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Oma und ich
Ich bin Omas Liebling. Zumindest komme ich auf ihrer persönlichen Rangliste gleich nach meinem Onkel. Wenn auch mit einigem Abstand, denn er ist unerreichbar. Er spielt in einer anderen Liga, als ich und der Rest meiner Familie. Trotzdem bin ich ihr Liebling und rangiere weit vor meiner Schwester, die immer zu vorlaut ist, zu kompliziert, zu eigen. Viel weiter vorne natürlich auch, als mein Vater, der gar nicht zählt. Und auch meine Mutter, die immer alles für meine Oma getan hat, war ihr nie so lieb wie ich. Zumindest dachte ich das, bis Mama gestorben ist.
Das hat meine Oma tief getroffen und verunsichert.
Vielleicht habt ihr eine Oma ohne Rangliste. Eine Oma, die alles für euch tut. Die euch Kuchen backt und Socken strickt und Schokolade schenkt. Meine Oma ist anders. Meine Oma malt wundervolle Bilder. Frauen mit exzentrischen Hüten. Bauern mit schiefen Nasen. Menschen, vor allem Gesichter. Zusammengesetzt aus einzelnen Farbflächen. Wunderbar bunt, wie die Glasfenster einer alten Kirche. Meine Oma ist eine Königin. Eine Herrscherin, die alle regiert von ihrem Rollstuhl aus.
Als wir klein waren, haben wir mit meiner Oma Karten gespielt, gesungen und natürlich gemalt. Verrückte Bilder mit Figuren, für die wir uns dann zusammen Namen ausgedacht haben. „Fräulein Mizi mit ihrem Pudel“. Während Mama einkaufen war oder geputzt hat, hat sich Oma mit uns Geschichten ausgedacht. Der Teppich vor ihrem Bett wurde ein Floß, auf dem meine Schwester und ich einen reißenden Fluss herunter gefahren sind; voller Gefahren und Abenteuer.
Doch meine Oma ist nicht nur eine Künstlerin. Sie ist auch krank. Ihre Gelenke schmerzen so sehr, dass sie nicht mehr laufen kann und ihre Finger ganz krumm werden. Aber sie beißt die Zähne zusammen und malt weiter. Und es ist nicht nur das Rheuma, das sie quält, sondern auch andere Dinge. Ängste, die verhindern, dass sie unter Menschen geht, Ängste, die sie nachts nicht schlafen lassen. Ängste, die sie aus dem Krieg mitgebracht hat.
Ich verstehe nicht alles und ich frage auch nicht. Die Erwachsenen haben immer nur darüber geredet, wenn sie dachten, dass wir Kinder nicht zuhören. Und was ändert es? Oma verlässt ihre Wohnung nicht! Wenn sie einmal etwas Neues essen will, schreibt sie auf ihren Einkaufszettel Dinge, die sie in der Werbung gesehen hat. Manchmal bittet sie auch den Zivi, der einmal in der Woche kommt, ihr aus dem Supermarkt einfach das mitzubringen, was er am liebsten mag. Meine Oma ist pfiffig.
Dass Oma krank ist, hat mich früher nicht belastet und ich habe nicht verstanden, dass Mama immer alles zu viel wurde. Ich habe nicht hinterfragt, warum wir fast jeden Urlaub abbrechen mussten. Ich bin gerne zu meiner Oma gegangen, um sie für das Bett fertig zu machen und ein bisschen mit ihr zu plaudern. Meine Oma kann fließend Französisch und Russisch.
Erst seit Mama nicht mehr da ist, gibt es Tage, an denen ich ungeduldig werde. An denen ich Oma lieber nicht erzähle, dass ich danach noch weg gehen will, weil sie dann Angstattacken bekommt und ich nicht fort komme. Manchmal ruft sie nachts an und ich gehe hinauf in ihre kleine Wohnung. Helfe ihr wieder ins Bett, wenn sie gefallen ist. Halte ihre Hand, wenn sie Angst hat, und warte auf den Morgen. Die alte Standuhr schlägt jede Viertelstunde. Die Zeit tröpfelt dahin, bis es soweit ist, dass ich die Pflegerin oder den Arzt anrufen kann, um zur Schule zu gehen.
heute anvertrau ich dir,
dass ich und mein Enkelkind
immer gute Freunde sind.
Diesen Spruch hat Oma für mein Poesiealbum gedichtet. Nicht etwa „In allen vier Ecken soll Liebe drin stecken.“ Nein. Ein Spruch nur für mich. Ganz allein. Ob wir wohl immer noch gute Freunde sein werden, wenn ich weggehe?
Die Zusage für meinen Studienplatz liegt in der Schublade meines Schreibtisches. Ich habe sie noch niemandem gezeigt. Wenn ich weggehe, muss Oma ins Heim. Meine Schwester und mein Vater schaffen das nicht alleine mit Oma. Es würde auch nicht gutgehen. Sie passen einfach nicht zusammen. Und mein Onkel? Er hat mir einen Ausbildungsplatz in seiner Firma angeboten, damit ich hier bleiben kann. So regelt er immer alles: er macht Geschenke und Komplimente, bezahlt und findet Lösungen, die ihm seine Unabhängigkeit sichern.
Wenn ich sein Angebot annehme, wäre alles so einfach: ich könnte weiter hier wohnen, Oma müsste nicht weg und ich würde Blutproben untersuchen. Als Kind wurde mir immer schlecht, wenn ich Blut gesehen habe, aber inzwischen kann ich so Vieles, was ich früher nicht konnte: Spritzen geben, mit Banken telefonieren, Essen kochen. Meine Oma sagt nichts zu der Sache.
Meine Oma in einem Zweierzimmer? Würde sie dort weiter malen können? Singen? Lesen? Russisch üben? Wer würde kommen und an ihrem Bett sitzen, wenn sie Angst hat? Sie müsste mit dem Rollstuhl in den Gemeinschaftsaal fahren und zusammen mit vielen fremden Menschen essen. Sicher gibt es auch andere Frauen im Rollstuhl, in so einem Heim. Aber das ist egal, denn meine Oma ist eine stolze Frau.
Werde ich ihr verzeihen können, wenn ich hier bleibe? Wenn ich nicht in die Großstadt gehe, nicht studiere? Wenn aus Liebe vielleicht nur noch Pflicht wird? Werden wir uns hassen? Ich sie, wenn sie mein Leben bestimmt? Und sie mich, wenn sie von mir abhängig wird?
Wird Oma mir verzeihen können, wenn ich nicht bleibe? Wenn sie ihr Leben aufgeben muss? Wird Oma noch Oma sein, wenn sie unter vielen kranken und alten Menschen lebt?
„…, dass ich und mein Enkelkind ewig gute Freunde sind.“ Wenn ich weggehe, muss Oma ins Heim. Morgen muss ich mich entscheiden.