Strammer Max oder ein Pfannkuchen, legte sich Omma Änne auf die Couch und döste ein oder zwei Stündchen.
Jeden Mittwoch und Freitag um drei Uhr kam Egon Gurski mit einer Platte Kuchen vorbei. Egon war scharf auf Omma Änne, daran bestand kein Zweifel. Seitdem ihr Mann vor dreißig Jahren bei Krupp von einem Gabelstapler überfahren wurde und nicht mehr nach Hause kam, war Egon hinter ihr her. Seit Jahren wehrte Omma Änne die Avancen des Gurski charmant ab. Egon ließ sich davon aber nicht beirren, kam zwei Mal in der Woche zu ihr und machte ihr schöne Augen. Omma Änne ließ ihn gewähren, immerhin war Kuchen teuer geworden.
»Dem Gurski tut datt nicht weh«, pflegte Omma Änne zur Krafczik zu sagen, »der war früher Steiger aufm Pütt und hat ne dicke Rente.«

Omma Änne rutschte ungeduldig auf dem Sofa hin und her, während sie auf die alte Standuhr in der Ecke starrte. Es war schon Viertel nach drei und sie bekam so langsam Kaffeedurst. Egon hatte Prinzipien: Er trug immer Anzüge und er kam nie zu spät. Omma Änne begann, sich Sorgen zu machen!

Als das Telefon klingelte, wäre Omma Änne vor Schreck fast von der Couch gefallen. Sie nahm sich das schnurlose Telefon vom Beistelltisch und führte das Display ganz nah an ihre Augen. Dieses Ding, das ihr Sohn ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, war offensichtlich für Zwerge oder Frühgeburten entwickelt worden. Die Tasten waren so winzig, dass sie mit ihren verknöcherten Gichtfingern meisten zwei auf einmal traf. Sie sehnte sich nach ihrem alten Telefon mit Wählscheibe und Brokatüberzug. Da brauchte man einfach nur abnehmen, wenn jemand anrief.
Schließlich schaffte sie es doch, die richtige Taste zu treffen. Sie legte das Telefon ans linke Ohr, mit dem konnte sie am besten hören.
»Omma Änne!«
Am Ende ein Schniefen, dann das Geräusch von hochgezogenem Rotz. Keine Frage, Egon Gurski war am anderen Ende der Leitung.
»Ich bin’s! Watt ein Mist! Kann heute nich kommen!«
»Watt is denn los?«
»Mir sind se inne Wohnung eingebrochen. War nur kurz anne Bude und wollte noch ein paar Klümpchen holen, als ich wieder da war, stand die Tür auf und allet war durcheinander. Sieht aus wie bei de Hotten Totten.«
»Oh Gott, oh Gott«, sagte Omma Änne. »Und ham se watt geklaut?«
»Nich viel! Datt Geld hab ich doch allet bei der Sparkasse. Mein Fotoapparat und ne Kiste Stumpen ham se mitgehen lassen. Aber datt Chaos hier is datt Schlimmste. Jetzt is die Polente hier und guckt sich allet an. Ich komm dann Mittwoch wieda, Omma Änne.«
»Jau, bis Mittwoch und ruf deinen Jungen an, der kann dir beim Aufräumen helfen.«
»Mach ich, bis dann!«

Omma Änne legte das Telefon zurück auf den Beistelltisch. Enttäuscht schaute sie auf die beiden Gedecke auf ihrem Wohnzimmertisch. Heute blieben die Teller sauber, nur weil so ein Spinner bei einem fast neunzigjährigen Mann einbrechen musste.
»Watt will der eigentlich mit der ollen Kamera?«, murmelte sie vor sich hin und schüttete sich eine Tasse Kaffee ein. Der Kaffee dampfte, dabei war er so schwarz wie Steinkohle. So musste Kaffee sein und nicht wie die dünne Plörre, die ihre Schwiegertochter immer kochte. Lecker! Der Kaffee war lecker! Schade, dass es keinen Kuchen gab! Sie schlürfte einen Schluck, stellte die Tasse ab und lehnte sich seufzend zurück.

Omma Änne fühlte sich komisch. Ihre Augen waren bleischwer, mühsam öffnete sie sie. Es dauerte eine Weile, bis sich ihr Blick klärte. Dann erkannte sie ihre Kaffeetasse, die ordentlich auf dem Wohnzimmertisch stand. Omma Änne begriff, dass sie auf der Couch eingeschlafen war. Sie schaute zum Fenster. Draußen war es stockdunkel. Omma Änne richtete sich ächzend auf und knipste die Lampe auf dem Beistelltisch an. Kurz schloss sie ihre trüben Augen, öffnete sie dann langsam wieder, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Ihr erster Blick galt der Standuhr: Es war kurz nach acht, sie hatte fünf Stunden geschlafen.

Man sagt, dass im Alter der Appetit nachließe. Bei Omma Änne war das nicht der Fall, sie konnte noch immer wie ein Bergarbeiter essen. Deshalb wunderte sie sich auch nicht, dass ihr Magen wie die Töle von Frau Meier knurrte. Sie hatte noch frisches Kassler in der Brottrommel und Kalbsleberwurst im Kühlschrank, natürlich die im Golddarm von der Wursttheke bei Edeka. Ein leckeres Pfeffersäckchen lag auch noch in der Wurstdose. Omma Änne lief das Wasser im Mund zusammen.
Mühsam zog sie sich am Couchballen hoch, wackelte wie eine neugeborene Giraffe und stöhnte, als hätte sie ein Messer im Rücken stecken. Ihre alten Knochen waren störrisch; es dauerte eine ganze Weile, bis sie nicht mehr bockten und ihrem Willen gehorchten. Waren sie einmal so richtig in Fahrt, dann konnte Omma Änne problemlos durch die Stadt bummeln. Einmal die Kortumstraße runter bis zum Bratwursthäuschen. Eine leckere Dönninghaus-Wurst mit Senf, eine Waffel im Glashauscafé, dann war der Tag gerettet.
Omma Änne bewegte sich langsam in Richtung Küche. Aus dem Badezimmer schallte das Tropfen des undichten Wasserhahns. Auch wenn sie nicht mehr so gut hörte, das monotone Tröpfeln des Wasserhahns dröhnte in ihren Ohren wie eine Blaskapelle.
Morgen ruf ich beim Werk an, damit die einen Klempner vorbeischicken, dachte sie und überhörte dabei das Knacken aus der Küche. Omma Änne tappte durch die dunkle Diele, schob ihre Hand durch die halb geöffnete Küchentür und patschte auf den Lichtschalter.
Beschwingt pfiff sie die Melodie von »Eine Liebe ist wie ein neues Lebens«, holte die gute Butter, die Leberwurst und das Pfeffersäckchen aus dem Kühlschrank und stellte alles auf den kleinen Resopaltisch. Die Brottrommel stand in der schmalen Nische am Ende der Küchenzeile, die Micha vor ein paar Jahren mit Regalbrettern ausgestattet und mit einem Vorhang versehen hatte. Omma Änne machte einen Schritt auf die improvisierte Abstellkammer zu, doch als sie zufällig einen Blick auf den hellen Linoleumboden warf, blieb sie abrupt stehen. Verblüfft hörte sie auf zu pfeifen und musterte die Fußabdrücke auf dem Küchenboden. Zuerst dachte sie ärgerlich, dass ihre Schwiegertochter erst am Vortag den Boden geschrubbt hatte, dann hielt sie die Luft an und realisierte, dass die Spuren vorhin noch nicht da waren. Geistesgegenwärtig begann sie wieder zu pfeifen, denn sie war sich sicher, dass jemand in ihrer Wohnung war oder sich noch immer darin befand.
Datt ist der gleiche Kerl wie bei Egon. Watt will der in meiner Küche, datt teure Seifenpulver stibitzen?
Turnschuhe? Noch nie in ihrem Leben befanden sich ein paar weiße Turnschuhe in ihrem Besitz. Und nun lugten die Spitzen solcher Treter unter dem Vorhang der Abstellnische hervor. Der Einbrecher befand sich in ihrer Abstellkammer, drückte sein Hintern gegen ihre Brottrommel und pupste wohlmöglich ihre Kartoffeln voll.
Omma Änne wurde langsam wütend. Erst versaute ihr der Knallkopf den frisch gewienerten Boden, dann verkroch er sich feige zwischen ihren Vorräten.
Soooo nich!
Sie schaute nach links und entdeckte die gusseiserne Pfanne auf dem Herd. Omma Änne schnappte sich das Monstrum von einer Bratpfanne. Vorsichtig glitt sie aus ihren Pantoffeln und schlich die letzten Schritte Richtung Vorhang. Immer noch pfiff sie scheinbar beschwingt, mittlerweile allerdings »Deine Spuren im Sand« vom guten alten Howie. Langsam hob sie die Pfanne in die Höhe, gleichzeitig fixierte sie den Vorhang und schätzte, wo sich ungefähr der Kopf des Fieslings befinden könnte. Dann holte sie aus und drosch auf den Vorhang ein, als wollte sie einen Tennisball zurück ins Feld des Gegners schmettern.
Ein dumpfes PLONG gepaart mit einem tiefen Ächzen drang aus der Nische und signalisierte Omma Änne, dass ihr Hieb ein Volltreffer war. Langsam wölbte sich der Vorhang, die Umrisse eines Körpers füllten den Stoff aus, dann sackte der Kerl in der Nische samt Vorhang nach vorne und stürzte zu Boden.
Vor Schreck machte Omma Änne einen Schritt nach hinten. Die Pfanne rutschte ihr aus der Hand, tickte auf dem Boden auf, machte einen kleinen Satz und landete auf dem Hinterkopf des besinnungslosen Einbrechers. Wieder machte es PLONG, doch diesmal blieb das Stöhnen des Mannes aus.
Mit der Hand vor dem Mund starrte Omma Änne auf den bewegungslosen Körper. Eine Weile stand sie einfach so da, mit pochendem Herz und zitternden Händen. Der Mann lag auf dem Bauch, das Gesicht nach unten, eine Dose Erbsen und Möhren kullerte aus dem obersten Regalfach und knallte auf seinen Hintern.
»Sie da«, flüsterte Omma Änne vorsichtig. »Sagen Se doch watt.«
Es herrschte eine beängstigende Stille in Omma Ännes Wohnung, nur der Wasserhahn im Badezimmer tropfte unaufhörlich und immer im selben Rhythmus. Der Mann auf dem Boden gab keinen Ton von sich.
Omma Änne schluckte einen dicken Kloß durch ihren faltigen Hals.
»Der is tot!«, murmelte sie. »Ach, du meine Güte, ich hab den erschlagen.«
Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden. Mit ihren knöchrigen Fingern hielt sie sich an der Lehne eines Küchenstuhls fest. Ihr Magen knurrte fordernd, sie schaute auf die Leberwurst im Golddarm, ohrfeigte sich innerlich selbst, weil sie in so einer Situation ans Essen dachte. Sie brauchte jetzt keine Kniffte, sondern einen klaren Kopf. Omma Änne zog den Küchenstuhl vom Tisch weg und setzte sich hin.
Schweigend betrachtete sie den Mann, dem sie mit der teuren Fissler-Pfanne den Schädel eingeschlagen hatte. Was sollte sie jetzt tun? Rettungswagen und Polizei anrufen! Natürlich, was sonst! Omma Änne stand hektisch vom Stuhl auf; ihre lädierten Bandscheiben schickten einen schmerzhaften Gruß. Sie ignorierte den Schmerz und tippelte Richtung Küchentür. Auf der Schwelle blieb sie abrupt stehen und drehte sich langsam um. Nachdenklich warf sie einen Blick auf den Toten. Wenn er tot war, was machte es dann noch für einen Sinn, einen Rettungswagen zu rufen? Und die Polizei? Nee, die Schutzmänner würden nur Fragen stellen, sie mitnehmen, verhören und wegsperren. Sie würde in der Krümmede landen, dem Knast in der Nähe des Ruhrstadions - für sie hieß der Pott Ruhrstadion und nicht anders - direkt unter dem Turm von der Telekom. Immerhin hatte sie eben einen Menschen getötet! Einen wehrlosen Kerl, der sich zwischen Mehl, Zucker und Konservendosen vor ihr versteckt hatte. Verdammt, sie hatte getötet, sie war eine Mörderin!
Krankenwagen und Polizei standen nicht mehr zur Debatte. Aber irgendwas musste passieren, sie brauchte Hilfe: Egon!

Zehn Minuten nachdem sie Egon angerufen hatte, kam der rüstige, fast neunzigjährige Ex-Steiger durch die Tür. Er trug seinen sandfarbenen Anzug mit Weste, weißem Hemd und schwarzem Binder. Auf seinem grauen Haarkranz saß ein etwas zu kleiner Strohhut.
»Änne, wo isser?«
Omma Änne rümpfte die Nase, als ihr die Schnapsfahne ihres Freundes in die Nase stieg.
»Inne Küche!«
Egon drückte sich an ihr vorbei und betrat die Küche. Genau wie Omma Änne blieb er in Höhe des Tisches stehen, hielt sich an einer Stuhllehne fest und betrachtete die Szenerie.
»Watt für ein Malheur«, klagte er im Angesicht der Leiche. »Und? Isser tot?«
Sie nickte.
Egon presste die Lippen zusammen, dann, begleitet von einem fiesen Knacken, sank er auf die Knie und rutschte dicht an den leblosen Körper heran. Langsam streckte er seinen Arm aus, seine Hände waren so ruhig wie die eines Chirurgen, und legte seine Finger auf den Nacken des Einbrechers. Vorsichtig ließ er Zeige,- und Mittelfinger am Hals des Mannes herabrutschen, dann hielt er konzentriert inne. Omma Änne wagte kaum, zu atmen.
Es dauerte nur wenige Sekunden, dann zog er seine Hand zurück und drehte sich zu Omma Änne um.
»Der is mausetot!«
Omma Änne schnürte sich der Hals zu.
Egon Gurski wandte sich wieder dem Toten zu, packte ihn mit einer Hand am Kragen, mit der anderen am Hosenbund und drehte ihn mit einem Ruck auf den Rücken. Jetzt war das Gesicht des Einbrechers zu sehen, ein junger Mann, vielleicht Mitte zwanzig mit Dreitagebart, der nun keinen vierten erleben würde, und schulterlangem schwarzen Haar.
Omma Änne kam ein paar Schritte näher, legte ihre Hand auf Egons Schulter und krallte plötzlich ihre Finger in sein Fleisch.
»Den hab ich schon ma gesehen! Datt is doch einer vonne Blascheks. Nein, nein, nein, die Frau Blaschek sitzt bei EDEKA anne Kasse. Oh Gott, watt hab ich getan.«
»Jetzt bleib ma ruhig Änne! Panik ist jetzt datt Falsche!« Er begann den Mann zu durchsuchen, fand ein Handy, schließlich noch eine Brieftasche. In dem Portemonnaie fand Egon einen Personalausweis.
»Du hattest recht! Lukas Blaschek heißt, ähm, hieß der Kerl.«
Omma Änne nickte. Ihr Gesicht war so bleich wie die Butter auf dem Tisch. Ihr Blick war auf das Gesicht des toten Blaschek gerichtet. Die Blascheks, ging es ihr durch den Kopf. Die berüchtigte Großfamilie, die in der Amtsstraße wohnte. Schläger, Trinker und Kriminelle, alles zwielichtige Gestalten, zumindest munkelte man das in der Gegend. Nur die Mutter der Blascheks ging einer geregelten Arbeit nach. Was würden die mit ihr machen, wenn sie rauskriegten, dass sie einen aus ihrer Sippe umgebracht hatte?
»Wir können jetzt die Bullen rufen, aber die werden bestimmt einige unangenehme Fragen stellen. Immerhin ist der Kerl tot.«
»Aber datt war doch Notwehr.«
»Hab schon gehört, datt die Richter komisch bei sowatt sind.«
Omma Änne lief es kalt den Rücken runter. Entweder Knast oder die Rache der Blascheks.
»Aber da gibbet noch eine andere Möglichkeit.«
»Watt denn?«, fragte Omma Änne ängstlich.
»Wech mit dem hier!«
»Wie wech?«
»Irgendwo verstecken. Außer uns beiden weiß kein Mensch, datt der je in deiner Wohnung war«, flüsterte Egon.
Omma Änne starrte Egon an, als hätte er ihr gerade ein anzügliches Angebot gemacht. Ihr blasser Teint wechselte in Sekundenschnelle in ein tiefes Rot, eine Welle der Hitze schwappte durch ihren Körper, und sie war sich sicher, dass sie jeden Augenblick tot umfallen würde. Eine Minute herrschte knisternde Stille zwischen den beiden Alten, dann sagte Omma Änne etwas, das sie nie für möglich gehalten hätte.
»Wie und wo?«
Egon nickte ernst, dann stand er auf und nahm Omma Änne in den Arm. Sie ließ ihn gewähren, selbst als er zärtlich über ihre Haare und den dicken Dutt auf ihrem Hinterkopf streichelte.
»Ich hab ne Idee! Allet wird gut, Änne! Ich muss kurz wech, bin aber gleich wieder da.«

Zwanzig Minuten später schleppten Egon und Omma Änne den toten Blaschek durch den Hausflur in den Keller. Den Plan, den Egon ihr unterbreitet hatte, war von höchster krimineller Energie geprägt und so abenteuerlich, als wäre er Machern eines Fernsehkrimis entsprungen. In Egons uraltem rostbraunen Opel Ascona, den er auf dem Hinterhof geparkt hatte, wollten sie den Toten quer durch die Innenstadt kutschieren, um ihn dann auf einer Brachfläche, die sich ausgerechnet in unmittelbarer Nähe der Justizvollzugsanstalt befand, zu entsorgen. Egon benutzte tatsächlich den Ausdruck »entsorgen«, was Omma Änne eine Ganzkörpergänsehaut bescherte.

Die Leiche hatten sie in eine riesige Abdeckfolie gewickelt, die Egon von zu Hause mitgebracht hatte. Glücklicherweise war der Blaschek von schmächtiger Statur. Trotzdem war es eine Tortur, den Kerl in den Keller zu schleppen. Schließlich hatten sie es unbeobachtet geschafft. Die beiden Senioren waren nass geschwitzt und keuchten und prusteten schwer. Nach einer kurzen Verschnaufpause setzten sie die Leichenentsorgung fort. Durch den Hinterausgang schleppten sie die Leiche in den Hinterhof und verstauten ihn mühelos im Kofferraum des Opels.
»So!«, sagte Egon. »Den Rest erledige ich alleine! Du gehst nach oben und trinkst dir erst ma ein Schnäpsken.«
Omma Änne schüttelte vehement den Kopf.
»Nee, nee! Ich komm mit oder willse den allein inne Büsche schleppen?«
»Datt schaff ich schon.«
Für Omma Änne gab es in dem Punkt keine Diskussion. Es war ihre Pflicht, dabei zu sein, und Pflichten hatte Omma Änne zeit ihres Lebens sehr ernst genommen.

Bis zu der Brache waren es etwa zehn Minuten Autofahrt. Der schnellste Weg führte mitten durch die Bochumer Innenstadt, und das behagte Omma Änne überhaupt nicht.
Schweigend fuhren sie über die Dorstener Straße Richtung City. Es war mittlerweile halb zehn, es nieselte leicht und die Scheibenwischer des Asconas rubbelten geräuschvoll über die Windschutzscheibe. Wie immer war Egons Auto picobello sauber. Der zwanzig Jahre alte Wagen sah aus wie neu, Omma Änne fühlte sich dagegen, als wäre sie in den letzten Stunden um das Doppelte gealtert. Ihr ganzes Leben war sie gottesfürchtig und ehrlich gewesen, und jetzt hatte sie einen Menschen getötet. Sie war sich sicher, dass die Sache nicht gut ausgehen konnte.

»Scheiße!«, fluchte Egon plötzlich.
Omma Änne erwachte aus ihren Gedanken, starrte durch die Scheibe auf den glitzernden Asphalt und realisierte zunächst gar nicht, warum Egon ins Fluchen geriet. Sie hatten gerade die Kreuzung Herner Straße passiert, der Förderturm des Bergbaumuseums wachte strahlend über die Stadt. Doch es gab noch andere, die ihr Auge auf die Bochumer gerichtet hatten: Die Polizei!
Hinter der Kreuzung stand ein Polizist in seiner fluoreszierenden Jacke auf der Straße und winkte uns mit seiner blinkenden Kelle auf den Seitenstreifen. Dort lungerten drei seiner Kollegen um einen blau-weißen Polizeibulli herum.
Omma Änne hielt die Luft an, dann sog sie den Sauerstoff so keuchend ein, als hätte man ihre gerade die Kehle durchgeschnitten.
Leiche im Kofferraum! Egons Schnapsfahne! Diese beiden Tatsachen summierten sich zu einem unumgänglichen Ergebnis: Ab in den Knast!
»Watt nu, Egon!«
Egon nahm seine Hand vom Schaltknauf und legte sie auf die mit Altersflecken übersäte Hand von Omma Änne.
»Allet in Ordnung, meine Liebe«, sagte er beruhigend. »Ich mach datt schon!«
Omma Änne war sich da gar nicht so sicher. Als sie auf den Parkstreifen fuhren, musste sie sich zusammenkrampfen, um nicht in die Hose zu machen.

»Guten Abend, die Herrschaften! Allgemeine Verkehrskontrolle. Einmal bitte den Fahrzeugschein und Führerschein«, sagte der Polizist, nachdem Egon die Seitenscheibe heruntergekurbelt hatte.
»Schönen guten Abend Herr Wachtmeister«, erwiderte Egon, klappte die Sonnenblende herunter, zog die Papiere unter der Plastikschnalle hervor und reichte sie durch das Fenster.
»N’Abend!«, krächzte Omma Änne.
Der Polizist senkte den Kopf, lächelte Omma Änne an und tippte sich an den Schirm seiner Mütze. Dann begutachtete er Egons Papiere ein paar Sekunden und reichte sie ihm wieder in den Wagen.
»In Ordnung, Herr Gurski! Haben Sie alkoholische Getränke zu sich genommen?«
»Na klar, Herr Wachtmeister. Ich trinke jeden Tach ein Pinnchen Kurzen, direkt nach dem Mittachessen. Datt mach ich seit siebzich Jahren so und in zwei Monaten werde ich Neunzich!«
Ein Grinsen legte sich auf das Gesicht des Beamten. Egon lachte so breit, dass sich seine goldenen Eckzähne in den Brillengläsern des Polizisten spiegelten. Auch Omma Änne versuchte, amüsiert zu gucken, doch ihre Gesichtsmuskeln schienen gelähmt zu sein.
»Alles in Ordnung, junge Frau?«, fragte der Beamte, der sich wieder hinunter gebückt hatte und Omma Änne musterte.
»Wissen Se«, mischte sich Egon direkt ein, »wir sind aufm Weg zum Krankenhaus. Meiner Bekannten geht et nich so gut. Der Kreislauf, wissen Se.«
Sofort wurde der Polizist ernst. Besorgt fixierte er Omma Änne. Diese lächelte gequält und fächelte sich mit der Hand Luft zu.
»Mir isset so fürchterlich heiß«, musste sie nicht einmal lügen.
»Warum haben Sie denn nicht gleich was gesagt. Wo wollen Sie denn hin? Elisabeth?«
»Nee, ins Augusta«, antwortete Egon.
»Okay, dann passen Sie auf. Fahren Sie hinter unserem Wagen her, wir eskortieren Sie bis zum Krankenhaus. Sollte es, ähm«
»Omma Änne heißt se«
»Sollte es Omma Änne schlechter gehen, dann betätigen Sie die Lichthupe, dann rufen wir lieber einen Notarzt. Verstanden?«
»Ja, und vielen Dank, Herr Wachtmeister. «
»Auch von mir vielen, vielen Dank!«, bedankte sich Omma Änne.
»Kein Problem, immer im Dienste des Bürgers. Dafür sind wir da!«
Ach ja, dachte Omma Änne, um Leuten bei einer Leichenentsorgung zu helfen? Zum ersten Mal seit Stunden musste sie ein Lachen unterdrücken. So schnell wurde man zum abgebrühten Kriminellen, ging ihr durch den Kopf, und jegliches Amüsement erstarb so schnell wie eine Schabe unter einer Schuhsohle.

Der Polizeibulli fuhr vor ihnen, Egon blieb dicht dahinter.
»Hab doch gesacht, datt allet gutgeht.«
»Der da hinten iss tot«, sagte Omma Änne. »Watt soll der im Krankenhaus?«
Egon zog den Rotz in seiner rot geäderten Nase hoch und schob sich seinen Strohhut zurecht.
»Papperlapapp!«, erwiderte Egon grinsend. »Am Krankenhaus bedanken wir uns artig bei den Schutzmännern, dann spazieren wir zur Tarnung ein wenig durch datt Augusta und Ruck Zuck sind wa wieder inne Karre und entsorgen den Kerl endlich.«
»Sach nich dauernd entsorgen, Egon. Datt is n Mensch und kein Sperrmüll.«
»Is gut Änne, du has ja recht.«

Nachdem die Polizisten sie am Krankenhaus abgesetzt hatten, bedankte sich Egon überschwänglich und führte Omma Änne übertrieben langsam ins Foyer. Zum Schein erkundigten sich die beiden an der Rezeption nach dem Weg zur Ambulanz, dann verschwanden sie in einem der Krankenhauskorridore.
»Da vorn is ein Seitenausgang«, erklärte Ego. Er führte sie um eine Ecke, dann direkt auf eine Glastür zu.
Augenblicke später lugten sie vorsichtig durch die Scheibe des Seitenausgangs auf den Vorplatz des Krankenhauses. Noch immer stand der Bulli der Polizei vor dem Haupteingang, dahinter Egons Opel Ascona.
»Watt machen wa jetzt?«, wollte Omma Änne wissen.
»Warten! Die haun schon ab.«
»Ich weiß nich«, druckste Omma Änne. »Datt macht mich allet fertig. Vielleicht sollten wir den Schutzmännern einfach sagen, watt ich gemacht hab.«
Egon drehte sich um. Sein Hut saß schief auf dem Kopf, seine runzelige Stirn war voller Schweißtropfen und seine Wangen so hohl wie die eines Eichhörnchens im Frühjahr. Er sah schlecht aus; die Strapazen machten ihm zu schaffen, das war nicht zu übersehen. Trotzdem lachte er warm und strich Omma Änne eine Haarsträhne aus der Stirn.
»Datt geht jetzt nicht mehr. Watt willse denen denn erzählen? Datt mit der Notwehr glauben se vielleicht noch, aber wie willse erklären, datt wir den Kerl in den Kofferraum verfrachtet ham.«
Omma Änne zuckte mit den Achseln.
»Ich will dich nich verlieren, Änne, ich will mit dir Kuchen essen, von früher erzählen und mit dir über die ganzen Pasalacken in der Gegend lästern. Ich will mit dir anne Ruhr spazieren gehen, Eis schlecken und mich von dir ausschimpfen lassen, wenn ich nach Schnaps und Stumpen stinke. Aber wenn du willst, dann gehe ich jetzt da raus und sach den Polizisten, datt ich den Blaschek umgebracht hab.«
Es war schwer darauf etwas zu sagen. Omma Änne schluckte, kämpfte gegen die Tränen an und verlor. Sie weinte zum ersten Mal, seitdem die Leute vom Werk ihr den Tod ihres Mannes mitgeteilt hatten. Dass der alte Mann mit dem Strohhut, der immer wie aus dem Ei gepellt aussah, für sie ins Gefängnis gehen würde, darauf wäre sie nicht einmal im Traum gekommen. Unvermittelt bewegte Omma Änne ihren Kopf nach vorne und küsste Egon auf die Wange. Seine Haut war trocken und rau von den Bartstoppeln. Trotzdem fühlte sich der Kuss so weich an, dass ihre Knie zu zittern begannen. Sie ertappte sich dabei, dass sie ihre Augen geschlossen hatte, jetzt, wo sie sie öffnete, bemerkte sie den blauen Schimmer, der in Egons Schweißperlen reflektierte. Sie löste ihre Lippen von Egons Gesicht, schaute an seinen Kopf vorbei nach draußen und bemerkte den Polizeiwagen, der mit Blaulicht den Krankenhausvorplatz verließ.
»Sie sind wech«, sagte Omma Änne.
Egon Gurski stand wie eine Statue mit dem Rücken zur Tür. Sein Gesichtsausdruck war entrückt. Es schien, als würde er durch die Krankenhausdecke in den Himmel blicken.
»Hallo! Egon? Die Polizei is wech!«
Omma Änne zwickte ihren Freund ganz leicht in den Oberschenkel, doch dieser reagierte nicht. Beim zweiten Mal zwickte sie stärker. Egon zuckte zusammen und starrte sie völlig entrückt an.
»Watt is denn los?«
»Die Polizei is wech.«
»Ährlich? Hab ich gar nich mitbekommen.«
Omma Änne grinste neckisch.

Ein paar Minuten später war der magische Moment zwischen den beiden Senioren so weit weg wie der Mars. Sie saßen wieder im Ascona und der Gedanke an den Toten im Kofferraum war wieder allgegenwärtig. Egon steuerte den Wagen vom Krankenhausgelände, bog rechts ab und wählte den Weg am Stadtpark vorbei. Omma Änne starrte gebannt aus der Seitenscheibe in die Dunkelheit. Sie hatte Angst, in ihrem Magen rumorte es vor Aufregung und ihre Gefühle fuhren Achterbahn. Der tote Lukas Blaschek, Egons rührende Offenbarung, die beiden krassen Gegensätze waren zu viel für ihre alte Seele.
Auf Höhe des Planetariums bogen sie links auf die Castroper Straße ab. Egon fuhr schweigend am Kirmesplatz vorbei. Immer wieder wischte er sich mit seinem schmuddeligen Leinentaschentuch den Schweiß von der Stirn. Je näher sie ihrem Ziel kamen, um so schneller verlor er seine Selbstsicherheit. Es schien, als würde er langsam in den Fußraum seines Wagens schrumpfen. Als sie an einer roten Ampel standen, links von ihnen das Ruhrstadion, drehten die beiden Senioren nahezu synchron ihre Köpfe nach rechts und starrten schluckend auf das hell erleuchtete Gebäude. Die JVA Bochum, Krümmede genannt, war ein alter Ziegelsteinbau, der eher an eine Mietskaserne als an ein Gefängnis erinnerte. Die vergitterten Fenster, die graue Betonmauer mit der Stacheldrahtkrone und den diamantförmigen Wachstationen auf jeder Ecke verscheuchten diesen Eindruck allerdings schlagartig. Als Omma Änne den tristen Bau sah und an die Leiche im Kofferraum dachte, da wusste sie genau, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor. Sie war eine Mörderin, ein Fall für den Leibhaftigen!

»Hier war früher ein Reitverein«, sagte Egon, deutet auf das zugewachsene Gelände und steuerte den Wagen auf eine Art Lichtung, auf der sich mehrere Bauwagen und eine Batterie Dixieklos befanden.
»Ich weiß, Micha hat hier reiten gelernt.«
Der Motor des Wagens erstarb, eine unheimliche Stille erfüllte den Fond. Egon zog den Zündschlüssel ab, sein Atem rasselte, er wischte sich mit dem Taschentuch über das Gesicht, dann hustete er röchelnd in den Stoff.
»Auf geht’s«, sagte er schließlich, schnallte sich ab und öffnete die Fahrertür. Er hievte ein Bein aus dem Wagen, dann hielt er inne und bedachte Omma Änne mit einem liebenswerten Blick.
»Bleib im Auto, ich mach datt schon.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nee, ich lass dich nich allein.«

Es regnete in Strömen, als sie den Kofferraum öffneten. Ein Arm des Toten war unter der Plastikfolie herausgerutscht, ein silberner Ring steckte am Daumen und am Handgelenk war eine moderne Armbanduhr mit königsblauem Kunststoffarmband zu sehen. Durch die transparente Plane schimmerte das bleiche Gesicht von Lukas Blaschek. Omma Änne war kurz davor loszuheulen, doch sie beherrschte sich und fixierte den Verbandskasten im Kofferraum. Egon zählt bis drei, dann hievten sie die Leiche heraus und legten sie auf dem schlammigen Boden der Brache. Nachdem Egon den Kofferraumdeckel zugeklappt hatte, fragte er, ob Omma Änne die Füße oder die Arme packen wolle. Was für eine Frage? Woher sollte sie das wissen, es war das erste Mal, dass sie eine Leiche verstecken musste. Schließlich entschied sie sich für die Füße. Eine schlechte Wahl, wie sich schnell herausstellte, denn so musste sie die ganze Zeit auf das vom Plastik verzerrte Gesicht des Toten starren.
Die Brache auf dem Gelände des ehemaligen Reitvereins glich einem Dschungel. Büsche, Sträucher und Bäume waren so wild gewachsen, dass Egon ein ums andere Mal aufstöhnte, weil ihn ein Zweig ins Gesicht peitschte oder Dornen in die Hände stachen. Das grüne Kleid, das Omma Änne trug, war nicht geeignet für einen Marsch durch die Wildnis. Der stärker werdende Regen durchnässte sie bis auf die Haut, sie bibberte vor Kälte und sie merkte, dass ihre Nylonstützstrumpfhose von den Ästen und Zweigen zerfetzt wurde.
Drei oder vier Minuten stapften beide durch das Dickicht, dann stoppte Egon.
»Das reicht«, stammelte er keuchend. »Du kannst ihn loslassen.«
Vorsichtig ließ Omma Änne die Beine des Toten auf den Boden sinken. Egon war nicht so zimperlich mit seiner Seite der Leiche.
Dann passierte etwas Seltsames. Egon Gurski nahm seinen Hut ab, hielt ihn mit Daumen und Zeigefinger, die restlichen Finger faltete er und bedeutete Omma Änne mit einem Blick, es ihm gleich zu tun. Sie ließ sich nicht lange bitten, legte ihre Hände ineinander und senkte ihr Kinn auf die Brust.
Eine paar Minuten standen sie so da, den Blick auf den toten Lukas Blaschek gerichtet, der seine letzte Ruhe, eingewickelt in billige Abdeckfolie, auf einer verwahrlosten Brache finden sollte. Omma Änne hätte heulen können, angesichts der Tragödie, die sie zu verantworten hatte. Am liebsten hätte sie sich gleich neben den Toten gelegt. Welches Recht hatte sie zu leben, während der junge Kerl da unten durch ihre Hand gestorben war? Schließlich beendete Egon ihre stille Andacht mit einem leisen »Amen«.

Die nächsten Tage waren die Hölle für Omma Änne. Jede Minute schwebte ihr das Bild des toten Blaschek vor den Augen. Sie konnte nicht schlafen, lag stundenlang wach in ihrem Bett und weinte bis zum Morgengrauen. Der Krafczik hatte sie auf bis auf Weiteres abgesagt, Omma Änne hatte sowieso keinen Hunger und wollte lieber allein sein. Nur Egon ließ sie in die Wohnung. Er brachte ihr Kuchen, den sie nicht aß, weil sie ständig das Gefühl hatte, dass sie ihre Eingeweide ausspeien müsste. Immer wieder beteuerte Egon Gurski, dass sie in Notwehr gehandelt habe, und dass alles wieder gut würde. Nichts würde gut werden! Omma Änne bekam Fieber, hustete den ganzen Tag und wurde immer schwächer. Sie lag den ganzen Tag auf der Couch und wünschte sich zu sterben, dazu kam die ständige Angst, dass es klingelte und die Polizei sie für immer wegsperren würde.
Drei Tage nachdem sie Lukas Blaschek erschlagen und zusammen mit Egon Gurski auf dem Gelände des ehemaligen Reitvereins abgelegt hatte, stand sie ausgezehrt in ihrem Badezimmer und wusch sich das Gesicht. Bald würde sie sterben und für ihre Sünden zur Rechenschaft gezogen werden, davon war sie überzeugt, als sie ihr schneeweißes, eingefallenes Gesicht im Spiegel des Allibert betrachtete. Sie würde in der Hölle schmoren und bis in alle Ewigkeit für ihre Tat büßen.
Wankend, mit einer Hand immer an die Wand gestützt, torkelte sie durch den Korridor. Die Küchentür war verrammelt, seitdem verhängnisvollen Freitag hatte sie keinen Fuß mehr in die Küche gesetzt. Mit letzter Kraft rettete sie sich in ihr Wohnzimmer. Niedergeschlagen ließ sie sich in das Polster der Couch sinken. Sie schloss die Augen, solange bis der Schwindel erträglich war und die Übelkeit nachließ. Seufzend schaute sie sich danach ziellos im Raum um. Auf dem kleinen Beistelltisch fiel ihr die Brieftasche ins Auge, welche Egon in Lukas Blascheks Jackentasche gefunden hatte. Darunter lag die gestrige Ausgabe der WAZ, die Egon ihr mitgebracht hatte. Omma Änne wollte gerade vor Verzweiflung die Hände vor das Gesicht schlagen, als ihr genau zwischen Blascheks Portemonnaie und seinem Handy ein Bild auf der Titelseite der Tageszeitung ins Auge sprang. Sie hielt kurz inne, beäugte das Foto, dann sackte ihr Herz soweit in ihren Körper hinab, dass sie es hinter ihrem Bauchnabel wild schlagen hörte.
Jetzt hatten sie ihn also gefunden!
Mit offenem Mund kramte sie die Zeitung unter Blascheks Habseligkeiten hervor. Sie las den Artikel, verstand ihn nicht, schaute sich das Bild an und erkannte den Mann, der in ihrer Küche gestorben war. Erneut las sie den Artikel, schüttelte den Kopf, spürte, wie das Blut in ihren Adern zu kochen begann. Dann kniff sie sich in die Brust, studierte zum dritten Mal den Artikel, und erst dann begann sie, zu begreifen.

Eine halbe Stunde später saß Egon Gurski neben ihr auf der Couch. Er sah mitgenommen aus. Seine Augen waren gerötet und sein aschfahles Gesicht zeugte von zu wenig Schlaf. Er stank nach Schnaps, sein tägliches Pinnchen hatte in den letzten Tagen Zuwachs bekommen und von seinem sonst so gepflegten Äußeren war nicht viel übrig geblieben.
»Mein lieber Herr Gesangsverein«, entfuhr es ihm. »Datt kann doch wohl nicht wahr sein!«
»Doch Egon, hier steht et, Schwatz auf Weiß!«
Egon rieb sich seine Augen, dann starrte er wieder auf den Zeitungsartikel.

Die Polizei bittet um Ihre Mithilfe. In der Nacht von 2. auf den 3. Oktober wurde der abgebildete Mann auf der Castroper Straße in Höhe des Rewirpower Stadions aufgegriffen. Der Mann war am Kopf verletzt und sichtlich verwirrt. Er wurde in die Augusta Krankenanstalten eingeliefert, wo seine Verletzung behandelt wurde. Die Ärzte stellten außerdem fest, dass der etwa 20 Jahre alte Mann an einer Amnesie leidet. Er kann sich weder an die Geschehnisse, die zu seinen Verletzungen führten, noch an seine eigene Identität erinnern. Wenn Sie den Mann auf dem Foto kennen, dann melden Sie sich bitte bei der nächstgelegen Polizeidienststelle oder unter der angegebenen Rufnummer 0234 9090.

»Der Junge lebt!«, sagte Omma Änne mit leuchtenden Augen. »Ich habe ihn nicht umgebracht!«
»Komisch, hab kein Puls bei dem gefühlt.«
»Bist ja auch kein Arzt. Hauptsache er lebt!«
»Und datt Beste, der kann sich an nix erinnern!«
»Watt is, wenn sein Gedächtnis zurückkommt?«
Egon lachte selbstsicher, nahm die Brieftasche vom Beistelltisch und reckte sie triumphierend in die Höhe.
»Dann wird der garantiert datt Maul halten oder wir erzählen der Polente mal, watt der Kerl so in fremden Wohnungen treibt.«
Omma Änne spürte, wie neue Energie ihren Körper flutete. Von einer Sekunde auf die andere strömte wieder frische Luft in ihre Lungen und vertrieb den muffigen Geruch von Angst und Tod. Der Sensenmann würde noch ein bisschen auf sie warten müssen, schließlich hatte sie noch einiges vor mit ihrem Egon!
»Egon«, sagte sie neckisch und stieß ihrem Freund mit dem Ellbogen in die Seite.
»Watt is Änne?«
»Haste vielleicht Lust, rüber zum Bäcker zu gehen und uns was zum Schnuckern zu holen?«
»Buttercremetorte?«
»Und vielleicht ein Streifen Bienenstich? Ich koch auch Kaffee.«
Egon stand von der Couch auf, auf halber Höhe sackte er wieder nach hinten und plumpste zurück in die Polster. Beide fingen an zu kichern, fielen sich in die Arme und küssten sich wie zwei Teenager.

 

Hallo Fosca!
Trotz ihrer Länge hab ich die Geschichte gerne gelesen. Sie ist erstaunlich professionell und flüssig geschrieben und von einem Humor geprägt, der einen fast die ganze Zeit schmunzeln lässt. Vielleicht ein bisschen betulich, aber durchaus passend, wenn man das Alter der beiden Protagonisten bedenkt. Den Slang mag ich sehr, und dazu kommen Einzelheiten wie der Brokatüberzug des alten Telefons, Kalbsleberwurst im Golddarm oder Ausdrücke wie 'Mein lieber Herr Gesangsverein', die mir als Sauerländer natürlich mehr als vertraut sind.
Ich persönlich habe nichts gegen so ein Happy-End, könnte mir aber vorstellen, das einige Leser sich dran stoßen werden, dass sich zum Schluß alles in Wohlgefallen auflöst. Aber die Geschichte steht schließlich in Humor, wo sie auch hingehört, und deswegen geht das in Ordnung.
Manches kommt einem bekannt vor, aber in dieser Konstellation, mit zwei Hauptdarstellern in fast biblischem Alter, ist es eine vergnügliche Angelegenheit. Vielleicht eine Drehbuchvorlage fürs ZDF...
Hat Spaß gemacht.
Schöne Grüße
Harry

 

Hallo Harry!
Vielen Dank für deine Beurteilung meiner Geschichte. Mich freut es sehr, dass sie dir gefallen hat.
LG
Fosca

 

Hallo Carduela!

Vielen Dank für deinen Kommentar. Also meiner Mutter, 80, und ihrem Lebensgefährten, 87, traue ich das duchaus zu.
:-)
Schönes Wochenende
Dirk

 

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