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Oma Melle
Helmut und Friederike feierten Silberhochzeit. Friederike war gerade mit Tobias beschäftigt und so thronte Helmut alleine am erhöhten Tisch des Jubelpaares. Zufrieden schaute er über die zahlreich erschienenen Familienmitglieder. Onkels, Tanten, Nichten, Neffen und vor allem ihre eigenen neun Kinder. Regina, ihr kleiner Blondschopf, war mit zehn Jahren die Jüngste. Sie war wie ein Wirbelwind durch den Saal getobt und spielte jetzt mit einigen Kusinen Verstecken in dem großen Park des Kurhauses. Hier fand die Feier statt, weil in ihrer Wohnung kaum ausreichend Raum für die fünfzig Menschen gewesen wäre. Dennis, der vierzehnjährige Zwilling, sclich sich verstohlen aus dem Saal. Er heckte mit seinem Bruder Elvis sicher wieder einen haarsträubenden Unfug aus. Aber Helmut ließ ihn laufen. Er war seit fünfundzwanzig Jahren ein ruhiger, freundlicher Mensch. Ein richtiger Bär, meinten viele Leute. Fast zwei Meter groß, mit kurzen, inzwischen ergrauenden Haaren, einem kantigen Gesicht und muskelbepackt hätte er schon Angst hervorrufen können, aber da er immer lächelte und nie laut wurde, liebten ihn seine Kinder. Aber sie gehorchten ihm auch aufs Wort, denn was er sagte, das meinte er auch. Helmut hatte am Hochofen gearbeitet, dort hatte er sich nicht nur Muskeln zugelegt, sondern auch eine aufmerksame Gelassenheit, die ihm half, familiäre Katastrophen frühzeitig zu erkennen und soweit möglich zu verhindern. Als das Stahlwerk geschlossen wurde, fand Helmut eine Schreibtischtätigkeit in einer Kleinstadt im Sauerland. Hier hatten sie sich ein Haus gebaut mit einem großen Garten, einem Swimmingpool und einem eigenen Spielplatz. Damals war ihr viertes Kind gerade unterwegs, aber sie hatten viele Kinderzimmer eingeplant und machten sich noch keine Gedanken über den Abschluss ihrer Kinderserie.
Franziska, die Älteste, kam mit ihren Zwillingen im Buggy zu Helmut. „Ist Mama bei Tobias?“
„Ja, aber sie wird sicher bald kommen. Tobi schläft schnell ein und dann wird das Kindermädchen auf ihn achten.“
Helmut hielt Franziska für eine Schönheit, denn sie sah ihrer Mutter sehr ähnlich. Auch ihr Ehemann vergötterte sie und hatte so bei Helmut gleich punkten können.
Herbert, der zweiundzwanzigjährige Stammhalter, kam jetzt auch und verkündete, dass es in zehn Minuten Kaffee und Kuchen geben werde. Helmut betrachtete wohlwollend seinen Sohn, der ihm geradezu aus dem Gesicht geschnitten war. Weil er als Kraftfahrzeugmechaniker nicht so schwer arbeiten musste wie sein Vater, trainierte er so oft wie möglich im häuslichen Fitnessraum, denn er fand sich immer noch zu schmal gegenüber seinem großen Vorbild.
Als jetzt Sophia und Melanie an den Tisch kamen, platzte Helmut heraus: „Stammhalter ist ein blöder Ausdruck. Wieso können Mädchen nicht die Stammeslinie fortführen?“
„Aber das können sie doch“, entgegnete Sophia, die ungeachtet ihrer blonden Haarfülle hochbegabt war. Sie hatte frühzeitig ihr Abitur machen können und studierte jetzt mit achtzehn Jahren Jura im dritten Semester. „Frauen können bei einer Heirat ihren Geburtsnamen beibehalten und so den Stamm weiterführen.“
„Ein Glück“, seufzte Helmut und Melanie kicherte. Natürlich war ihnen klar, dass dieser Ausruf ironisch gemeint war. Helmut schaute auf seine beiden Töchter und dachte wieder einmal, dass Friederike und er bei der Namenssuche hier tatsächlich voll getroffen hatten. Neben der weisen Sophia die schwarzhaarige Melanie, die mit ihren zwanzig Jahren gerade die Lehre abgeschlossen hatte und jetzt als Buchhalterin ihrem Traumjob nachging. Schon als Neugeborenes hatte sie einen dunklen Haarflaum gehabt und seit Jahren färbte sie ihre kastanienbraunen Haare tiefschwarz, um ihrem Namen gerecht zu werden.
Die Kellnerinnen und Kellner brachten Kuchenplatten und Kaffeekannen. Auch Friederike kam jetzt und nahm neben ihrem Mann Platz. Der klopfte an seine Kaffeetasse und reichte das Wort an Heinrich. Sein sechzehnjähriger Filius trug einen schwarzen Anzug, schaute aber recht verschmitzt auf die Gästeschar. Seinen künftigen Beruf kannte er seit seiner Konfirmation. Er würde sein Abitur machen und Pfarrer werden. Den beiden Eltern war kein Pfarrer in der Familiengeschichte bekannt, aber Heinrich konnte so einfühlsam zuhören und Rat geben, dass er ein wichtiges Glied der Familie geworden war. Jetzt sprach Heinrich ein freies Tischgebet, in dem er für alle Gaben Gottes dankte - die freudigen und auch die bitteren.
Kurz vor Abschluss des Kaffeetrinkens, die Gespräche und Gelächter fluteten bereits durch den Saal, wandte Friederike sich an Helmut: „Ich werde mal nach Tobias schauen. Ich glaube, er hat Sehnsucht nach mir.“
„Ich liebe dich“, antwortete Helmut nur. Er hatte oft genug erlebt, dass Friederike auch aus weiter Entfernung ahnte, dass Tobias sie herbeiwünschte.
Nach dem Kaffeetrinken wurden zwei Mannschaften für ein Kricketturnier gebildet, wobei Dennis und Elvis ausführlich mit Händen und Füßen die Familienregeln erläuterten. Sie konnten das so gut, dass anschließend niemand mehr Bescheid wusste. Aber da sie auch Schiedsrichter waren, spielte das keine große Rolle. Tobias saß in seinem Rollstuhl am Spielfeldrand und fuchtelte mit seinen Ärmchen, wenn der Ball durch die Luft flog.
Eine entfernte, ältere Großtante schaute mitleidig auf Tobias und meinte dann zu Helmut: „Naja, dann habt ihr ja aufgehört, noch mehr Kinder zu bekommen. Ist ja auch sicherer.“
Helmut lachte, obwohl er auch leichten Ärger verspürte: „Zwei Jahre nach Tobias kam Regina, unsere Jüngste. Und die Behinderung von Tobias hätte uns auch nicht abgehalten, weitere Kinder zu bekommen. Aber als uns klar wurde, dass Tobias immer Kind bleiben würde, haben wir daran gedacht, was wir uns bei der Hochzeit versprochen haben.“
„Ins Heim wollt ihr ihn anscheinend nicht geben. Aber es ist doch eine Belastung vor allem für Friederike - immer ein Kind um sich zu haben.“
„Genau das haben wir uns vor fünfundzwanzig Jahren vorgenommen: Immer ein Kind um uns zu haben. Ein eigenes, ein Enkelkind oder Pflegekinder, das war uns weniger wichtig. Aber wir wollten immer Kinder in unserer Familie haben. Jetzt muss ich mich um das Abendessen kümmern.“ Mit diesen Worten verließ Helmut die Großtante und grummelte auf dem Weg ein wenig über die Engstirnigkeit mancher Menschen vor sich hin.
Es war ein wunderschöner Herbsttag und die Sonne schien kräftig vom Himmel. Einige Jugendliche sonnten sich noch am Teich, aber die meisten Gäste suchten die schattigen Räume des Kurhauses auf. Friederike hatte Tobias unter eine Baumgruppe geschoben und saß dort neben ihm auf einer Bank. Tobias unterhielt sich mit Händen und Füßen und einigen kurzen Lauten mit ihr, als eine alte Dame neben ihnen Platz nahm. Sie hatte schütteres graues Haar, einen gekrümmten Rücken und unglaublich viele Falten im Gesicht. Sie erinnerte Friederike an eine andere alte Frau, damals vor fünfundzwanzig Jahren. „Hallo, ich weiß jetzt leider gar nicht deinen Namen, aber du erinnerst mich an jemanden. Doch das ist lange her.“
„Vielleicht bin ich ja die Tochter. Nenn mich Oma Melle, das genügt“, lächelte ihre Nachbarin und schaute auf den Teich.
Friederike sprach wieder eine Zeitlang mit Tobias, wofür mehr Berührungen als Worte erforderlich waren. Dann schlief er ein und sie wandte sich wieder ihrer Nachbarin zu, die sie aufmerksam betrachtete.
„Vor fünfundzwanzig Jahren hast du einen Wunsch geäußert.“
Friederike erstarrte und schaute ungläubig auf die alte Frau. War es etwa doch die gleiche Person? Wie war das möglich? „Ich habe mir gewünscht, immer ein Kind um mich zu haben, das ich bemuttern kann. Eigene Kinder und Enkel, aber auch Pflegekinder oder Ferienkinder.“
Sie schaute liebevoll, aber auch ein wenig erschöpft auf ihren schlafenden Sohn. „Das wusste ich damals nicht, was aus meinem Wunsch werden würde.“
„Nun, jetzt kann ich deinen Wunsch wieder zurücknehmen.“
Friederike senkte ihren Kopf, so dass ihr die langen dunkelblonden Haare ins Gesicht fielen. Tobias liebte ihre Haare, glatt und lang. Also hatte sie es aufgegeben, sich eine moderne Frisur zuzulegen. Tobias schwärmte eigenartigerweise auch für Kleider. Er selbst wollte in der Regel ein Kleidchen tragen und Mama in Hosen mochte er überhaupt gar nicht. Also trug Friederike Kleider und so langsam weinte sie ihren Jeans und Hosenröcken nicht mehr nach. Auch mit Unterstützung der Kindermädchen und ihrer eigenen Kinder war sie rund um die Uhr für Tobias da und wurde von ihm ständig gebraucht. Helmut arbeitete seit Jahren halbtags, um sie im Haushalt und bei Tobias zu unterstützen. Finanziell ging es ihnen gut, ihre anderen Kinder bereiteten ihr viel Freude und nur selten Kummer und fast nie Ärger.
Langsam hob sie den Kopf und schaute Oma Melle an. Die blickte mit ihren blauen Augen gütig zurück.
„Und was würde bei einem anderen Wunsch geschehen? Ich habe damals nicht vorhergesehen, was aus meinem Wunsch werden würde. Aber er hat sich erfüllt. Ganz anders, denn es ist viel mehr geworden, als ich erwartet hatte. Aber ich bin auch glücklicher, als ich es mir damals erhofft hatte. Nein, danke, ich möchte meinen Wunsch behalten.“