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Omega
Es ist nicht kalt, nicht einmal kühl, aber durch die grau-violetten Wolken am Himmel dringen nur wenige Sonnenstrahlen. Bilderbuchwolken, als hätte Gott persönlich sie mit Aquarellfarben gemalt.
Gute Arbeit.
Ich stehe auf einem kleinen, grasbewachsenen Hügel, umgeben von nicht viel mehr als weiteren Hügeln, Feldern, vereinzelten Baumgruppen und einigen Feldwegen. Ich rieche die Natur um mich herum, ein Geruch, der für einen Menschen, der auf dem Lande geboren ist, den Großteil seines Lebens aber in der Stadt verbracht hat, ein angenehmer Geruch. Da ich regungslos dort stehe, ist das einzige Geräusch, das an meine Ohren dringt, der sanfte Wind, der duch die wenigen Bäume streicht. Eine leise Musik der Ruhe.
»Wo bin ich?«, sage ich, statt es zu denken, um die Angst der Einsamkeit zu durchbrechen. Es nutzt nichts. Nachdem der Satz ausgesprochen ist, kehrt die Stille des Windes wieder zurück. Jetzt fühle ich mich noch unbehaglicher.
Wo bin ich? Wann bin ich? Warum stehe ich hier? Wie kam ich hierhin? Die Fragen wandern durch meinen Kopf, dann drehen sie sich immer schneller wie ein Taifun, bis sie zu schnell sind, um sie noch greifen oder begreifen zu können. Es ist sinnlos.
Statt dessen könnte ich mich einfach in eine Richtung bewegen, vorzugsweise einem der Feldwege folgen, der mich hoffentlich dorthin bringt, wo ich Antworten bekomme. Wenigstens eine, das würde mir schon reichen. Aber durch die - ausgelöst von den mitlerweile rasenden Gedanken - herankriechende Panik, schleichend, gierig und kompromisslos, stehe ich einfach nur da.
Tief durchatmen. Das hilft gegen Panik, soviel weiß ich. Ich versuche, meinen Kopf zu leeren - tief durchatmen - den Studel zu stoppen - tief durchatmen - ruhiger zu werden - tief durchatmen. Noch bevor sich ein Erfolg einstellt, ändert sich meine Situation so grundlegend, dass ich abrupt meine Atemübungen, die ich weit, weit in der Vergangenheit von einem befreundeten Naturheilpraktiker gelernt habe, abbreche. Ich sehe in der Ferne eine Gruppe von Menschen.
Sie bewegen sich langsam, aber sie gehen offensichtlich auf einem der Feldwege in Richtung meines Grashügels. Der Gedankentaifun ist verschwunden, abgelöst von der Konzentration auf diese Kolonne. »Sie sind alle gleich gekleidet«, sage ich, ohne es selber wirklich zu bemerken. Aber das ist nicht das einzige, was mir an diesen acht bis zehn Menschen auffällt, während sie sich mir stetig nähern. Vielmehr ist es die Tatsache, dass es keine Menschen sind.
Ihre Haut ist fliederfarben und ihre Köpfe sind kahlgeschoren. Vielleicht haben sie generell keine Haare, schießt es mir wie selbstverständlich durch den Kopf. Beim weiteren Näherkommen sehe ich, dass ihre Gesichter unnatürlich lang sind, dass ihre Nasen ebenso fehlen wie die Haare, und dass ihre Münder nichts weiter sind, als dünne, lippenlose Linien in ihren hellen Gesichtern. Die identischen Kleider, die sie tragen, sehen aus wie Mönchskutten, weiß und fliederfarben, wie ihre Haut.
Menschen fürchten sich vor allem, was fremdartig ist und ich bilde da keine Ausnahme. Dennoch bleibe ich wie angewurzelt stehen, als ob mein Unterbewußtsein ganz genau wüsste, dass keine Gefahr von diesen Wesen ausgeht. Und ich behalte Recht. Sie passieren mich, ohne mich wahr zu nehmen, schreiten fast ehrerbietend an mir vorbei, während sie unablässig Worte murmeln, die ich nicht verstehe. Eine Stimme in meinem Kopf, meine eigene, fordert mich auf, jetzt doch endlich zum Feldweg runterzulaufen, die Gruppe anzusprechen, vielleicht einen von ihnen zu packen und zu schütteln, um ihn aus seinem letharischen Murmeln und Trancezustand herauszuholen und Antworten zu bekommen, aber bevor ich mich überhaupt rege, entdecken meine Augen eine weitere Schar auf einem anderen Feldweg. Auch sie bewegen sich in meine Richtung.
Sie sehen ebenfalls fast identisch aus, nur dass sie im Gegensatz zur ersten Gruppe gedrungen wirken. Sie sind eher grauhäutig, haben breite Gesichter und das Gehen scheint ihnen mehr Mühe zu bereiten, als den Mitgliedern der Fliederhäutigen. Es sieht fast so aus, als würden sie humpeln. Der Beschluss, mir durch die mögliche Aussage von einem der Wanderer Klarheit zu verschaffen, den meine unterbewusste Stimme noch vor wenigen Sekunden gefasst hat, ist damit zunichte gemacht. Die Frage nach dem Was geht hier vor? lähmt mich erneut.
Noch bevor ich die unangenehme Starre abschütteln kann, erblicke ich zwei weitere Kolonnen, dann drei. In den Grenzen dieser Ruhezone scheinen sich die Ereignisse zu überschlagen Langsam, aber stetig wachsend. Zumindest eine der Gruppen sieht aus, als würde sie aus Menschen bestehen. Verblüfft stehe ich nach wie vor regungslos auf meinem Hügel.
Dir wird langsam klar, was du hier siehst.
Das ist nicht die Stimme, die ich eben schon einmal in meinem Kopf gehört habe. Diese hier scheint älter zu sein, aber sie hat einen freundlichen und vor allem beruhigenden Ton an sich. Aber verstehe ich wirklich, was hier geschieht? Alles, was ich weiß, ist, dass ich viele Scharen von Wesen - mittlerweile ist die Anzahl auf vielleicht ein Dutzend gewachsen - sehe, die sich mehr oder minder schnell auf einen Punkt in meiner Nähe zubewegen. Nein, nicht Wesen, sondern Außerirdische, schießt es mir durch den Kopf. Und dieses mal bin ich mir sicher, dass es meine Stimme ist. Ein Treffen von Außerirdischen hier vor meinen Augen. Was es nicht alles gibt?
Die Panik (die tatsächlich nie eine reelle Chance gehabt hatte, mich zu vergewaltigen) weicht nun gänzlich der Neugierde. Ich gehe langsam den Hügel herab und schließe mich einer weiteren Gruppe an, die den fliederhäutigen in einigem Abstand folgt. Ich hätte mich gerne in die Kolonne der Menschen eingereiht, aber sie kommen aus einer anderen Richtung. Also wandere ich hinter der Ansammlung von orangefarbenen Gaswolken her, die sich in ähnlich langsamer Weise (mittlerweile kommt es mir sogar nicht mehr langsam, sondern eher bedächtig vor) auf den Treffpunkt zubewegt.
Treffpunkt. Das ist das richtige Wort. Habe ich das gedacht, oder war es die Stimme des freundlichen, alten Mannes? Ich kann es nicht sagen, aber es macht Sinn.
Alle Völker des Universums versammeln sich jetzt, da der Zeitpunkt gekommen ist.
Das war eindeutig der alte Mann. Nachdem ich von meinem kleinen Hügel auf den Feldweg gewechselt bin, habe ich nicht mehr den Überblick über die Landschaft, trotzdem sehe ich von hier unten, dass sich die Truppen von Völkern mindestens verdreifacht haben. Die ehemals leere Umgebung füllt sich zusehens, wie eine Bahnhofshalle am frühen Morgen, wenn der Berufsverkehr losgeht.
Auch wenn der alte Mann es gesagt hat, ich weiß noch immer nicht mehr, denke ich.
Wir erreichen das Ende.
Das Ende von was? Ich glaube, das Zusammentreffen der Gruppen wird es schon zeigen und obwohl ich neugierig bin, versuche ich nicht, die orangefarbenen Wolken zu überholen, aus Angst, die Berührung mit ihnen könnte unangenehm werden.
Du solltest es wissen. Es ist die große Vereinigung. Das Ende und der Anfang von allem.
In diesem Moment wird mir alles klar. Wie die Lösung eines Problems, hinter der man Tage, vielleicht Wochen besessen hinterhergejagt hat, wie Kapitän Ahab hinter dem großen, weißen Wal. Ich kann nicht einmal sagen, ob es meine eigene innere Stimme ist, oder die des alten Mannes, die die Erklärung liefert.
Das Ende. Alle Völker des Universums treffen einander. Jedes Volk hat sein Maximum der Evolution erreicht. Es ist nun an der Zeit sich zusammen zu finden und zu vereinigen, SO DASS DIE HÖCHSTE STUFE DER ENTWICKLUNG ENTSTEHEN KANN.
Die höchste Stufe der Entwicklung! Meine Gedanken rasen wieder, aber diesesmal nicht im Kreis, sondern zielstrebig in eine Richtung. Die höchste Stufe der Entwicklung. Alles Leben im Univerum, welche Form auch immer, wird eins. Wird... Gott. Gott ist kein Überwesen, Gott ist die Summe allen Lebens im Universum. Am Anfang spaltet sich Gott auf, zerplatzt, wie in einem Urknall, und verteilt sich auf jede Lebensform, die zu existieren beginnt. Und wächst. Die sich über Generationen und Äonen entwickelt, neue Kraft schöpft um schließlich wieder eins zu werden. Dreifaltigkeit? Ha! Manigfaltigkeit ist das richtige Wort. Und nun, nach Millionen von Jahren unserer Evolution und nach was-weiß-ich von Zeiteinheiten anderer Lebewesen im Universum, ist die Kette von Ereignissen am Ende angelangt. Und an einem neuen Anfang. Wir alle vereinigen uns wieder zu dem einen Wesen, aus dem wir entstanden sind - zu Gott. Dann beginnt der ewige Kreislauf wieder von vorn. Kein Paradies, kein Fegefeuer, keine Hölle. Nur ein großer Baukasten mit vielen, vielen Teilen.
Die Unwissenheit und die Angst sind verschwunden. Ich kenne jetzt meinen Weg. Aber eines interessiert mich trotzdem. Welche besondere Stufe der Evolution hat ausgerechnet meine Generation der Menschheit erreicht, dass es für die Zusammenkunft genügt? Welche besondere Fähigkeit haben wir erlangt? Was unterscheidet uns von unseren Eltern und deren Vorfahren?
So sehr ich auch suche, hoffe, die Stimme des alten Mannes in meinem Kopf zu hören, es bleibt still.
Gedankenverloren sehe ich eine junge Frau mit einem kleinen Mädchen, offensichtlich ihre Tochter, am Rand des Pfades auf einem Stein sitzen. Sie drückt ihr Kind, das auf ihrem Schoß sitzt, liebevoll an sich.
Meine Aufmerksamkeit spaltet sich. Ein Teil ist mit der quälenden Frage beschäftigt, der andere Teil widmet sich den beiden. Das Mädchen nimmt den Kopf von der Schulter ihrer Mutter und blickt sie an. Die Augen des Kindes sind groß und leuchtend, ihren Mund umspielt ein erregtes Lächeln. Sie strahlt.
»Ich muss dir etwas ganz tolles erzählen«, sagt sie.
Die Mutter sieht zu ihrer Tochter hinunter, gütig, wie es nur Mütter können.
»Ich weiß«, sagt sie. »Ich weiß es.«
Telepathie.
ENDE